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HANNES BAHRMANN

NICARAGUA

Die privatisierte Revolution

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
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1. Auflage als E-Book, September 2017
entspricht der 1. Druckauflage vom September 2017
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Cover: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag
Covermotiv: Amtseinführung von Präsident Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Mundo als Vizepräsidentin am 10. Januar 2017 in Managua
Karte: Matthias Balg, Marktredwitz

eISBN 978-3-86284-405-0

Inhalt

Ein besonderer Tag

Managua, 10. Januar 2017 – »Wahlen dienen der revolutionären Macht« – Eine machtvolle »Hippiebraut« – Viele Weggefährten fehlen – Neue »Verbündete« – Milliarden vom revolutionären Sponsor – Ortega steht ohne externe Unterstützer da

Die Somozas

»Der Marschall« der Latrinen – Ein Bauerngeneral stört – Der Zivilist Somoza wird General und Mörder – Geld für die Freunde, Blei für die Feinde – Somozas letzter Mambo – Der Widerstand organisiert sich – Die Familie steht an erster Stelle – Protest quer durch die Gesellschaft – Die Endphase der Diktatur

Die Sandinisten

Neun comandantes übernehmen das Kommando – Ein Held zu viel – Die Revolution verschärft das Tempo – Der politische Pluralismus endet – Die Radikalisierung fordert Opfer – Schnelle Militarisierung, rasche Hilfe – Waffen für El Salvador

Der Krieg

Die Contras waren vor allem Bauern – Die Phantom-MiGs – Kubas Held organisiert die sandinistischen Truppen – Die Wirtschaft ächzt unter der Kriegslast – Ein unglaubliches Dreiecksgeschäft – Ortega rückt unangefochten an die Spitze – Alle Macht dem neuen Präsidenten – Solidarität aus aller Welt – »10 Hinweise zur Solidaritätsarbeit« – Friedensabkommen und Wahlen – »Comandante Hans« und »Charrenbroica«

Machtverlust

Die versöhnende Matriarchin – »La Piñata«, der Kindergeburtstag – Die neue Regierung – Ein verheertes Land – Der Tod des Jean Paul Genie – Waffen ohne Ende – Identitätskrise der FSLN – Die Bilanz von Doña Violeta – Ein Bürgermeister bringt sich in Stellung – Die Rückkehr der »Miami Boys« – Der große Raubzug – Daniel Ortega in höchster Not – Die Überraschung des neuen Präsidenten – Konkurrenz von links – Schmutzkampagne gegen Herty Lewites

Der Ortegismus

Strategische Planung der wiederkehrenden Siege – Kontrolle der Medien – Rosario Murillos Strategie – Schmutzige Kommunalwahlen – Ortega und das Unternehmertum – Das ALBA-Imperium – Wer bezahlt die ALBA-Schulden?

Der Kanal

Kampf der Reiseveranstalter – »Präsident William Walker« – Ein alter Traum wird wiederbelebt – Ein chinesischer Märchenerzähler? – Ökosystem in Geiselhaft – Gigantische Enteignungswelle – Geheimes Ziel: Tourismus – Die überraschende Ausnahme – An Nicaraguas Grenzen endet die Gewalt der maras – Erfolg eines Sicherheitskonzepts

Epilog

Anhang

Chronik – Quellen und Literatur – Bildnachweis – Übersichtskarte – Über den Autor

»Die Revolution ist vorbei, ich bin die Revolution.«
Daniel Ortega*

* So handelt er zwar, hat es aber nicht gesagt.
Das Zitat wird Napoleon I. Bonaparte (1769 – 1821) zugeschrieben.

Ein besonderer Tag

Managua, 10. Januar 2017 – »Wahlen dienen der revolutionären Macht« – Eine machtvolle »Hippiebraut« – Viele Weggefährten fehlen – Neue »Verbündete« – Milliarden vom revolutionären Sponsor – Ortega steht ohne externe Unterstützer da

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Managua, 10. Januar 2017

Auf dem Platz der Revolution sind die Vorbereitungen zur feierlichen Amtsübernahme des neuen Präsidenten Nicaraguas abgeschlossen. Im Zentrum der Hauptstadt wird Daniel Ortega vereidigt. Zum dritten Mal. Hintereinander. Das wollte die Verfassung von 1995 eigentlich ausschließen. Es ist anders gekommen. Mit Hinterzimmerabkommen, willfährigen Richtern und am Ende auch durch Betrug.

Hier, auf diesem Platz, versammelten sich am 20. Juli 1979, einen Tag nach dem Sieg über die Somoza-Diktatur, die Revolutionäre der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN). Es war nach Kuba die zweite siegreiche Revolution als Ergebnis eines bewaffneten Aufstands in Lateinamerika, und es war die weltweit letzte in den Zeiten des Kalten Krieges. Sie war Ergebnis eines jahrzehntelangen Widerstands gegen die Diktatur. Ihre Anführer waren zumeist ideologisch geformt durch Aufenthalte in Kuba, Nordkorea und den sozialistischen Ländern Osteuropas.

Einer von ihnen war 1979 der damals 34-jährige Daniel Ortega. Er kandidierte in den darauffolgenden drei Jahrzehnten jedes Mal für das Amt des Präsidenten: 1984, 1990, 1996, 2001, 2006, 2011 und 2016. Vier Mal davon erfolgreich. Sollte er jetzt seine dritte Amtszeit in Folge absolvieren, würde er in den Kreis der am längsten amtierenden Staatschefs des Landes aufrücken und mit dem Diktator Anastasio Somoza García sowie dem Caudillo José Santos Zelaya gleichziehen.

Seine Abwahl 1990 und die 16 Jahre in der Opposition empfand Ortega als tiefe persönliche Demütigung. Das sollte sich nie mehr wiederholen. Diesem Ziel ordnete er alles unter: die ohnehin nicht besonders festen Prinzipien der innerparteilichen Demokratie ebenso wie die scheinbar ehernen moralischen Grundsätze der FSLN. Heute beruht das persönliche Fundament der Macht Ortegas auf zweifelhaften Pakten mit den früheren Feinden. Sein Handeln ist geprägt durch opportunistisches Taktieren mit nur einem Ziel: an der Macht zu bleiben.

Im bewaffneten Kampf gegen Somoza konnten sich keine demokratischen Strukturen herausbilden. Melder überbrachten den Kämpfern die Befehle der Führung. Widerspruch: ausgeschlossen. Doch auch nach dem Sieg blieb der Aufbau einer innerparteilichen Demokratie weitgehend aus. Erschwerend wirkte, dass die Sandinistische Befreiungsfront keine einheitliche Organisation war, sondern nach dem Bruch 1975 aus drei Fraktionen bestand, alle mit einer eigenen Führung, eigenem Programm und eigenen Vorstellungen für die Zukunft nach der Befreiung. Bis wenige Monate vor dem Sieg stellte die FSLN so lediglich ein Aktionsbündnis dar, welches das Ziel des Sturzes der Diktatur einte. Für das Nationaldirektorium der FSLN entsandte jede der drei Organisationen drei Mitglieder.

Daniel Ortega vertrat die stärkste Gruppierung, die Terceristas. Deren Frontmann war sein Bruder, Humberto Ortega. Er war in Kuba und Nordkorea militärisch ausgebildet worden, hatte zu allen Fronten über alle Gruppen hinweg die besten Kontakte und konnte seine Forderungen wirksam durchsetzen. Daniel Ortega hingegen war das Gegenteil von ihm: vom Auftreten eher unsicher, fast linkisch, wenig kommunikativ und introvertiert. Für die Terceristas der ideale Mann, um die machtvolle Präsenz seines Bruders wieder auszugleichen, denn von Daniel fühlte sich niemand bedroht oder gar erdrückt.

Weithin unbeachtet baute Ortega seine Macht zunächst als Koordinator der Regierungsjunta nach 1979 und später auch innerhalb der FSLN aus. Der 1982 begonnene und von außen beförderte Bürgerkrieg stellte die alte Führungskultur aus den Tagen des Kampfes gegen Somoza wieder her. Fortan galt erneut die Befehlskette von oben nach unten.

»Wahlen dienen der revolutionären Macht«

1985 leistete Ortega das erste Mal den Amtseid als Präsident. Dabei waren Wahlen im Konzept der Sandinisten eigentlich gar nicht vorgesehen. Sie waren ein notwendiges taktisches Mittel, um international die breite Unterstützung für die FSLN zu sichern. Wenn schon Wahlen, dann am besten nach dem Vorbild der sozialistischen Länder in einer Art Nationaler Front. Humberto Ortega machte kurz vor der Abstimmung noch klar, wie der Wahlausgang auszusehen habe: »Die Wahlen, über die wir sprechen, werden der revolutionären Macht dienen und nicht wie in einer Lotterie darüber entscheiden, wer hier die Macht besitzt.«

Auch Bayardo Arce, Chef der Politischen Kommission der FSLN und einer der neun comandantes, äußerte sich 1984 ebenso freimütig: Die Wahlen seien der FSLN wegen der Kriegslage aufgezwungen worden, normalerweise hätten sie »außerhalb jeglicher Erwägung« gestanden. Nun werde man das Beste daraus machen: »Wir nutzen ein von der Bourgeoisie gefordertes Instrument, um die internationale Bourgeoisie zu entwaffnen und unsere eigenen strategischen Ziele zu verfolgen.« Doch nicht nur den Sandinisten war bei dem Gedanken an die Wahlen unwohl. Auch für Willy Brandt war es »schon ein dolles Ding, wenn man sich Wahlen zumutet und zugleich einen Krieg an zwei Grenzen am Hals hat«.

Die Vorbereitung zu den Wahlen im November 1984 bestand vor allem darin, die Spielräume der antisandinistischen Opposition, die sich mittlerweile in Nicaragua organisiert hatte, so weit wie möglich einzuengen. Dennoch wuchsen bei den comandantes des Nationaldirektoriums heftige Zweifel, ob die Wahlen letztlich stattfinden sollten. Innenminister Tomás Borge, der marxistische Hardliner, lehnte sie rundheraus ab, und als sich ihm auch noch Staatsratspräsident Carlos Nuñez sowie Planungsminister Henry Ruiz anschlossen, wurden die Wahlvorbereitungen erst einmal unterbrochen. Die Mehrheit überzeugte die Zweifler schließlich, dass es notwendig war, wenige Tage vor der vermutlichen Wiederwahl von US-Präsident Ronald Reagan international ein Zeichen zu setzen. Zusätzliche Sicherungsmaßnahmen wie die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, das Quasimonopol der Sandinisten bei den Massenmedien (die oppositionelle Zeitung »La Prensa« erschien zu diesem Zeitpunkt nur noch unregelmäßig und wurde härter als je zuvor zensiert), das Ignorieren der oppositionellen Vorschläge für das Wahlgesetz sowie ein möglichst kurzer »Wahlkampf« sorgten für Ruhe in der Führung. Beruhigend war für sie außerdem die Tatsache, dass die FSLN die Kontrolle sowohl über den Wahlrat als auch über den Nationalrat der politischen Parteien innehatte, der über die Legalität der Parteien entschied. Das Gremium erkannte zwei Monate vor dem Wahltermin dem oppositionellen Bündnis CDN den legalen Status ab. Damit durfte es keinen Wahlkampf führen und keine öffentlichen Versammlungen mehr abhalten. Das Bündnis entschied daraufhin, den Wahlen fernzubleiben.

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Daniel Ortega wird am 10. Januar 1985 in Anwesenheit von Kubas Revolutionsführer Fidel Castro in Managua als Präsident Nicaraguas vereidigt.

Mit 67 Prozent der Stimmen wurde Daniel Ortega am 4. November 1984 zum Präsidenten Nicaraguas gewählt. Er war schon seit dem 15. Lebensjahr politisch aktiv gewesen. Geprägt hatten ihn die Erzählungen des Vaters von seinen Erlebnissen mit dem Nationalhelden General Augusto Cesár Sandino, der gegen die US-Marines gekämpft hatte. Auch die Mutter berichtete ihren Kindern von der Zeit, da der Vater während der Diktatur inhaftiert war. Daniel Ortega schloss sich 1963 der FSLN an, wurde ein enger Vertrauter des Gründers der Bewegung Carlos Fonseca Amador und schon mit 20 Jahren im Rang eines comandante in die oberste Führung aufgenommen. 1967 nach einem Banküberfall inhaftiert, blieb er sieben Jahre im Gefängnis, ehe er durch eine Kommandoaktion befreit und nach Kuba ausgeflogen wurde.

Die Jahre im Gefängnis prägten ihn stärker als allgemein angenommen. BBC-Moderator Sir David Frost, der Ortega für eines seiner berühmten Fernsehinterviews in Managua traf, beschrieb die Veränderung so: »Die Haft gab ihm die Zeit zur persönlichen Bildung durch fortdauerndes Lesen, doch sie machte ihn auch misstrauisch, kaltblütig, berechnend und pragmatisch. Sie veränderte ihn zu einem emsigen Leser, aber auch zu einem psychisch Kranken.«

In Kuba traf Ortega auf Leticia Herrera, die Nummer drei der Kommandoaktion zu seiner Befreiung. Sie war eine überzeugte Kommunistin und hatte in der Sowjetunion studiert. Ihr Ehemann René Tejada war als Held der Revolution 1975 im Kampf gegen Somozas Nationalgarde gefallen. Sie wurde Ortegas compañera, ging mit ihm zurück nach Nicaragua in den Untergrund und gebar ihm im sicheren Nachbarland Costa Rica 1978 seinen ersten Sohn. Sie gaben ihm den Namen Camilo nach dem im selben Jahr gefallenen jüngsten Bruder Daniels. Ortega selbst folgte seiner Partnerin nach Costa Rica. Das frischgebackene Elternpaar gab ein perfektes Bild einer revolutionären Beziehung ab. Doch der Schein trog offenbar. Ortega hat nie über diese Beziehung öffentlich gesprochen.

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Comandante Leticia Herrera, Mutter von Daniel Ortegas erstem Sohn Camilo, der 1978 in Costa Rica geboren wurde (Aufnahme 1984 bei einer Veranstaltung in Managua).

Eine machtvolle »Hippiebraut«

Während seines Besuchs bei Mutter und Kind traf er in Costa Rica eine lose Bekannte wieder: Rosario Murillo. Sie hatte ihm Gedichte ins Gefängnis geschickt, er hatte ihr mit Gedichten geantwortet, darunter das Poem »Die Miniröcke in Managua sah ich nicht«. Mit ihr hatte er plötzlich eine zweite Partnerin, doch dem Vorschlag einer Ménage-à-trois verweigerte sich Leticia. Ortega zog daraufhin ins Haus von Rosario Murillo. Dort lebte sie mit ihren drei Kindern.

Diese Frau passte damals wie heute nicht in das Bild der Sandinisten, und der Unterschied zur comandante Leticia hätte kaum krasser ausfallen können: Rosario war eine klassische »Hippiebraut«, behängt mit Ketten und Ringen, in bunten, wallenden Kleidern, die sich zur Esoterik der New-Age-Religion bekannte und astrologischen Voraussagen wohl geradezu verfallen war.

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Rosario Murillo, Ortegas Ehefrau und seit 2017 seine Vizepräsidentin, ist Anhängerin der esoterischen New-Age-Bewegung und trägt gern auffällig viele Ketten und Ringe (2016).

Rosario Murillo entstammt einer wohlhabenden Familie. Ihre Mutter Zoilamérica war Tochter von Zoilamérica Sandino Tiffer, Schwester des legendären Generals Augusto Cesár Sandino. Rosario besuchte die Greenway Convent Collegiate School in Tiverton, Großbritannien, und studierte Kunst am Institut Anglo-Suisse Le Manoir in La Neuveville in der Schweiz. Ende der 1960er Jahre lehrte sie Sprachen am Institut für Wirtschaftswissenschaften in Managua. Dann schloss sie sich der FSLN an und beherbergte in ihrem Haus im Barrio San José Oriental zeitweilig untergetauchte Kämpfer. Sie war Privatsekretärin des Herausgebers der Tageszeitung »La Prensa«, Pedro Joaquín Chamorro, wurde verhaftet, ging danach ins Ausland und lebte die letzten Jahre vor dem Sieg der Revolution in Costa Rica – wo sie Daniel Ortega traf.

Auf ihr Konto gehen seither die größten und teilweise dramatischen Konflikte innerhalb der FSLN und Ortegas Familie. Humberto Ortega, der starke Mann der Terceristas und spätere Chef der Sandinistischen Volksarmee, ist ihr in tiefer Abneigung verbunden, man sieht die Brüder nicht mehr privat; Ernesto Cardenal, der Priester, Dichter und Exkulturminister, fand sehr unchristliche Worte über Rosario Murillo, wie viele andere führende Sandinisten. Sie führte sich im revolutionären Kulturleben auf wie die Oberzensorin, verbot Theateraufführungen ebenso wie Festivals und brachte auf diese Weise viele gegen sich auf. »Tatsächlich konnte die FSLN-Führung nichts gegen Rosario Murillo unternehmen, denn nicht einmal Daniel Ortega, ihr Ehemann, konnte etwas tun, und die anderen acht konnten nichts tun, um die Einheit untereinander nicht daran scheitern zu lassen«, erinnerte sich Ernesto Cardenal.

Aber auch die einfachen Mitglieder mochten sie nicht, und wenn sie sich in den ersten Jahren der Revolution einer Abstimmung durch die Basis stellte, fiel sie regelmäßig durch. Auch der Verlust der Macht bei den Wahlen 1990 geht zu einem Teil auf ihr Konto. Inständig hatten sie die in- und ausländischen Wahlkampfstrategen gebeten, im Hintergrund zu bleiben. Umsonst.

Sie hatte stets »inspirierende Ideen«, etwa, als sie die Farben der FSLN Schwarz und Rot in Pastelltöne ändern wollte, weil sie dann spiritueller wirken würden. Auf sie ging auch die lächerliche Kostümierung des Präsidenten im Wahlkampf 1990 in einer Art Cowboy-Uniform, hoch zu Ross, zurück. »Ein politischer Transvestit, süchtig nach Macht«, so das Urteil von Ortegas einstigem Vizepräsidenten, dem Schriftsteller Sergio Ramírez.

Was aber sah und sieht der Präsident in Rosario Murillo?

Es könnte sein, dass ein dunkles Geheimnis die beiden aneinanderschmiedet. 1998 machte Murillos älteste Tochter Zoilamérica Narváez Murillo (Jahrgang 1967) öffentlich, dass sie von Daniel Ortega bereits seit der gemeinsamen Zeit in Costa Rica vor der Revolution sexuell missbraucht worden war. Zunächst glaubten viele an psychische Probleme, Einbildung und Erfindung und daran, dass sie ihrem Stiefvater schaden wollte. Andere glaubten ihr dagegen. Auf 48 Seiten schilderte sie sehr genau und in sich schlüssig die erhobenen Vorwürfe. Da dies ein wichtiges Element zur Erklärung der heutigen Zustände ist, befragte ich in Managua viele Insider – keiner stellte den Vorgang auch nur ansatzweise infrage. Zu viele Indizien sprachen dafür.

Zoilamérica gab in ihrer Klage explizit niemandem außer ihrem Peiniger die Schuld, doch man kann ihrer Schrift entnehmen, dass der Missbrauch mit Einverständnis ihrer Mutter erfolgte. Rosario Murillo war die stille Komplizin des Mannes, mit dem sie gerade erst zusammengekommen war, und sie musste sich gegen eine Konkurrentin, die comandante und Mutter seines ersten Sohnes Leticia Herrera, behaupten. Zoilamérica forderte damals ihren Schutz. Doch dies soll die Mutter zurückgewiesen haben. Als sie bat, nicht mehr allein schlafen zu müssen, wies sie ihre Mutter Rosario Murillo mit den Worten zurecht, sie müsse sich eben daran gewöhnen und erwachsen werden. »Murillo hat Ortega in der Hand«, ist die einst führende Sandinistin und heutige Frauenrechtlerin Sofía Montenegro überzeugt: »Sagt sie gegen ihn aus, ist er verloren.«

Als Rosario Murillo 2016 ihre Kandidatur als Vizepräsidentin bekanntgab, brach Zoilamérica im costa-ricanischen Exil ihr Schweigen: »Durch meine Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs wurde meine Mutter zur Komplizin Ortegas, denn sie nahm ihn in Schutz und verleumdete mich als Lügnerin. Diese Komplizenschaft hat sich in eine politische Allianz verwandelt. Sie beruht auf Missbrauch und Korruption. Beide sehen sich genötigt, die Wahrheit zu vertuschen. Das hat ihnen geholfen, eine Ideologie zu entwickeln, die jeglicher Werte entbehrt. Sie glauben, dass nur sie Nicaragua führen können.« Und weiter: »Macht ist ein Gegengift gegen die familiäre Tragödie. Sie lässt auf destruktive Weise vergessen, was geschehen ist, das funktioniert in vielen Familien so. Bevor ich Ortega angezeigt habe, hat meine Mutter viele politische Texte geschrieben. Nachdem ich den Missbrauch öffentlich gemacht hatte, begann sie plötzlich, über die magische Kraft des Mondes zu schreiben. Jetzt befindet sie sich in einer neuen Phase: Sie braucht den Aberglauben, um ihre Macht zu sichern.«

Sauber aufgereiht sind die Stuhlreihen für die Zuschauer, vor allem Mitglieder der Sandinistischen Jugend und Mitarbeiter staatlicher Behörden. Die Kameras für die Übertragung der Amtseinführung überwacht Maurice Ortega Murillo, einer der Söhne Ortegas, der live erleben wird, wie seine Mutter als erste Nicaraguanerin zur Vizepräsidentin und damit Stellvertreterin ihres Gatten vereidigt wird. Sie hat sich für den Festtag für ein besonderes Kleid entschieden. Das gleiche Modell trug kürzlich die englische Prinzessin Kate. Normalerweise achtet Murillo peinlich genau darauf, dass Dopplungen vermieden werden. Jemand rechnete schon einmal aus, dass sie auf 463 offiziellen Fotos nur ein Kleid doppelt trug.

Jetzt ist sie Vizepräsidentin, und niemand vermag zu sagen, ob das schon die Endstation ihrer politischen Ambitionen ist. Auch die Kinder des Präsidentenpaares sind überaus einflussreich: Maurice orchestriert über die Werbeagentur Difuso die offizielle Propaganda der Regierung und ist mit der Tochter des Polizeichefs von Managua verheiratet. Rafael Ortega Murillo leitet mehrere Familienunternehmen, darunter zusammen mit seiner Frau Yarida Leets die Erdölfirma DNP, die Importe aus Venezuela zu verbilligten Preisen verwaltet.

Camila Ortega Murillo leitet den Fernsehsender Canal 13, wo auch ihre Schwester Luciana Ortega Murillo neben ihrer Tätigkeit als Beraterin der Präsidialkanzlei arbeitet. Ihr Bruder Juan Carlos Ortega Murillo ist bei Canal 8, den die Familie Ortega 2009 für geschätzte zehn Millionen Dollar erworben hat. Daniel Edmundo Ortega Murillo ist Direktor von Canal 4. Der heimliche Kronprinz des Präsidentenpaares ist Laureano Facundo Ortega Murillo, einer der wenigen ausgebildeten Tenöre des Landes und geschäftstüchtiger Partner der Unternehmerfreunde seines Vaters. Offiziell agiert er als Berater der Investitionsförderung ProNicaragua und verhandelte mit dem Mandat seines Vaters mit dem chinesischen Investor Wang Jing den Bau eines interozeanischen Kanals parallel zum Panamakanal.

Alle Welt war bestürzt, als US-Präsident Donald Trump im Juni 2017 den Beitritt zum Klimaschutzabkommen, das 195 Länder 2015 in Paris unterzeichneten, wieder rückgängig machte. Ein einziges Land hatte sich allerdings geweigert, dem Abkommen überhaupt beizutreten: Nicaragua. (Die syrische Delegation konnte wegen der gegen die Regierung verhängten Sanktionen nicht anreisen und gilt deshalb als zweiter Verweigerer.)

Der Verhandlungsführer Nicaraguas, Paul Oquist, ein früherer hoher UNO-Beamter, befand die Ziele des Abkommens für nicht weitreichend genug. Nun haben gewiss viele andere Staaten den Kompromiss von Paris nur als einen ersten Schritt betrachtet, der aber gegangen werden musste. Betrachtet man aber die ungeheuerlichen Dimensionen, die das nicaraguanische Kanalprojekt für die Umwelt bedeutet, wird die exklusive Position des Landes befremdlich:

Fast 100 000 Hektar Mangrovenwälder, Fließgewässer und Wälder wären betroffen. Am Ende wäre der Nicaraguasee – das größte Süßwasserreservoir Mittelamerikas – eine Schlammwüste und 400 000 Hektar Regenwald und Feuchtgebiete vernichtet.

Wusste der 1943 im US-Bundesstaat geborene Paul Oquist vielleicht nichts davon? Ganz im Gegenteil: Er ist Ortegas engster Mitarbeiter, Leiter des Präsidialamts mit Ministerrang, Privatsekretär für Innenpolitik des Präsidenten und: Er ist Geschäftsführer der nicaraguanischen Kanalgesellschaft!

Die Reihen füllen sich mit den in weißen T-Shirts und der Aufschrift »2017: Zeit des Sieges« gekleideten Zuschauern. Die ersten Ehrengäste treffen ein. Die Zahl der Staatsoberhäupter ist mit fünf sehr übersichtlich: Es sind der Präsident von Venezuela Nicolás Maduro, Hauptsponsor Nicaraguas in den zurückliegenden Jahren, sein Verbündeter und Amtskollege Evo Morales aus Bolivien, die Präsidentin von Taiwan, Tsai Ing-Wen, und die Präsidenten der Nachbarländer Honduras, Juan Orlando Hernández, und El Salvador, Salvador Sánchez Cerén. El Salvador ist damit gleich zwei Mal vertreten, denn auch der ehemalige Präsident Mauricio Funes ist anwesend. Er suchte und erhielt in Nicaragua politisches Asyl, nachdem daheim gegen ihn wegen Korruption ermittelt wurde. Dahinter findet man unter den Auslandsgästen die Nummer drei Nordkoreas, Russlands Innenminister sowie den Vizepräsidenten Kubas und möglichen Nachfolger Raúl Castros, Miguel Díaz Canel.

Viele Weggefährten fehlen

Von den neun Comandantes de la Revolución der FSLN, die die Führung des Landes 1979 übernahmen, ist neben dem Präsidenten nur noch einer an seiner Seite: Bayardo Arce, der Ortegas Wirtschaftsberater ist. Er war maßgeblich verantwortlich für die Übertragung gewaltiger Vermögenswerte an die FSLN, nachdem sie die Wahlen 1990 verloren hatte. Dazu zählen Immobilien (wie das Anwesen Ortegas), bedeutende Finanzmittel, Unternehmen und Unternehmensanteile. Er ist heute der »Reis-Kaiser« des Landes und Haupteigner von Agricorp, dem Unternehmen, das fast den gesamten Import und die Verteilung der Nahrungsmittel kontrolliert. Zudem ist er das Bindeglied zwischen dem Präsidenten und den Unternehmern des Landes.

Die Mehrheit der comandantes hat sich von Ortega abgewandt. Luis Carrión, Vizeinnenminister in der Revolutionsregierung, hat sich der Opposition angeschlossen, verlor alle Ämter und wurde 2015 auch noch um seinen Posten bei der Universidad Americana gebracht. Henry Ruiz, der legendäre »Coman-dante Modesto«, Exminister für Planung und internationale Zusammenarbeit, bezeichnet Ortegas Regierung als Diktatur, Bruder Humberto Ortega, Oberbefehlshaber der Sandinistischen Armee, blieb auch nach der Wahlniederlage der FSLN im Amt, organisierte die Umwandlung der Streitkräfte in eine überparteiliche Instanz, nahm seinen Abschied und die Staatsbürgerschaft von Costa Rica an, wo er auch lebt. Victor Tirado vergleicht die Präsidentschaft Ortegas mit der von Somoza und schloss sich der breiten Bewegung gegen die Wiederwahl und den Wahlbetrug an. Jaime Wheelock, einst Minister für Landwirtschaft und Agrarreform, studierte nach der Wahlniederlage zunächst an der US-Eliteuniversität Harvard und wurde dann ein renommierter Autor zeitgeschichtlicher Betrachtungen und regionaler Kochrezepte. Aus der aktuellen Politik hält er sich heraus. Tomás Borges, der Innenminister war, und Carlos Nuñez, der zuletzt als Parlamentspräsident amtierte, sind gestorben.

Prominente Sandinisten, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten von Ortega getrennt haben, nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es um die erneute Wahl des Präsidenten geht: »Am heutigen Dienstag wird eine neue dynastische Familiendiktatur mit Ortega im Präsidentenamt inthronisiert«, empört sich der frühere Vizeaußenminister und UNO-Botschafter Victor Tinoco. Und Hugo Torres, sandinistischer Exgeneral und in den letzten Jahren Abgeordneter der Bewegung für die sandinistische Erneuerung (MRS), ergänzt: »Heute wird eine Familiendiktatur und Dynastie im besten Stil der Somoza-Familie installiert. Es ist ein tragischer Tag für Nicaragua.«

Neue »Verbündete«

Noch einer äußert sich kritisch: Expräsident Arnoldo Alemán, der von 1997 bis 2002 amtierte. Er nennt die zweifache Wiederwahl »ungebührlich«. Eigentlich hätte auch er einen Ehrenplatz bei der Veranstaltung verdient. Noch 2007 war das so, obwohl Alemán zu dieser Zeit eigentlich hinter Gittern sein sollte, denn er wurde wegen Korruption zu 20 Jahren Haft verurteilt. Gutgelaunt verfolgte der Politiker damals Ortegas Machtübernahme.

Nach dem Wahlverlust der Sandinisten 1990 entwickelte er sich zum Anführer der antisandinistischen Kräfte. Als Bürgermeister von Managua wollte er sogar eine eigene Polizei ins Leben rufen. Der Plan endete schnell, als Ortega ihm ankündigte, jeden dieser neuen Ordnungshüter von zehn sandinistischen Milizionären begleiten zu lassen. Alemáns Partei PLC war in den 1980er Jahren zum Sammelbecken ehemaliger Anhänger Somozas geworden. Er wurde vor allem von Exilgruppen aus Nicaragua und Kuba in Miami finanziell unterstützt wie auch aus Mitteln offizieller US-Regierungsorgane (USAID). Mit unterschlagenen Geldern aus der Stadtkasse baute er sich eine solide politische Basis auf, die dafür ausreichte, dass er 1996 zum neuen Präsidenten gewählt wurde.

Nach zunächst zögerlichen Annäherungen von Präsident und größter Oppositionskraft – der FSLN – beschlossen Alemán und Ortega 1999 einen Pakt zum Ausbau ihrer jeweiligen Macht. Am 20. Januar 2000 verabschiedeten 70 Abgeordnete von PLC und FSLN eine Reform der politischen Verfassung des Landes. Im Parlament gab es nur zwölf Gegenstimmen. Das ging zunächst zulasten kleinerer Parteien, denn nun mussten sie als Voraussetzung für die Teilnahme an Wahlen mindestens drei Prozent der im Wahlregister eingetragenen Nicaraguaner als offizielle Unterstützer gewinnen – für Wahlbündnisse wurde die Hürde noch höher gelegt. Die Kandidatur von parteiunabhängigen Anwärtern wurde ganz abgeschafft. Der Rechnungshof als mächtige unabhängige Kontrollinstanz gegen die schon ausufernde Korruption wurde von beiden Politikern an die Kette gelegt. Die Leiterin des Menschenrechtsbüros CENIDH, Vilma Núñez, wertete den Pakt als gegenseitig zugesicherte Straffreiheit. Höhepunkt des politischen Kuhhandels war die Zusicherung des fortdauernden Abgeordnetenmandats und damit die scheinbar unantastbare Immunität für Arnoldo Alemán und Daniel Ortega. Der eine hatte den Rechnungshof wegen seiner zwielichtigen Geschäfte am Hacken, dem anderen drohte ein Strafprozess wegen der Missbrauchsvorwürfe seiner Stieftochter.

Die wundersame Vermehrung des privaten Reichtums von Alemán war atemberaubend: 1990 besaß er eine kleine Kaffeeplantage, bei Amtsantritt als Präsident 1997 gab er bereits eine Million US-Dollar als Privatvermögen an, und nur fünf Jahre später wurde es auf 240 bis 250 Millionen US-Dollar geschätzt! Doch nachdem weder er noch Ortega die Wahlen von 2002 gewannen, schlug mit der Präsidentschaft des Konservativen Enrique Bolaños Geyer für einen kurzen Moment die Stunde der Gerechtigkeit: Das Gericht konnte Alemán nachweisen, dass er und 13 weitere Familienangehörige insgesamt 97 Millionen Dollar aus öffentlichen Fonds für private Zwecke abgezweigt hatten. Der korrupte Expräsident wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, die er aber nie antrat. Zuerst verbrachte er kurze Zeit im teuersten Krankenhaus von Managua, dann entließ man ihn in einen Hausarrest. Danach wurde der Hausarrest auf Managua und später aufs ganze Land ausgeweitet. Nachdem Daniel Ortega 2007 die Wahl gewonnen hatte, wurde er schließlich ganz freigesprochen.

Der offizielle Festakt beginnt mit der Tanzkomödie »El Güegüense«, Nicaraguas ältestem Theaterstück aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, in dem die Verwalter der Macht des spanischen Königs in Form eines Possenspiels aufs Korn genommen werden. Dargestellt werden vor allem Gauner-, Schwindler- oder Heuchlerfiguren.

Der Parlamentspräsident nimmt dem erneuten Präsidenten den Amtseid ab. Er ist Gewerkschaftsführer und sorgt an dieser Front für Ruhe. In den zurückliegenden Jahren soll er mit Geschäften zum Millionär aufgestiegen sein. Er legt Ortega zu den Klängen der spanischsprachigen Version der John-Lennon-Hymne »Give Peace a Chance« die blau-weiß-blaue Amtsschärpe um. Danach bittet der Präsident als Erstes Kardinal Miguel Obando y Bravo um seinen Segen.

Dieser Ehrengast ist eine Zentralfigur im austarierten Machtgefüge des Präsidenten. Er stellte sich sowohl gegen Somoza als auch später gegen die regierende FSLN, die sich dafür mit dem jüngeren Klerus verbündete, der der Lehre der Theologie der Befreiung zugetan war. Heute stellt sich das Präsidentenpaar als gläubige Christen dar. Obando y Bravo traute sie, nachdem sie 25 Jahre ohne den Segen der katholischen Kirche zusammengelebt hatten. Dafür revanchierte sich das Präsidentenpaar mit dem härtesten Abtreibungsverbot in ganz Lateinamerika. Der marxistisch geprägte comandante erscheint seither als gläubiger Christ und lässt sich auf Plakaten mit der rosafarbenen Botschaft abbilden »Den Willen des Volkes zu erfüllen, heißt Gott zu dienen«.

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Daniel Ortega erhält vom Chef des Zentralen Wahlrates, Roberto Rivas Reyes, am 9. Januar 2012 zum zweiten Mal die Ernennungsurkunde zum Präsidenten.

Dann hebt Ortega zu einer Rede an, die weit über eine Stunde dauert und die vorwiegend jugendlichen Zuschauer deutlich überfordert. Viele nicken ein. Ortega hebt hervor, dass die Sandinisten 1990 nach ihrer Wahlschlappe die Macht abgegeben hätten, ohne sich ihrer Machtinstrumente zu bedienen. Auch die bis 2006 amtierenden bürgerlichen Präsidenten hätte man beseitigen können – »wir wollten es aber nicht«. Erst mit den nachfolgenden Wahlen habe man die Macht wieder errungen und sie seitdem nie wieder abgeben müssen. (Wenige Tage später macht Ortega die schier unglaubliche Ansage, dass er bis 2027 im Amt bleiben wolle – »denn wir planen die Zukunft eben langfristig«.)

Ortega stellt in seiner Rede eine Person besonders heraus: den Chef des Zentralen Wahlrates, Roberto Rivas Reyes. Er ist möglicherweise die Schlüsselfigur zu den wiederholten Wahlsiegen des heutigen Präsidenten. Der überaus korpulente Mann gilt in Nicaragua als »intocable« – ein Unberührbarer. Er ist Vertrauter des Kardinals Obando y Bravo. Rivas’ Mutter führte ihm jahrzehntelang die Geschäfte, und manche sagen, Roberto sei sein leiblicher Sohn.

Er brachte den konservativen Kleriker und den comandante zusammen und ist seither Garant für deren feste Verbindung. Und mehr noch: Rivas sorgt mit dem Wissen um viele dunkle Geheimnisse des Klerus dafür, dass die heute amtierenden Bischöfe sich aus der Politik heraushalten. Von ihnen ist auf der Feier zur Amtseinführung Ortegas demonstrativ niemand erschienen.

Der Ablauf der aktuellen Wahlen ähnelte in vielen Aspekten der ungeliebten Pflichtübung von 1984: Die Regierung bestimmte, wer bei der Abstimmung kandidieren durfte, schloss durch Verbote alle Wahlbündnisse aus, die ein zu großes Stimmenpotenzial haben könnten, und kontrollierte schließlich das Gremium, das Vorbereitung, Verlauf und Resultat verantwortet. Das Ganze gleicht dem Motto von Ortegas Bruder von damals: »Es wird nicht wie in einer Lotterie darüber entschieden, wer hier die Macht besitzt.«

Um nach 16 Jahren in der Opposition 2006 an die Macht zurückzukehren, bedurfte es vieler Tricks und Kniffe: Die Mindeststimmenanzahl für den Sieger wurde in der mit dem politischen Gegner Alemán verabredeten Verfassungsänderung von 45 auf 35 Prozent gesenkt – nicht zufällig, denn um diese Zahl herum lagen die Ergebnisse der Sandinisten konstant. Dann wurde die Stichwahl der beiden aussichtsreichsten Kandidaten abgeschafft und so mit 38 Prozent der Stimmen (die bis dahin führende bürgerliche Liberale Partei war gespalten) das Präsidentenamt erobert. Umgehend wurde das größte Hindernis angegangen: das in der Verfassung noch immer festgeschriebene Verbot der Wiederwahl, um einer langwährenden Diktatur vorzubeugen. Da die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit nicht annähernd erreicht worden war, wurde das gefügige Oberste Gericht 2011 angerufen. Ortegas Anwälte klagten gegen »Ungleichbehandlung«, weil Abgeordnete beliebig oft wiedergewählt werden dürften. Die sandinistischen Richter hatten ein Einsehen und ließen Ortega zur nächsten Wahl 2011 zu.

Der kam nach übereinstimmenden Prognosen auf 48 Prozent, wollte aber die Verfassung ändern, wozu er eine Zweidrittelmehrheit brauchte. Die Oberste Wahlbehörde, die dem Präsidenten untersteht, zählte genau so viel Stimmen aus, dass es für die gewünschte Mehrheit reichte. Woher der plötzliche Zuwachs an Stimmen kam, wollten viele wissen – Antworten gab es keine.

Auch über die Zahl der abgegebenen Stimmen schweigen die Wahlhüter bis heute. In der aktuellen Wahl von 2016 war die Zahl noch bedeutender: Die Opposition hatte die zahlreichen Manipulationen im Vorfeld satt und zum Boykott aufgerufen – und zwei Monate später ist am Tag der Vereidigung des Wahlsiegers immer noch nicht klar, wie viele Nicaraguaner überhaupt wählen gegangen sind. Ortegas früherer Vizepräsident, der Schriftsteller Sergio Ramírez, schätzt im Gespräch, dass drei Viertel nicht zur Wahl gingen. Offiziell mitgeteilt wurde lediglich, dass das Ehepaar Ortega-Murillo mit 72,5 Prozent der Stimmen gewonnen habe. Die genaue Zahl der Nichtwähler wird nicht bekanntgegeben. Internationale Wahlbeobachter waren auf Anweisung von comandante Ortega nicht zugelassen worden.

»Die wirklichen Ergebnisse werden wir wohl nie erfahren«, sagt Maria Vigil, Redaktionsleiterin der Monatszeitschrift »envio«, die von der Mittelamerikanischen Universität UCA in Managua herausgegeben wird. »Die Wahlbehörden lügen seit acht Jahren, und jeder in diesem Land weiß das. Ortega hat nicht ›abgeräumt‹. Er hat gewonnen, weil er im Vorfeld alles dafür getan hat, dass keine internationalen Wahlbeobachter vor Ort sind und dass keine richtige Opposition antritt. Gehen wir mal von einer Wahlbeteiligung von 30 Prozent aus, in ländlichen Gebieten waren es wohl eher nur 20 Prozent. Das heißt, dem Stimmenanteil von 72,5 Prozent liegen nur etwa knapp 30 Prozent der Stimmberechtigten zugrunde. Das wäre, wenn überhaupt, ein Pyrrhussieg.«

Dennoch ist überall sichtbar, warum Ortega gewählt worden ist. Vielen Nicaraguanern geht es heute besser. Im Land, das so groß ist wie die ehemalige DDR plus Hessen, herrscht Ruhe, es bleibt von den Kriminalitätsrekorden der Nachbarn El Salvador, Honduras, Guatemala und Mexiko weitgehend verschont. Wer sich zur regierenden FSLN bekennt, kann auf Vergünstigungen hoffen, seien es ein Schwein, ein paar Hühner oder eine Kuh, die nicht geschlachtet werden, sondern die Versorgung der Ärmsten verbessern sollen. Sandinistische Aktivisten haben auch Häuser bekommen, die Infrastruktur hat sich deutlich verbessert, die Wirtschaft ist gewachsen, die Inflation, unter der die Nicaraguaner in den 1980er Jahren zu leiden hatten, ist moderat und die Zahl der offiziell als arm Klassifizierten deutlich gesunken. Gesundheitsbetreuung und Bildung sind wieder kostenfrei. (Wobei sich dies besser liest, als es in Wirklichkeit ist: So investiert kein anderes mittelamerikanische Land mit nur 2,5 Prozent des Staatshaushalts so wenig in die Bildung wie Nicaragua, werden Lehrer hier so schlecht bezahlt wie nirgendwo in der Region.)

Milliarden vom revolutionären Sponsor

Doch woher kommt das Geld für die Wohltaten?

Nicaragua ist immer noch ein Armenhaus, jeder Zweite muss mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen. Das mittelamerikanische Land ist ohne ausländische Hilfe nicht überlebensfähig. Und deshalb ist auch nicht der nicaraguanische Präsident maßgeblich für die Fortschritte verantwortlich – es ist die Führung von Venezuela, die den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« erfunden hat. In der letzten Dekade flossen rund vier Milliarden Dollar aus Venezuela zu den Ortegisten. Sie wurden nicht im Staatshaushalt verbucht, sondern auf die Konten einer privaten GmbH überwiesen und gestatten es Ortega und seiner Frau, aufwendige Sozialprogramme zu finanzieren – und sie am jeweiligen Wahltag in Stimmen umzumünzen.

Daran erinnert der frisch inthronisierte Staatschef in seiner Rede. Er dankt seinem venezolanischen Amtskollegen Nicolás Maduro für die erwiesene Hilfe. Unerwähnt lässt er, dass die Hilfe Venezuelas an revolutionäre Regierungen Lateinamerikas wie Kuba, Nicaragua, Ecuador, Bolivien und andere im Gesamtumfang von rund 80 Milliarden Dollar das einst reiche Land selbst verarmen ließ. Die Umverteilung im Rahmen der »bolivarischen Revolution« (so benannt nach dem Held der Befreiungskriege im 19. Jahrhundert, Simón Bolívar) hat Venezuela an den Rand des Abgrunds gebracht. Als der Fallschirmspringer-Offizier Hugo Chávez 1998 die Wahlen gewann, versprach er die Beseitigung der Armut, bessere Bildung und Gesundheitsversorgung. Der Staatsapparat wurde mit Hilfe von Zehntausenden kubanischen Beratern nach sozialistischem Vorbild umgebaut. Zeitweilig stand sogar der Plan im Raum, Kuba und Venezuela in einem gemeinsamen Staatswesen zu vereinen.