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Daniel Bratanovic u. a.

100

Jahre

Oktober

revolution

Irrweg oder Ausweg?

edition berolina

eISBN 978-3-95841-548-5

1. Auflage

© 2017 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Umschlaggestaltung: BEBUG mbH, Berlin

Umschlagabbildung: Gemälde, 1930, von Alexander Michailowitsch Gerassimow: »Lenin auf der Tribüne«

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Einleitung

»Sollte nicht das 20. Jahrhundert im Singular das Jahrhundert der Revolution genannt werden?«

Hans Heinz Holz

»Die Bolschewiki haben gezeigt, dass sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist.«

Rosa Luxemburg

Wie steht es um das programmatische Erbe der Oktoberrevolution? Kann der Blick auf die Taten der Bolschewiki etwas anderes sein als ein Ernst-Busch-Liederabend – nostalgische Verklärung und wehmütige Rückschau auf bessere, aber nun mal unwiederbringlich verlorene Zustände?

Es ist mehr als 25 Jahre her, seit das politische Vermächtnis der Oktoberrevolution, der sowjetische Staatenblock, in den Orkus der Geschichte gerissen wurde. Die Folgen dieser verheerenden Niederlage sind noch immer nicht verarbeitet – nicht politisch oder organisatorisch, nicht theoretisch. Was von linker Politik nach der durch das Abrissunternehmen New Labour besorgten Zerstörung der Arbeiter­bewegung derzeit übrig geblieben ist, sind Defensiv­gefechte, partikulares Emanzipationsstreben oder die Sehnsucht nach einem neokeynesianischem »New Deal«. Die Verkümmerung der Linkspartei durch nach rechts scherende »Gastrecht«-Debatten sowie Regierungsverantwortungsgeraune und die Erpressbarkeit deutscher Gewerkschaften durch Standortpolitik stimmen ratlos – auch wenn antisolidarische Sonder­interessen und theoretische Verwirrung innerhalb der Linken wahrlich kein neuer Befund sind.

Zwar ist das Unbehagen an den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen durch den neoliberalen Kahlschlag, durch die imperialistischen Kriege auf dem Balkan und im Nahen Osten und nicht zuletzt mit der Finanz- und Eurokrise wieder gewachsen. Es äußert sich jedoch nur hier und da progressiv, nicht selten allerdings reaktionär. Der Zustand der fortschrittlichen Seite kennzeichnet sich dabei in der Regel durch ein hohes Maß an Unbestimmtheit. Dort, wo linke Organisationen in den vergangenen Jahren zu einer relevanten Kraft herangewachsen waren, die zu übergehen nicht mehr möglich war, zeigte sich schnell deren programmatische und strategische Unzulänglichkeit, sofern man unterstellen darf, dass ihnen an wirklicher Veränderung lag.

Die russischen Revolutionäre verfochten demgegenüber einen universalen, die gesamte Menschheit umfassenden Anspruch. Unter ökonomischen und politischen Bedingungen, die schwerer kaum hätten sein können, machten sie sich daran, das Projekt der Aufklärung aus seinen feudalen und kapitalistischen Fesseln zu lösen.

Die Autoren des Bandes beabsichtigen keine historiographische Rekonstruktion der Oktoberrevolution und ihrer Folgen. (Sofern sich da überhaupt wesentlich Neues entdecken ließe – verstanden nämlich als Sammlung verborgener Fakten, die eine grundlegende Revision überkommener Geschichtsschreibung verlangten –, wären andere, besser Informierte da ganz ohne Zweifel geeigneter.) Reine Historisierung bedeutete zudem, die Sache als etwas ein für alle Mal Erledigtes zu betrachten, was sie aber nicht ist.

Die Oktoberrevolution und ihre Errungenschaften sind vielmehr die irgendwie entrückte, aber zugleich naheliegende Referenz zur Vermessung der gegenwärtigen Misere – das Vergangene, das noch nicht (wieder) ist. Wer die bleibende Relevanz der Oktoberrevolution als epochales Ereignis erörtern will, muss sich jedoch von dogmatischen Marxismus-Leninismus-Sprüchen fürs Poesiealbum wie auch von neoexistentialistischen Ereignisphilosophien verabschieden: Denn die Fragen, die sich die Bolschewiki stellten beziehungsweise mit denen sie konfrontiert waren und für die sie eine Lösung suchten (und nicht immer fanden), stellen sich heute in anderer Form erneut; sie am Schreibtisch lösen zu wollen, wäre dumm. Gelingt es aber, sie ideologiekritisch und historisch-materialistisch im Lichte aktueller Debatten zu verhandeln, wäre dies angesichts des akuten theoretischen Bankrotts der Linken bereits nicht wenig.

Daniel Bratanovic

im Juli 2017