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Gudrun Wansing, Matthias Windisch (Hrsg.)

Selbstbestimmte Lebensführung und Teilhabe

Behinderung und Unterstützung im Gemeinwesen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030587-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030588-5

epub:    ISBN 978-3-17-030589-2

mobi:    ISBN 978-3-17-030590-8

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Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. Gudrun Wansing und Matthias Windisch
  4. Teil 1: Konzeptionelle Entwicklungen und rechtliche Aspekte
  5. Selbstbestimmte Lebensführung und Einbeziehung in das Gemeinwesen – Normative Grundsätze und konzeptionelle Perspektiven
  6. Gudrun Wansing
  7. 1 Einleitung
  8. 2 Selbstbestimmte Lebensführung
  9. 3 Lebensführung von Menschen mit Behinderungen – Möglichkeiten, Anforderungen und notwendige Ressourcen
  10. 4 Einbeziehung in das Gemeinwesen – Sozialräumliche Bedingungen der Lebensführung
  11. Literatur
  12. Personenzentrierung als sozialpolitische Programmformel Zum Diskurs der Eingliederungshilfereform
  13. Markus Schäfers
  14. 1 Einleitung
  15. 2 »Von der institutionellen zur personalen Perspektive« – zur genetischen Bedeutung von Personenzentrierung
  16. 3 Personenzentrierung im Kontext von Eingliederungshilfereform und Bundesteilhabegesetz
  17. 4 Zur Bedeutung von Personenzentrierung im sozialpolitischen Diskurs
  18. 4.1 Personenzentrierung als richtungweisende Programmformel
  19. 4.2 Personenzentrierung als Bedarfsorientierung
  20. 4.3 Personenzentrierung als personenbezogene Leistungserbringung
  21. 5 Personenzentrierung im sozialpolitischen Diskurs: Konsequenzen für ambulante Angebote
  22. Literatur
  23. Alltag und Lebenswelt als zentrale Bezugspunkte professionellen Handelns im Kontext gemeinwesenorientierter Unterstützung
  24. Albrecht Rohrmann und Hanna Weinbach
  25. 1 Einleitung
  26. 2 Die Zuständigkeit für Behinderung
  27. 2.1 Paradigmen der Behindertenhilfe
  28. 2.2 Selbstbestimmung als Hinweis auf Anomalien des herrschenden Paradigmas
  29. 2.3 Begründung professioneller Zuständigkeit durch die Annahme einer wesensmäßigen Andersartigkeit
  30. 3 Zum Anregungspotential des Konzeptes der Lebensweltorientierung
  31. 4 Handlungs- und Strukturmaximen der Sozialen Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen
  32. Literatur
  33. Leitorientierung und Grenzprobleme der Selbstbestimmung in der ambulanten Unterstützung von Menschen mit Behinderungen und Pflegebedarf
  34. Matthias Windisch
  35. 1 Einleitung
  36. 2 Begriff und Aspekte der Selbstbestimmung
  37. 3 Selbstbestimmung und Persönliche Assistenz
  38. 4 Selbstbestimmung und ambulante Pflege
  39. 5 Selbstbestimmung und Unterstützung der eigenständigen Lebensführung im Rahmen des Ambulant Betreuten Wohnens
  40. 6 Rechtliche Aspekte und Grenzprobleme von Selbstbestimmung
  41. 6.1 Gesetzliche Regelungen zu Recht und Grenzen der Selbstbestimmung
  42. 6.2 Grenzprobleme der Selbstbestimmung am Beispiel Persönlicher Assistenz
  43. Literatur
  44. Ambulante Unterstützung im Spiegel von Leistungsgesetzen
  45. Felix Welti
  46. 1 Einleitung
  47. 2 Rechtliche Barrieren
  48. 2.1 Numerus Clausus der Leistungsformen und Leistungserbringer bei Sachleistungen der Pflegeversicherung
  49. 2.2 Begrenztes Volumen beim Pflegegeld
  50. 2.3 Restriktionen beim Persönlichen Budget im Pflege- und Teilhaberecht
  51. 2.4 Verständnis der Pflegebedürftigkeit in der Pflegeversicherung
  52. 2.5 Mehrkostenvorbehalt in der Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege
  53. 2.6 Vergütungssystem
  54. 2.7 Zuständigkeit
  55. 2.8 Sektorentrennung
  56. 2.9 Objekt- und Sektorenorientierung von Investitionsförderung
  57. 2.10 Objektorientierung der Aufsichtsbehörden und des Verbraucherschutzes
  58. 3 Schluss
  59. Literatur
  60. Teil 2: Praxisbezogene Entwicklungen und Untersuchungsergebnisse
  61. Das Recht, ein Leben mit Persönlicher Assistenz selbst gestalten zu können – eine Frage der Leistungserbringung oder der Menschenrechte?
  62. Uwe Frevert
  63. 1 Einleitung
  64. 2 Persönliche Assistenz – das Sechs-Kompetenzen-Modell
  65. 3 Probleme bei der Umsetzung der Persönlichen Assistenz
  66. 4 Die Menschenrechte und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention)
  67. 4.1 UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und ihre rechtliche Relevanz
  68. 4.2 UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und ihre Bedeutung für die Persönliche Assistenz in der deutschen Übersetzung
  69. 4.3 Folgen der unterschiedlichen Bedeutung des Begriffs Persönliche Assistenz
  70. 5 Menschenrechte und Grundgesetz
  71. Literatur
  72. Personenzentrierte Steuerung der Eingliederungshilfe – am Beispiel des Landschaftsverbandes Rheinland
  73. Dieter Schartmann
  74. 1 Einleitung
  75. 2 Der personenzentrierte Ansatz – Grundsatz und Haltung
  76. 3 Personenzentrierte Steuerungsinstrumente
  77. 3.1 Das Fallmanagement
  78. 3.2 Das Hilfeplaninstrument – der IHP 3.1
  79. 3.3 Die Hilfeplankonferenz
  80. 3.4 Die Regionalkonferenz
  81. 3.5 Fachleistungsstundensystematik
  82. 3.6 Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsstellen sowie Sozialpsychiatrische Zentren
  83. 3.7 Weitere Aspekte im Zusammenhang von Personenzentrierung und Partizipation
  84. 4 Weiterentwicklung der Personenzentrierung
  85. Literatur
  86. Regionale Teilhabeindikatoren für eine teilhabeorientierte Steuerung der Eingliederungshilfe
  87. Petra Gromann und Andrea Deuschle
  88. 1 Einleitung
  89. 2 Methodische Grundlage der Untersuchungsergebnisse zur teilhabeorientierten Steuerung
  90. 3 Ziel einer teilhabeorientierten Steuerung
  91. 4 Das Zielprinzip Teilhabe stellt »Inklusion vor Ort« her
  92. 5 Gemeinsames Steuern setzt Transparenz voraus
  93. 6 Fazit
  94. Literatur
  95. Integrierter Teilhabeplan (ITP) als Verfahren zur individuellen Teilhabeplanung – Anspruch, Umsetzungserfahrungen und Probleme
  96. Matthias Windisch
  97. 1 Einleitung
  98. 2 Konzeptuelle Aspekte des ITP-Instruments
  99. 2.1 Ziele und Prozessorientierung
  100. 2.2 Indikatoren der individuellen Bedarfsermittlung
  101. 2.3 Finanzierung der Leistungen zur Bedarfsdeckung
  102. 3 Umsetzungserfahrungen und Kritik zum ITP-Instrument
  103. 3.1 Die Sicht von Leistungsberechtigten
  104. 3.2 Die Sicht von Professionellen
  105. 4 Fazit
  106. Literatur
  107. Chancen und Grenzen der »Ambulantisierung« – Ergebnisse einer empirischen Studie
  108. Daniel Franz und Iris Beck
  109. 1 Einleitung
  110. 2 Das Ambulantisierungsprogramm
  111. 3 Auswirkungen der Veränderungen
  112. 3.1 Selbst- und Mitbestimmung
  113. 3.2 Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung
  114. 3.3 Arbeitsteilung und Aufgaben von Fachkräften
  115. 3.4 Settings für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf
  116. 4 Fazit und Ausblick
  117. Literatur
  118. Ambulante Dienste für behinderte Menschen – Entwicklungen, Herausforderungen und Perspektiven
  119. Christian Huppert
  120. 1 Einleitung
  121. 2 Angebots- und Begriffsvielfalt in Ambulanten Diensten
  122. 2.1 Persönliche Assistenz
  123. 2.2 Offene Hilfen
  124. 2.3 Beratung
  125. 3 Zur Geschichte Ambulanter Dienste
  126. 3.1 Aufbau Ambulanter Dienste
  127. 3.2 Staatliche Förderung der Dienste
  128. 4 Strukturelle Kennzeichen der Dienste
  129. 5 Leistungserbringung an den Schnittstellen der Sozialgesetzbücher
  130. 6 Teilhabe und Inklusion – Herausforderungen für Ambulante Dienste
  131. 6.1 Offene Hilfen – Inklusion im Konjunktiv
  132. 6.2 Akteure in der ambulanten Behindertenhilfe
  133. 6.3 Vernetzte Kompetenzzentren im Gemeinwesen
  134. 7 Fazit und Ausblick
  135. Literatur
  136. Peer Counseling als Methode zur Unterstützung einer selbstbestimmten Lebensführung – ein Beratungskonzept und seine Wirkweisen
  137. Micah Jordan und Mario Schreiner
  138. 1 Einleitung
  139. 2 Definition und Grundsätze von Peer Counseling
  140. 3 Entstehung und Verbreitung des Peer Counseling
  141. 4 Aktueller Diskurs zum Peer Counseling
  142. 5 Empirische Forschung zu den Wirkweisen von Peer Counseling
  143. 5.1 Forschungsstand
  144. 5.2 Das Projekt Peer Counseling im Rheinland
  145. 5.3 Erste empirische Ergebnisse
  146. 6 Bedeutung des Peer Counseling zur Unterstützung einer selbstbestimmten Lebensführung
  147. Literatur
  148. Autorenverzeichnis

Vorwort

 

 

Es waren die sozialen Selbsthilfebewegungen und eine wachsende Selbstbestimmungsbewegung von Menschen mit Behinderungen, die vor etwas mehr als drei Jahrzehnten in Deutschland eine Auseinandersetzung angestoßen haben, die bis heute anhält. Sie richtet sich gegen soziale Ausgrenzung und bevormundende Hilfestrukturen und zielt auf die Entwicklung und Gestaltung von individuell abgestimmten bzw. passgenauen Pflege- und Unterstützungsangeboten außerhalb institutioneller Versorgungseinrichtungen. Zielsetzung war und ist es, durch gesellschaftliche Veränderungen Gleichberechtigung und Anerkennung, Freiheit und Selbstbestimmung in der Lebensgestaltung sowie eine Teilhabe im Gemeinwesen zu erreichen. Diese in den 1980er Jahren angestoßene Thematik erweist sich gegenwärtig in Anbetracht der UN-Behindertenrechtskonvention mehr denn je als hoch aktuell und relevant.

Sie wurde 2015 im Rahmen einer Fachtagung »Teilhaben und selbstbestimmt leben – Anforderungen an ambulante Hilfen für Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf im Gemeinwesen« an der Universität Kassel aufgegriffen. Veranstalter der Fachtagung waren das Institut für Sozialwesen am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel, die Arbeitsgruppe Teilhabeforschung im Forschungsverbund für Sozialrecht und Sozialpolitik der Universität Kassel und der Hochschule Fulda (FOSS) sowie der gemeinnützige Verein Ambulante Hilfen im Alltag (aha e.V.) anlässlich dessen 20-jährigen Jubiläums. Aha e.V. ist Ende 1994 aus dem Lehr- und Forschungszusammenhang zu Behinderung und Soziale Arbeit im damaligen Fachbereich Sozialwesen an der Universität Kassel hervorgegangen. Motivation und Zielsetzung des Vereins war und ist es, in der Praxis Sozialer Arbeit zur Entwicklung und zum Ausbau passgenauer individueller Hilfeleistungen für Menschen mit Behinderungen und Pflegebedarf orientiert an deren Selbstbestimmungsrecht sowie zu deren sozialen Teilhabe in der Region Kassel beizutragen.

Anknüpfend an die inhaltliche Ausrichtung der Tagung greift der vorliegende Sammelband die Tagungsbeiträge von Referentinnen und Referenten auf und ergänzt sie um einschlägige Beiträge von weiteren Autorinnen und Autoren.

Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen zu diesem Band beigetragen haben, danken wir an dieser Stelle vielmals. Außerdem verdient Viviane Schachler großen Dank, die uns engagiert und fachkundig bei Lektorat und Manuskripterstellung unterstützt hat.

 

Kassel, Juli 2017

Gudrun Wansing und Matthias Windisch

Einleitung

Gudrun Wansing und Matthias Windisch

 

 

In den vergangenen Jahren hat sich ein grundlegender Wechsel in der Orientierung der professionellen Organisation und Umsetzung sozialer Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen und Hilfebedarf herausgebildet. Maßstab der Unterstützung sind menschenrechtliche Grundsätze wie Selbstbestimmung, Inklusion und gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft. Personen- und sozialraumbezogene Unterstützungsleistungen sollen eine traditionell institutionenbezogene Versorgung ablösen.

Seit 2009 bietet die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland einen normativen Bezugsrahmen für die Gestaltung und Bewertung von Unterstützungsleistungen. Für die Bewältigung des Alltags ist insbesondere der Artikel 19 UN-BRK zur selbstbestimmten Lebensführung und Einbeziehung in das Gemeinwesen von Bedeutung. Er formuliert das Recht von Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen im Gemeinwesen zu leben. Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der UN-BRK dazu verpflichtet, für Menschen mit Behinderungen die freie Wahl der Wohn- und Lebensform, die Verfügbarkeit von und den Zugang zu flexiblen Unterstützungsdiensten im Gemeinwesen, einschließlich Persönlicher Assistenz, sowie den Zugang zu allgemeinen Dienstleistungen und Einrichtungen im Gemeinwesen zu gewährleisten, die den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen gerecht werden sollen. Mit dem Artikel 19 hat die UN-BRK nachhaltig dazu beigetragen, dass es gegenwärtig eine breit geführte Auseinandersetzung zur Umsetzung personenzentrierter und gemeinwesen- bzw. sozialraumorientierter Hilfen im Kontext der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe sowie in den fachlichen Diskursen der Rehabilitations-/Behindertenpädagogik und der Sozialen Arbeit bei Behinderung gibt.

Dabei geht es um eine konzeptionelle Weiterentwicklung von institutionenbezogenen, pauschalen Maßnahmen des »Wohnens« hin zur individuellen Unterstützung alltäglicher Lebensführung an selbstgewählten Wohnorten und in selbstgewählten Wohnformen. Mit diesem Orientierungswandel geht in der Praxis vielerorts eine zunehmende Umsetzung von ambulanten Unterstützungskonzepten einher. Gleichwohl erschweren oder verhindern nach wie vor zum Teil erhebliche Barrieren eine selbstbestimmte Lebensführung im Alltag und die Teilhabe im Gemeinwesen bei Behinderung und Pflegebedarf.

Trotz der Aktualität und Bedeutung des Themas wie auch beobachtbarer Veränderungen von Bedingungen und der Organisation der professionellen sozialen Unterstützung von Menschen mit Behinderungen und Pflegebedarf in den vergangenen rund 30 Jahren liegen dazu bislang wenig systematische Publikationen vor. Der vorliegende Band soll diese Lücke schließen. Er integriert verschiedene Perspektiven auf die Entwicklung und auf Anforderungen und Probleme der Unterstützung der selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit Behinderungen und Pflegebedarf.

Das Ziel des vorliegenden Buches ist es, Antworten auf folgende Fragen zu geben: Was bedeutet eine selbstbestimmte Lebensführung? Welche Optionen und Anforderungen gehen damit für Menschen mit Behinderungen einher? Wie lassen sich die normativen Forderungen nach Selbstbestimmung und Teilhabe bzw. Person- und Sozialraumorientierung konzeptionell fassen? Welche innovativen Entwicklungen zeichnen sich in der professionellen Behindertenhilfe bzw. Sozialen Arbeit bei Menschen mit Behinderungen und Unterstützungsbedarf gemessen an dem postulierten Orientierungswandel ab? Welche Rahmenbedingungen unterstützen ihre selbstbestimmte Lebensführung und ihre Teilhabemöglichkeiten? Welche Probleme gibt es bei der Konstruktion und Umsetzung individuell passender Hilfen? Welchen Beitrag kann ambulante Unterstützung zur selbstbestimmten Lebensführung und Teilhabe konzeptionell leisten? Wie müssen ambulante Dienste für Menschen mit Behinderungen und Unterstützungsbedarf künftig gestaltet werden?

Im ersten Teil des Bandes erfolgen Grundlegungen zu konzeptionellen Entwicklungen und rechtlichen Aspekten. Gudrun Wansing setzt sich in ihrem Beitrag »Selbstbestimmte Lebensführung und Einbeziehung in das Gemeinwesen – Normative Grundsätze und konzeptionelle Perspektiven« mit Inhalt und Bedeutung der Zielperspektiven einer selbstbestimmten Lebensführung und Einbeziehung in das Gemeinwesen auseinander. Dabei bezieht sie normative Anforderungen nach Artikel 19 UN-BRK wie auch soziologische Perspektiven ein. Im Ergebnis skizziert sie Anforderungen für nachhaltige Veränderungen in der professionellen Unterstützung bei Behinderung und Hilfebedarf, die weit über den Entwicklungsstand der betreuten Wohnformen hinausreichen.

Markus Schäfers geht in seinem Beitrag »Personenzentrierung als sozialpolitische Programmformel – Zum Diskurs der Eingliederungshilfereform« kritisch auf Bedeutungszuschreibungen zum Begriff der Personenzentrierung im sozialpolitischen Diskurs, Formen ihrer Inszenierung und Perspektiven ihrer gesetzespolitischen Stärkung ein. Dabei ist es ihm ein Anliegen, eine Brücke von dem sozialpolitischen Verständnis der Personenzentrierung zu den Konsequenzen einer möglichen Gesetzesreform der Eingliederungshilfe für die alltagsrelevante Unterstützung von Menschen mit Behinderungen und Hilfebedarf zu schlagen.

Im Blickpunkt des Beitrags »Alltag und Lebenswelt als zentrale Bezugspunkte professionellen Handelns im Kontext gemeinwesensorientierter Unterstützung« von Albrecht Rohrmann und Hanna Weinbach steht das Spannungsverhältnis zwischen den Zielen der fachlichen Diskurse zu ihrer alltagsbezogenen Unterstützung (Personenzentrierung, Sozialraumorientierung, Selbstbestimmung, Teilhabe usw.) und den tatsächlichen Unterstützungsleistungen mit ihren Folgen in der Praxis aus der Sicht des sozialpädagogischen Konzepts der Lebensweltorientierung. Dem Autor und der Autorin zufolge sind Hilfen für Menschen mit Beeinträchtigungen aus lebensweltorientierter Sicht als Unterstützungsleistungen zur gelingenden bzw. besseren Alltagsbewältigung in inklusiv auszurichtenden Gemeinwesen bzw. Sozialräumen zu profilieren.

Matthias Windisch widmet sich in seinem Beitrag »Leitorientierung und Grenzprobleme der Selbstbestimmung in der ambulanten Unterstützung von Menschen mit Behinderungen und Pflegebedarf« dem Selbstbestimmungsrecht und dessen Umsetzung. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich individuelle Selbstbestimmungsrechte und professionell organisierte ambulante Unterstützungsleistungen zueinander verhalten. Der Autor wirft einen differenzierenden und konzeptuellen Blick auf die Rolle des Selbstbestimmungsrechts in den professionellen ambulanten Unterstützungsformaten wie Persönliche Assistenz, Pflege und sozialpädagogische bzw. psychosoziale Unterstützung und zeigt Grenzprobleme der individuellen Selbstbestimmung auf.

Von welchem leistungsrechtlichen Kontext ambulante Hilfen für Menschen mit Beeinträchtigungen bestimmt und begrenzt sind, ist Gegenstand des Beitrags »Ambulante Unterstützung im Spiegel von Leistungsgesetzen« von Felix Welti. Die kritische Auseinandersetzung fokussiert schwerpunktmäßig das Pflegeversicherungs- und Eingliederungshilferecht unter Bezugnahme auf die normative Bedeutung der UN-BRK und des geplanten Bundesteilhabegesetzes. Der Beitrag legt Barrieren in den rechtlichen Strukturen der Leistungen zur Teilhabe und Pflegeleistungen trotz normativer Bekenntnisse zur Selbstbestimmung offen, die einer Diversifizierung und bedarfsgerechten Weiterentwicklung der sozialen Unterstützungsleistungen entgegenstehen.

Der zweite Teil des Bandes greift praxisbezogene Entwicklungen und Untersuchungsergebnisse zur Umsetzung des Orientierungswechsels in der professionellen Behindertenhilfe auf. Der Beitrag von Uwe Frevert »Das Recht, ein Leben mit Persönlicher Assistenz selbst gestalten zu können – eine Frage der Leistungserbringung oder der Menschenrechte?« zeigt aus der Betroffenenperspektive die Bedeutung der Persönlichen Assistenz im Lichte (menschen-)rechtlicher Grundsätze auf. Der Autor unterstreicht den Anspruch auf Persönliche Assistenz und skizziert zugleich verschiedene Probleme und Barrieren der Umsetzung in der gegenwärtigen Praxis.

Wie und unter welchen Voraussetzungen personenzentrierte Hilfen aus Sicht eines überörtlichen Leistungsträgers der Sozialhilfe ermöglicht werden, ist Gegenstand eines Beitrags »Personenzentrierte Steuerung der Eingliederungshilfe – am Beispiel des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR)« von Dieter Schartmann. Der Autor stellt als wesentliche Bausteine der Steuerung das Fallmanagement, das Hilfeplaninstrument der Individuellen Hilfeplanung (IHP), die Hilfeplankonferenz und die Regionalkonferenz, die Fachleistungssystematik sowie niedrigschwellige Anlauf- und Beratungsstellen im Rheinland vor, die jeweils eng miteinander verzahnt sind.

In ihrem Beitrag »Regionale Teilhabeindikatoren für eine teilhabeorientierte Steuerung der Eingliederungshilfe« verfolgen Petra Gromann und Andrea Deuschle die Frage nach der Steuerung der Eingliederungshilfe und Teilhabewirkungen unter den Bedingungen von regional unterschiedlichen Ausgangslagen. Methodik und Ergebnisse eines Evaluationsprojekts zur Entwicklung eines teilhabeorientierten Steuerungskonzepts werden vorgestellt, dessen Ziel es ist, eine Dokumentation und Bewertung von gemeinsam verhandelten regionalen Steuerungszielen trotz unterschiedlicher regionaler Gegebenheiten umzusetzen.

Matthias Windisch beschäftigt sich in einem Beitrag mit Anspruch, Umsetzungserfahrungen und Problemen des »Integrierten Teilhabeplan (ITP) als Verfahren zur individuellen Teilhabeplanung«. Im Mittelpunkt steht das Verfahren zur individuellen Bedarfsermittlung und einer darauf aufbauenden zielorientierten Unterstützungsplanung als zentrales Element in dem viel diskutierten Konzept der Personenzentrierten Steuerung der Eingliederungshilfe (PerSEH) in Hessen. Neben einer Charakterisierung wesentlicher konzeptueller Ansprüche und Merkmale des ITP-Instruments fasst der Autor kritisch strukturelle Schwächen und Erfahrungen mit dessen Umsetzung in der Praxis auf der Basis von Ergebnissen einschlägiger Gutachten und Evaluationsuntersuchungen zusammen.

»Chancen und Grenzen der Ambulantisierung« zeigen Daniel Franz und Iris Beck anhand ausgewählter Ergebnisse ihrer Evaluationsstudie zum Ausbau ambulanter Hilfen für Menschen mit so genannter geistiger Behinderung in der Hansestadt Hamburg auf. Mit diesem Ausbau verbindet sich der Auszug aus Wohngruppen in eigenen Wohnraum auf der Basis einer Personenzentrierung der Leistungserbringung sowie ihrer stärkeren Ausrichtung auf den Sozialraum. Im Kern des Beitrags werden das Programm der »Ambulantisierung« in Hamburg, dessen Auswirkungen, Chancen und Grenzen vorgestellt.

Der Beitrag von Christian Huppert »Ambulante Dienste für behinderte Menschen – Entwicklungen, Herausforderungen und Perspektiven« lenkt den Blick auf Offene Hilfen bzw. Familienunterstützenden Dienste. Nach einer Charakterisierung der Begriffs- und Angebotsvielfalt von ambulanten Diensten, ihrer Entstehungsgeschichte und strukturellen Merkmale sowie ihrer rechtlich basierten, komplexen Finanzierungssituation diskutiert der Autor Ergebnisse einer eigenen Befragung von Akteuren und Nutzenden Offener Hilfen. Der Beitrag vermittelt Einblicke in die Gestaltung der Offenen Hilfen und Antworten auf Fragen nach deren Passung zu aktuellen fachlichen Herausforderungen von Inklusion und Teilhabe.

In einem abschließenden Beitrag stellen Micah Jordan und Mario Schreiner »Peer Counseling als Methode zur Unterstützung einer selbstbestimmten Lebensführung« vor. Vor dem Hintergrund seiner Entstehungsgeschichte werden Grundsätze und Ziele des Peer Counseling-Beratungskonzeptes erläutert und zentrale Wirkweisen nachgezeichnet. Dabei beziehen sich der Autor und die Autorin auf ihre empirischen Ergebnisse der Evaluation eines Modellprojektes zu Peer Counseling im Rheinland.

 

 

 

 

Teil 1:  Konzeptionelle Entwicklungen und rechtliche Aspekte

Selbstbestimmte Lebensführung und Einbeziehung in das Gemeinwesen – Normative Grundsätze und konzeptionelle Perspektiven

Gudrun Wansing

1           Einleitung

Die Lebensbedingungen und die soziale Unterstützung von Menschen mit Behinderungen haben sich historisch vor allem in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Die Veränderungen wurden durch gesellschaftliche Entwicklungen beeinflusst, mit denen eine Reihe von Perspektivenwechsel im Verständnis von Behinderung und im Umgang mit Behinderung einhergehen (vgl. Mürner & Sierck 2012; Lingelbach & Waldschmidt 2016). Wegweisende Meilensteine lassen sich für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts entlang der Leitperspektiven von Normalisierung, Selbstbestimmung und Empowerment, Lebensqualität, Teilhabe und Inklusion nachzeichnen (vgl. Wansing 2005, 126 ff.). Die Veränderungen beschreiben in einer großen Linie den Wandel von der Versorgung der als krank und abweichend wahrgenommenen »Behinderten« hin zur Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebensführung und gesellschaftlicher Teilhabe für als gleichwertig anerkannte Menschen mit Beeinträchtigungen. Die gegenwärtigen Entwicklungen sind wesentlich geprägt durch die Impulse der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK). Diese liefert völkerrechtlich verbindliche Normen für die Gestaltung gleicher Lebenschancen für Menschen mit Behinderungen und damit eine universelle Reflexions- und Bewertungsfolie für den gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung allgemein wie auch für die Gestaltung von sozialen Unterstützungssystemen. Während im Bildungsbereich gegenwärtig insbesondere das in Artikel 24 der BRK verbriefte Recht auf Bildung und die Forderungen nach einem inklusiven Bildungssystem für eine breit geführte Auseinandersetzung sorgen, entfaltet für die professionelle Behindertenhilfe bzw. die Soziale Arbeit mit behinderten Menschen der Artikel 19 der BRK besondere Veränderungskraft. Als Ziele und Maßstäbe werden hier die Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebensführung und die Einbeziehung in das Gemeinwesen (independent living and inclusion in community) formuliert. Damit eröffnen sich Optionen für die Lebensführung von Menschen mit Behinderungen, die weit über den derzeitigen Stand der Entwicklung betreuter Wohnformen hinausreichen. Der folgende Beitrag setzt sich grundlegend mit Inhalt und Bedeutung dieser Zielperspektiven auseinander und skizziert Folgerungen für die Neuausrichtung professioneller Unterstützung. Dabei werden sowohl die normativen Grundsätze der BRK als auch sozialwissenschaftliche Perspektiven in den Blick genommen.

2           Selbstbestimmte Lebensführung

Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein konstitutives Moment der Teilhabe an den kulturellen Errungenschaften einer pluralen und demokratisch verfassten Gesellschaft. Infolge von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, beschleunigt vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts, lockern und lösen sich vorgegebene soziale Bindungen und tradierte Muster der Lebensführung zunehmend auf, die zuvor Lebenschancen qua Geburt bzw. qua Zugehörigkeit zu Großfamilien, Dörfern oder Ständen oder entlang von (zugeschriebenen) Merkmalen wie Geschlecht oder Hautfarbe prägten. Selbstbestimmung und Individualität stellen zentrale Werte einer aufgeklärten und durch Individualisierungsprozesse gekennzeichneten Gesellschaft dar, die sich den demokratischen Idealen von Freiheit und Gleichheit verpflichtet. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert das Recht eines jeden Menschen auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit ein Mensch nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt (Art. 2 Abs. 1). Die UN-BRK formuliert als zentralen Grundsatz »die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit« (Art. 3, a). Dieser Grundsatz ist insofern von Bedeutung für Menschen mit Behinderungen, als es ihnen historisch infolge von institutioneller Fremdbestimmung und Rund-um-Versorgung in separaten Lebensvollzügen über einen langen Zeitraum verwehrt wurde, eigene Vorstellungen eines »guten Lebens« zu entwickeln und im Rahmen alltäglicher Lebensführung umzusetzen. Bis heute noch machen Menschen mit Behinderungen häufiger als jene ohne Behinderungen die Erfahrung, dass andere über ihr Leben bestimmen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS] 2013, 182). Dies gilt vor allem für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen bzw. für Menschen, die umfängliche Pflege und Unterstützung zur Bewältigung ihres Alltags benötigen. Ihnen wird die Fähigkeit zur Selbstbestimmung vielfach abgesprochen, auch weil häufig ein – an die Moralphilosophie Kants angelehnter – verengter Selbstbestimmungsbegriff zugrunde gelegt wird (Images Kap. 4).

»Die so verstandene Selbstbestimmung impliziert ein bestimmtes Verständnis der Person: Selbstbestimmtes Handeln ist ausdrücklich Handeln von Personen, die ein Bewusstsein ihrer selbst haben und einerseits bedürftig und verletzbar sind, andererseits zu rationalen intentionalen, in Freiheit gewählten und verantwortbaren Handlungen fähig sind. Dieser Begriffsbestimmung zufolge können Menschen mit geistiger Behinderung nicht oder nur eingeschränkt als selbstbestimmungsfähige Subjekte gelten« (Dederich 2016, 170).

Markus Dederich verweist im Hinblick auf solche »auch ethisch problematischen Ausschlusstendenzen« (ebd.) zum einen auf Möglichkeiten eines erweiterten Verständnisses von Selbstbestimmung im basalen Sinne von Autonomie als Selbststeuerung und zum anderen auf die Notwendigkeit des stellvertretenden Handelns für Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten der Selbstbestimmung, um auch deren Wünsche und Bedürfnisse zu repräsentieren und sich für deren Anerkennung einzusetzen (vgl. ebd., 171). Die Lebensführung von Menschen mit hohen Unterstützungsbedarfen bleibt jedoch in vielen Aspekten – zuweilen ein Leben lang – im besonderen Maße geprägt durch die Ambivalenz von Autonomie und Angewiesenheit. Diese Situation wird sich auch durch eine zukünftig möglicherweise inklusive, barrierefreie Umweltgestaltung und eine individualisierte Organisation von Unterstützung nicht vollständig auflösen lassen. In vielen Lebenssituationen konstituiert sich Behinderung weiterhin durch ein »Mehr an sozialer Abhängigkeit« (Hahn 1981).

Die Angewiesenheit auf Unterstützung schließt für viele Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit vollständiger Unabhängigkeit im Alltagshandeln aus, nicht aber die Möglichkeit auf Selbstbestimmung als Chance, eigene Bedürfnisse und Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen und (ggf. mit Unterstützung) entsprechende Entscheidungen zu treffen. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff »independence« der englischen Originalversion der BRK in der deutschen Schattenübersetzung1 sowie in der österreichischen deutschsprachigen Übersetzung2 anstelle von »Unabhängigkeit« mit »Selbstbestimmung« sowie die Formulierung »independent living« (Art. 19) anstelle von »unabhängiger Lebensführung« mit »selbstbestimmter Lebensführung« übersetzt.

Wichtige Impulse für die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung für behinderte Menschen gingen bereits seit den 1970er Jahren von der emanzipatorischen und politisch motivierten Behindertenbewegung aus. In Anlehnung an die US-amerikanische Independent-Living-Bewegung machten behinderte Menschen auch in Deutschland zunehmend darauf aufmerksam, dass ihre benachteiligte Lebenssituation nicht naturgegeben und keine unabänderliche Folge persönlicher Defizite, sondern wesentlich durch soziale Faktoren bedingt ist, die sie an der Ausübung ihrer Grundrechte wie Freiheit, Privatheit und Selbstbestimmung behindern (vgl. Köbsell 2012). Sie forderten Selbstbestimmung, Selbstvertretung und größtmögliche Kontrolle über die in Anspruch genommenen sozialen Dienstleistungen (vgl. Rüggeberg 1985; Miles-Paul 1992).

Diese gesellschaftspolitische Dimension von Behinderung wurde jedoch in der Entwicklung der deutschen Behindertenhilfe lange Zeit – und wird zum Teil noch heute – ausgeblendet. Dabei waren wichtige politische und fachliche Impulse bereits seit den 1950er Jahren vom Normalisierungsprinzip ausgegangen, das im Kontext skandinavischer Sozialpolitik entwickelt worden war. Vor dem Hintergrund der scharfen Kritik am biologistischen Menschenbild und der Anstaltsverwahrung mit ihren menschunwürdigen Lebensbedingungen, insbesondere für Menschen mit geistiger Behinderung, folgte man hier dem Grundsatz »to create existence for the mentally retarded as close to normal living conditions as possible« (Bank-Mikkelsen 1980, 56). Es ist interessant, sich die Formulierungen des Juristen und Verwaltungsbeamten Niels Erik Bank-Mikkelsen (der das Normalisierungsprinzip in die dänische Sozialgesetzgebung eingebracht hatte) im Lichte der BRK noch einmal im Wortlaut anzusehen: »This is normalization; equality with other citizens without categorizing groups« (ebd., 62). Mit diesem politischen Richtungswechsel von besonderen Programmen für die als »behindert« bezeichneten Bevölkerungsgruppen hin zur Gewährleistungen gleichberechtigter Lebensbedingungen für alle Bürgerinnen und Bürger wurden bereits wichtige Grundsätze formuliert, wie sie heute in der BRK menschenrechtlich verankert sind. Während die Leitperspektive Normalisierung jedoch in Skandinavien in Verbindung mit der dortigen Bürgerrechtstradition nachhaltige sozialpolitische Reformen bis hin zur Auflösung von Sondereinrichtungen und zur Verwirklichung von Assistenzmodellen nach sich zog, blieb die Umsetzung in Deutschland im Wesentlichen auf die Weiterentwicklung des professionellen Hilfesystems und seiner Institutionen beschränkt. Standards für Wohn- und Dienstleistungsqualität wurden vielfach ohne die wirksame Partizipation der Menschen mit Beeinträchtigungen entwickelt und richteten sich an einer unterstellten Homogenität einer Gruppe der »Behinderten« und an deren vermeintlich kollektiven Unterstützungsbedarfen aus.

Erst im Zuge einer »verspäteten Befreiung« (Waldschmidt 2012) von Menschen mit Behinderungen durch den Einzug der Leitlinie Selbstbestimmung in die konzeptionelle Ausrichtung der Unterstützungssysteme der Behindertenhilfe ab den 1990er Jahren (vgl. Bundesvereinigung Lebenshilfe 1996) wurde die subjektive Perspektive der Adressatinnen und Adressaten deutlich gestärkt. Es wurden neue Methoden der individuellen Hilfeplanung eingeführt (vgl. Lübbe & Beck 2002), die Position von Heimbeiräten ausgebaut und ambulante zugehende soziale Hilfeleistungen forciert, die Nutzerzufriedenheit avancierte zu einem wichtigen Indikator von Ergebnisqualität der sozialen Einrichtungen und Dienste (z. B. Schwarte & Oberste-Ufer 2001; Hamel & Windisch 2000). Jedoch bleiben die Grundsätze der Autonomie und Partizipation auf die Rolle des Konsumenten bzw. des Nutzers reduziert, solange sie ausschließlich im Rahmen organisierter, professioneller Dienstleistungen betrachtet werden. Insbesondere in stationären Lebenszusammenhängen werden Handlungsspielräume für Selbstbestimmung häufig durch eine vorgegebene Versorgungsstruktur bzw. organisatorische Vorgaben abgesteckt; sie enden (bildlich gesprochen) an den Grundstücksgrenzen von Einrichtungen.

Optionen der Selbstbestimmung weisen deutlich über den Dienstleistungsrahmen hinaus, wenn Selbstbestimmung auf die Perspektive der Lebensführung bezogen wird. Der Begriff Lebensführung bezeichnet allgemein den Zusammenhang von Tätigkeiten in verschiedenen Lebensbereichen. Er meint »alles Handeln und Erleben eines Individuums im Zusammenhang seiner biopsychosozialen Daseinssicherung in der modernen Gesellschaft (Arbeiten, Versorgen, Erziehen, Ordnen, Lieben, Pflegen, Konsumieren etc.)« (Wirth 2015, 130). Das sozialwissenschaftliche Verständnis von Lebensführung geht grundlegend auf Max Weber zurück und wird konzeptionell wesentlich durch die Arbeiten der Projektgruppe »Alltägliche Lebensführung« an der Universität München geprägt (vgl. grundlegend Voß & Weihrich 2001, 2002; Jurczyk et al. 2016). Im Zentrum ihrer Untersuchungen alltäglicher Lebensführung steht die Frage, wie Personen ihren Alltag praktisch organisieren und individuell bewältigen.

»Es geht um Formen dessen, wie Personen tagtäglich in den für sie relevanten Bereichen (Beruf, Familie, Konsum, Politik usw.) tätig sind, die dadurch zu ihren ›Lebensbereichen‹ werden« (Jurczyk et al. 2016, 67).

3           Lebensführung von Menschen mit Behinderungen – Möglichkeiten, Anforderungen und notwendige Ressourcen

Die Lebensführung von Personen vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern innerhalb von konkreten sozialen Bezügen, die Möglichkeiten der Lebensführung prägen. Gesellschaftliche Bedingungen können Chancen eröffnen, behindern oder verweigern. Sie bieten Gestaltungsfreiräume und sie konfrontieren Menschen mit Anforderungen und Zumutungen. Der Grundsatz der Inklusion in der BRK zielt normativ auf freie und gleiche Möglichkeiten der Lebensführung ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Inklusion meint in diesem Sinne »den menschenrechtlichen Schutz freier sozialer Bezüge und Beziehungen, über die gesellschaftliche Zugehörigkeit erfahren und vermittelt wird« (Aichele 2013, 34). Die Autonomie des einzelnen Menschen und soziale Inklusion sind als Grundsätze eng miteinander verwoben.

»Erst in der wechselseitigen Verwiesenheit wird klar, dass Autonomie gerade nicht die Selbstmächtigkeit des ganz auf sich gestellten Einzelnen meint, sondern auf selbstbestimmtes Leben in sozialen Bezügen zielt; und im Gegenzug wird deutlich, dass soziale Inklusion ihre Qualität gerade dadurch gewinnt, dass sie Raum und Rückhalt für persönliche Lebensgestaltung bietet« (Bielefeld 2009, 11; Herv. G.W.).

Der Verweis auf die untrennbare Verknüpfung von Autonomie und Inklusion ist wichtig, um sowohl einseitig individualistische als auch sozialdeterministische Vorstellungen von Lebensführung zu verhindern. Einerseits darf der Grundsatz der Autonomie nicht dazu führen, dass Menschen mit Behinderungen ausschließlich auf ihre Eigenverantwortung und Selbstzuständigkeit für ein gelingendes Leben innerhalb vorhandener Lebensbedingungen verwiesen werden. Andererseits dürfen die Grundsätze von Inklusion und Teilhabe keine »totalitären« gesellschaftlichen Erwartungen der Zugehörigkeit und aktiven Partizipation generieren, die als Zwänge Formen der Lebensführung vollständig determinieren. Teil- und zeitweise Exklusionen im Sinne von Nicht-Zugehörigkeit und Nicht-Partizipation sind nicht per se als Verstoß gegen die Menschenrechte zu interpretieren. Sich nicht für Sport zu interessieren, keiner Religion anzugehören oder nur wenige soziale Kontakte zu pflegen, kann Ausdruck von Identität und Selbstbestimmung sein, sofern die (Selbst-)Exklusion das Resultat freier Entscheidungen ist. Zugleich ist die Verwirklichung einer selbstbestimmten Lebensführung und von Teilhabe voraussetzungsvoll.

»Die Lebensführung ist eine Leistung, die von Individuen permanent in Auseinandersetzung mit den Bedingungen ihrer sozialen Lage erbracht werden muss, sie ist immer eine aktive Konstruktionsleistung der Personen« (Jurczyk & Rerrich 1993, 34).

Rechte verwirklichen sich nicht von selbst, nicht alleine über ihre Anerkennung. Handlungs- und Entscheidungsspielräume (z. B. im Arbeitsleben, beim Wohnen, in der Freizeit) müssen vorhanden, bekannt und nutzbar sein. Um Gelegenheiten zur Teilhabe selbstbestimmt nutzen und Anforderungen in den verschiedenen Lebensbereichen bewältigen zu können, braucht es zudem Ressourcen, wie Bildungsabschlüsse, soziale Kontakte und Geld (vgl. in Anlehnung an Bourdieu Wansing 2005, 69 ff.; Rambausek 2017, 38 ff.) sowie Fähigkeiten, wie beispielsweise Kommunikationsfähigkeit, Flexibilität, psychische Belastbarkeit und Mobilität. Menschen bringen unterschiedliche Voraussetzungen mit, sich vorhandene Handlungsspielräume zu erschließen und zu nutzen sowie gesellschaftliche Erwartungen und Anforderungen zu erfüllen. Menschen mit Behinderungen verfügen häufig nicht oder in nur geringem Ausmaß über entsprechende Voraussetzungen, und zwar zum einen aufgrund von körperlichen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen und zum anderen infolge von sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung bzw. nicht oder erfolglos (im Hinblick auf Ressourcenerwerb) verwirklichter Teilhabe (vgl. BMAS 2013). Dabei verketten sich Bedingungen, Entscheidungen und Erfahrungen, erworbene und eingesetzte Ressourcen und Fähigkeiten in den verschiedenen Lebensbereichen zu vor- oder nachteilhaften Voraussetzungen der Lebensführung.

Analysen zu den Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen zeigen deutlich, dass Exklusionsrisiken in den verschiedenen Bereichen kumulieren und sich zu massiven Teilhabebeschränkungen manifestieren können. Zugleich wird sichtbar, dass Ressourcen in einem Bereich Risiken in einem anderen Bereich kompensieren können und dass Einschränkungen und Behinderungen (der Teilhabe an der Gesellschaft) in insgesamt günstigen Ressourcenlagen vergleichsweise gering ausfallen (vgl. ebd., 255 ff.; zu Exklusionskarrieren behinderter Menschen vgl. Wansing 2005, 78 ff.). Möglichkeiten und Grenzen selbstbestimmter Lebensführung entstehen in der Wechselwirkung von Optionen und Anforderungen einerseits sowie individuellen Voraussetzungen andererseits. Die Herausforderung der alltäglichen Lebensführung liegt, »in der Vereinbarkeit dessen, was man selber möchte, mit dem, was von einem erwartet oder einem zugemutet wird; mit dem was – gemessen an bestimmten Standards – notwendig ist und schließlich mit dem, was einem selbst möglich ist« (Kudera 1995, 345; zit. n. Jurczyk et al. 2016, 55). Behinderung kann vor diesem Hintergrund als ein Problem verstanden werden, eine Form der Lebensführung zu verwirklichen, die individuell gewünscht und gesellschaftlich anerkannt ist.

Interventionen zur Ermöglichung und Unterstützung der alltäglichen Lebensführung von Menschen mit Behinderungen müssen sich an den skizzierten Herausforderungen im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und Zumutungen einerseits und den individuellen Wünschen und Voraussetzungen andererseits orientieren. Ein zentraler Schlüssel für eine zielführende Neuausrichtung der sozialen Hilfen liegt in der Überwindung der Leistungskategorien ambulant und stationär und einer konsequenten Umstellung von einer Kategorie des »Wohnens« auf Kategorien der Lebensführung bzw. der Lebens- und Alltagsbewältigung (Images Kap. 3). »Wohnen« steht im System der traditionellen Behindertenhilfe für eine etablierte institutionelle Kategorie, die auf der rechtlich-administrativen Konstruktion eines pauschalen Hilfebedarfs gründet, woran sich in der Regel, auf der Basis pauschaler Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen zwischen Sozialhilfeträger und Anbieter, eine professionell organisierte Wohnform anschließt. Eine wirksame Unterstützung ist jedoch keine Frage nach dem richtigen Gebäude. Maßnahmen, die der Ermöglichung selbstbestimmter Lebensführung dienen sollen, müssen in eine zweifache Richtung weisen: Auf der einen Seite geht es um die strukturelle Ermöglichung, indem gleichberechtigte Handlungs- und Entscheidungsspielräume in den verschiedenen Lebensbereichen geschaffen werden, und zwar durch den Abbau von Barrieren, Diskriminierung und Benachteiligung. Auf der anderen Seite stellt sich die Aufgabe, Menschen mit Behinderungen (wieder) zu befähigen, ein Leben zu führen, das den eigenen Vorstellungen entspricht und gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung ermöglicht und zwar durch die Ausstattung mit Hilfsmitteln, durch Bildung, Beratung, pädagogische Begleitung und Assistenz. Jan Wirth beschreibt den Auftrag für die soziale Arbeit entsprechend als

»die Bearbeitung der Ambivalenz von Aktualität und Möglichkeit der Lebensführung, wie sie in Inklusion und Exklusion, gestörter Adressierung und Kommunikation, Belastungs- und Gefährdungssituationen, Konflikten, Krisen, bei Gewalt und Verlusten im Lebensverlauf sichtbar werden oder eben diese invisibilisierte, verschütteten Ambivalenzen wieder beobachtbar zu machen« (Wirth 2015, 390).

Die BRK formuliert Aufgaben und Zwecke von Bildung, Habilitation und Rehabilitation in diesem Sinne (Art. 24, 26). Zur Verwirklichung sollen umfassende Dienste und Programme insbesondere im Bereich der Gesundheit, der Beschäftigung, der Bildung und der Sozialdienste (weiter-)entwickelt werden.

4           Einbeziehung in das Gemeinwesen – Sozialräumliche Bedingungen der Lebensführung

Die BRK konkretisiert die menschenrechtlichen Forderungen der Gestaltung gleichberechtigter Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen in Artikel 19 auf der Ebene der »community« (Gemeinde, Gemeinschaft, Gemeinwesen). Auch wenn im Zuge von Globalisierungsprozessen zunehmend inter- und transnationale Entwicklungen (z. B. der Ökonomie) sowie politische und rechtliche Entwicklungen auf Bundesebene Lebensbedingungen wesentlich prägen, so erweist sich die Frage des Wohnortes und des jeweiligen örtlichen Bedingungsgefüges von demografischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Faktoren nach wie vor als zentrale Einflussgröße bei der Verwirklichung von Lebenschancen (vgl. Neu 2006). So sind die konkreten Möglichkeiten der Lebensführung von Menschen mit Behinderungen stark abhängig von den örtlichen Gegebenheiten beispielweise in Bezug auf Schulen, Arbeitsplätze, das Verkehrssystem sowie die Verfügbarkeit und Qualität von Pflege-, Assistenz- und Unterstützungsdiensten und deren politischer und administrativer Steuerung. Dabei ist Gemeinde nicht bloß als ein räumliches Gebilde zu denken, das territorial oder administrativ buchstäblich zu verorten wäre.

»Gemeinde muss über die Verwaltungseinheit hinaus als sozialer Raum gedacht werden, der deutlich kleiner als ein rechtliches Gebiet, aber auch weit darüber hinaus reichen kann und sich in unterschiedlichen Dimensionen konkretisiert: als Raum der sozialen Beziehungen ebenso wie als Raum von Machtpositionen, die sich durch den sozialen Status ergeben; als Raum, der dem Einzelnen zugänglich ist und als Raum der Artikulierung und Durchsetzung von Interessen. Zugänge zu wichtigen Gütern wie Arbeitsplätzen, Versorgungsangeboten, Wohnungen usw. sind mit Interessensdurchsetzung und damit auch immer mit Konflikten verbunden, und diese zeigen sich nirgends so deutlich wie auf der kommunalen und regionalen Ebene« (Beck 2016a, 12; vgl. auch Beck 2016b).

Die Perspektive auf Sozialräume als Orte der (Re-)Produktion von Machtverhältnissen und sozialer Ungleichheit ist wichtig, um einseitige, sozialromantisierenden Vorstellungen von Gemeinde oder Gemeinschaft (für behinderte Menschen) per se als Orte der Zugehörigkeit, Teilhabe und wechselseitigen Anerkennung in Nachbarschaften entgegenzuwirken. Geht man von einem sozialen Modell von Behinderung im Sinne der Beeinträchtigung von Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensführung und Teilhabe aus, so lassen sich sozialräumliche Bedingungen (in Schulen, im Verkehrssystem, am Wohnungsmarkt, in politischen Entscheidungsprozessen usw.) identifizieren, die Behinderungen hervorbringen können, weil sie die Interessen und Bedürfnisse von Bürgerinnen und Bürgern mit Beeinträchtigungen nicht berücksichtigen. Sozialraumorientierte Ansätze zur Verbesserung der Teilhabe behinderter Menschen in einer konkreten Region sollten vor diesem Hintergrund immer auch auf eine Analyse von »Situationen der Behinderung« (Weisser 2010, 7) gerichtet sein, »in denen das Vermögen, etwas zu realisieren, ungleich verteilt ist« (ebd.). Aktivitäten müssen dann entsprechend politische Veränderungen und die Bewusstseinsbildung in den Blick nehmen.

»Eröffnet wird eine politische und fachliche Perspektive, die nach ausgrenzenden institutionellen Bedingungen für behinderte Menschen fragt und diese im Sinne von Nichtdiskriminierungspolitik im örtlichen Gemeinwesen aufzuheben oder weitgehend zu reduzieren sucht« (Lampke et al. 2011, 14).

Die BRK formuliert normative Maßstäbe für die Gestaltung gleichberechtigter und diskriminierungsfreier Lebensbedingungen im Gemeinwesen, die Menschen mit Behinderungen eine selbstbestimmte Lebensführung und die Teilhabe in allen Lebensbereichen ermöglichen sollen. So sind geeignete Maßnahmen zu treffen,

»mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten« (Art. 9).

Bedeutsam für die alltägliche Lebensführung ist vor allem der Artikel 19, der das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen formuliert, »mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben«. Diese Orientierung an den Wahlmöglichkeiten »anderer Menschen« wirft insofern Schwierigkeiten auf, als sie zum einen die Möglichkeit einer eindeutigen Differenzziehung zwischen Menschen mit Behinderungen und »anderen Menschen« unterstellt und zum anderen von gleichen Zugangschancen der »anderen Menschen« ausgeht. Faktisch zeigen sich aber in der Bevölkerung insgesamt höchst ungleiche Wahl- und Zugangsmöglichkeiten im Gemeinwesen, etwa im Zugang zu Sportvereinen oder zum Ehrenamt, und zwar in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Ethnizität, Klasse oder Schicht. Zugleich sind diese Ungleichheiten auch in der Gruppe der Menschen mit Behinderungen ausgebildet. Diese Schwierigkeit, den Maßstab von Chancengleichheit anhand von sozialen Bezugsgruppen zu bilden, wird in der BRK dadurch umgangen, dass die Entscheidungsspielräume in Artikel 19 a–c inhaltlich bestimmt werden (vgl. Banafsche 2013, 151). Demnach ist zu gewährleisten,

»dass

a)   Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben;

b)   Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist;