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Tod einer Andentaube

 

Historische Kriminalerzählung

von Sabrina Železný

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-943531-26-8

ISBN 978-3-943531-25-1 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-943531-24-4 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat | Korrektorat: Jana Hoffhenke

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Kartenillustration: Detlef Klewer (Print)

Covergestaltung: Esther Bieback

 

»Hatun yana ñawi

wikuñapa ñawin

wayllupas ñawisu

ancha sasa tariy …«

(Abilio Soto Yupanqui, Ñawicha)

 

»Große schwarze Augen,

Vicuña-Augen,

unvergleichliche,

die jeder bewundert …«

 

Huq – Eins

 

Sumaq Urpi lächelte im Schlaf, das seidig-schwarze Haar wie ein weiches Tuch unter ihrem Kopf aufgefächert. Die Mädchen im Dorf hatten Lieder über ihre Schönheit gesungen. »Taube mit den schwarzen Augen, nun fliegst du im Sonnenglanz«, hatte das letzte von ihnen gelautet. »Nun küssen die Götter deine Stirn, und dein Lächeln kehrt als klarer Quell zurück. Beim Grünen unserer Felder denken wir an dich …«

»Oh, räudiger Andenfuchs«, sagte Amaru, um das dumme Lied aus seinem Kopf zu vertreiben. Er stand da und starrte auf das lächelnde Mädchen hinab, während seine Zähne stumpf auf der Kugel aus trockenen Coca-Blättern in seinem Mund kauten. Den bitteren Geschmack nahm er kaum noch wahr.

Sumaq Urpi lächelte im Schlaf, aber sie schlief nicht. Sie lag aus einem anderen Grund auf dem Steinboden des kleinen Hauses, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatte.

»Sie ist tot«, murmelte Amaru und warf einen kurzen Blick zur Tür.

Chaska stand dort und wedelte mit einem Ohr, wie zum Zeichen, dass sie Amaru gehört hatte. Mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie ihr Herr kaute sie auf etwas herum und sah dabei sehr verständig aus. Amaru war nach wie vor überzeugt, dass das Alpaka um einiges mehr an Verstand besaß als beispielsweise gewisse singende Mädchen.

Er kniete neben Sumaq Urpi nieder und fühlte mit den Fingern nach ihrem Herzschlag, aber es war eindeutig. Der Bluterguss an der Schläfe des Mädchens und ihre Reglosigkeit sprachen für sich.

»Räudiger und dazu stinkender Andenfuchs«, seufzte Amaru. »Ich habe ein Problem.«

»Das hast du«, erwiderte eine vergnügte Stimme von der Tür her, »du sprichst mit deinem Alpaka. Was tut die schlafende Schönheit auf dem Boden, du alter Schwerenöter? Hätte sie nicht ein weicheres Lager verdient?«

Amaru rollte mit den Augen.

Er schätzte und mochte Katari, den Händler vom Volk der Collagua aus den oberen Lagen des Colca-Tals. Sein Quechua war flüssig und beinah akzentfrei; immer wieder konnte Amaru vergessen, dass die Muttersprache des Händlers eigentlich das singende Aymara aus den Hochebenen war. Kataris Beobachtungsgabe war ebenso scharf wie seine eifrige Zunge, aber er war vielleicht der einzige Mensch, dem Amaru die ausgesprochene Beredsamkeit nachsah. Doch gerade jetzt war er sich nicht sicher, wie recht ihm diese kam.

»Sie schläft nicht«, sagte er knapp.

Katari kam näher und pfiff durch die Zähne. »Jetzt hast du in der Tat ein Problem.«

Amaru nickte und starrte finster auf das tote Mädchen.

»Andererseits«, fuhr der Händler fort und grinste breit, »musst du jetzt nicht Walqa Walqa besteigen. Das spart Kreuzschmerzen und Muskelkater, mein Freund!«

»Kein Grund zum Scherzen«, murmelte Amaru. Das war es in der Tat nicht. Sein Problem bestand nicht darin, dass Sumaq Urpi tot war – das wäre sie innerhalb eines Sonnenlaufs ohnehin gewesen. Das Problem war, dass sie auf dem schneebedeckten Gipfel des Walqa Walqa hätte sterben sollen, in Sichtweite des ewig rauchenden Kraters und zwar durch einen festen Schlag mit Amarus Priesterkeule. Taube mit den schwarzen Augen … Die dummen Mädchen hatten sich geirrt: Keiner der Götter würde Sumaq Urpis Stirn küssen und wohlwollend auf jene blicken, die das kostbare Opfer geschickt hatten. Jemand hatte die kleine Taube vorher erlegt. Nein, das war kein Grund zum Scherzen!

Katari zuckte mit den Schultern. »Ein schwacher Trost ist besser als keiner, nicht wahr?« Er bückte sich mit einem Ächzen und hob etwas auf, das er Amaru entgegen streckte. »Das hier scheint schuld zu sein. Schau.«

Der Gegenstand war rund, glänzend dunkelbraun und lag in Kataris Hand wie ein großer Kieselstein. Amaru runzelte die Stirn und nahm das Ding entgegen.

»Ein Lúcuma-Kern«, erklärte Katari nachdenklich. »Wenn du mich fragst, hat sie das an die Schläfe bekommen. Mit voller Wucht.«

Amaru kannte die Lúcuma, die Frucht mit der grünen Schale und dem sonnengelben Fruchtfleisch. Sandig und süß schmeckte sie. Die besten Lúcumas brachten die Händler aus den fruchtbaren Andentälern im Norden, meistens getrocknet, weil die Früchte sonst vor der Ankunft im Colca-Tal verdarben. Er persönlich hielt wenig von der Lúcuma. Für eine einzige Frucht verlangten die Händler so viele Maiskolben, dass Amaru es vorzog, die enorme Menge Mais der alten Wiñay zu geben, damit sie daraus sein Lieblingsgetränk, die säuerliche und erfrischende Chicha, herstellte.

Nachdenklich wog er den Lúcuma-Kern in der Hand. »Ein Kern, der tötet?«

Katari lachte und schlug Amaru freundschaftlich auf die Schulter. Kataris Körperumfang hätte ebenso sehr für sie beide gereicht wie seine Gesprächigkeit. »Du kommst zu selten aus deinem Alpaka-Stall heraus, mein Lieber. Man kann nicht nur mit Opferkeulen töten. Ich komme gut herum, wie du weißt. Wenn du mich fragst: Ein Schleudergeschoss.«

Unwillkürlich glitt Amarus Blick zu der wollenen Schleuder, die an Kataris buntem Gürtel hing. Der Händler mochte recht haben, was Amarus Erfahrung in Bezug auf Waffen anging. Als Priester hatte man diesbezüglich keine allzu breitgefächerten Kenntnisse nötig. Wie man es schaffen konnte, mit einer wild wirbelnden Schleuder irgendein Geschoss auch nur ansatzweise auf ein bestimmtes Ziel zu feuern, blieb Amaru ein Rätsel.

Katari bemerkte den Blick und klopfte demonstrativ auf die beiden Wollstränge. »Genau so etwas. Ich habe meine warak’a immer dabei, man weiß nie, was man für unerfreulichen Gesellen auf dem Weg begegnet, und gegen wilde Tiere ist so ein geschleuderter Stein auch ein ganz vorzügliches Mittel. Nicht, dass ich dein Täubchen erlegt hätte, aber ein Lúcuma-Kern gibt auf der Schleuder ein hervorragendes Geschoss ab.«

Amaru überlegte kurz, dann nickte er und ließ den Kern in die Umhängetasche gleiten, in der er seine Coca-Blätter aufbewahrte. Dann blickte er wieder auf Sumaq Urpi. Sie lächelte noch immer, aber jetzt kam es ihm so vor, als male sich noch leiser Spott in die Kringel um ihre Mundwinkel. Wer um alles in der Welt sollte ausgerechnet der bildschönen Tochter des Kuraka, des Dorfvorstehers, einen tödlichen Lúcuma-Kern an die Schläfe schleudern? Und das in der Nacht, bevor sie zur ehrenvollen Opferung auf den Walqa Walqa gebracht werden sollte? Es erschien Amaru eine Tat von grenzenloser Dummheit und Sinnlosigkeit, und er hasste beides gleichermaßen. Wann immer dumme und sinnlose Dinge geschahen, führten sie nur dazu, dass die angestammte Ordnung durcheinander kam. Und das bedeutete unnötigen Ärger und noch weniger Ruhe. Mochte Katari nun von Rückenschmerzen reden oder nicht, aber Amaru für seinen Teil hatte sich auf den Aufstieg gefreut. Nichts hätte ihn auf seinem Weg gestört, außer vielleicht das angestrengte Japsen Sumaq Urpis, die solche Spaziergänge nicht gewohnt war. Aber der Rückweg wäre von vollkommener Ruhe und innerem Frieden gewesen, und Amaru hätte gewusst, dass seine Pflicht getan und seinem Volk, den Cabana, eine gute Ernte sicher war. Nun hatte ein Lúcuma-Kern alles zunichte gemacht.

»Wenn du mich fragst, war es der Inka«, unterbrach Katari rücksichtslos Amarus Gedankengänge.

Amaru hob die Augenbrauen. Der Inka war der momentane Herrscher in Cuzco, ein größenwahnsinniger Fürst namens Mayta Qhapaq, der seine Zeit vor allem damit verbrachte, die umgebenden Fürstentümer seinem eigenen Reich einzuverleiben.

Katari schien seine Gedanken zu erraten. »Nicht der Inka, mein lieber Alpaka-Hirt. Sein Gesandter.«

Amaru nickte unmerklich. Das ergab mehr Sinn – und auch wieder nicht. Der Gesandte des Inka, ein knochendürrer Kerl mit albernen goldenen Ohrringen und einem blutroten Kittel, war gestern gleichzeitig mit Katari im Dorf eingetroffen und hatte deutlich sichtbar die Nase gerümpft, als sein Blick auf das kleine Haus gefallen war, in dem Amaru lebte. Dreimal tollwütiger Andenfuchs, das hier war nun einmal nicht Cuzco! Aber ob der Gesandte deshalb gleich mit einer Schleuder loszog, um die Götter um ihre Opfergaben zu bringen? Es kam Amaru merkwürdig vor. Zumal der Gesandte im Hause Tumalques untergebracht war – Sumaq Urpis Vater.

Den musste jetzt irgendjemand davon in Kenntnis setzen, was geschehen war. Amaru seufzte.

»Du gibst mir Recht?«, fragte Katari grinsend.

»Hol Wiñay«, gab Amaru knapp zurück. »Sie soll die Leiche versorgen. Ich muss zu Tumalque.«

»Ja, sieh dir den stinkenden Inka an«, sagte Katari enthusiastisch. »Ich bin ja von Coporaque mit ihm hier herunter gekommen. Das ist ein windiger Mistkerl, wie du mir zustimmen wirst! Führt sich auf, als hätte ihm sein Sonnengott persönlich den Hintern geküsst – oder zumindest sein feiner Fürst, der ihn herschickt. Und dass die Inka ein streitsüchtiges, hinterlistiges Volk sind, das ist allgemein bekannt!«

»Mir egal«, sagte Amaru, hielt kurz inne und tätschelte Chaskas Hals. »Komm, Chaska.«