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CAROLA SCHNEIDER

Mein Russland

Begegnungen in einem
widersprüchlichen Land

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www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01089-4

Inhalt

Vorwort

»Eines Tages wird Russland ein demokratischer Rechtsstaat und zur europäischen Völkerfamilie gehören.«

Ljudmila Alexejewa, Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung, Moskau

»Eine solche Konzentration an Ungerechtigkeit, Unglück und Lüge, wie es sie in Russland gibt, ist ohne Ironie und Selbstironie nicht zu ertragen.«

Wassilij Slonow, Künstler, Krasnojarsk, Sibirien

»Russland ist anders. Hier hat es immer die Peitsche gegeben und das wird weiterhin so sein.«

Margarita Siangirowa, Journalistin, Omsk, Sibirien

»Es ist schon gut so, wie es ist.«

Alla und Alexander Rojenko, Bauern in Sibirien

»In unserer Gesellschaft wird schon Kindern abgewöhnt, eine eigene Meinung zu haben.«

Julia und Iwan Marjucha, junges Unternehmerpaar, Moskau

»Ich möchte eines Tages in einem freien, vielfältigen und strahlenden Russland leben.«

Renat Dawletgildejew, Journalist, Moskau

»Alle haben auf Russland herabgesehen. Dann ist Putin gekommen und hat gesagt: Hier sind wir. Mit uns muss man wieder rechnen.«

Makar Wichljanzew, Pro-Putin-Propagandabewegung, Moskau

»Die Welt muss den Willen der Krim-Bevölkerung anerkennen. Punkt!«

Jewgenij Repenkow, prorussischer Fußball-Manager, Krim

»Man darf nicht einfach etwas wegnehmen, das einem nicht gehört. Die Krim gehört weder Russland noch der Ukraine, sondern uns, den Krimtataren.«

Sarina Ametowa, Krimtatarin, Menschenrechtlerin, Krim

»Für die Mächtigen sind wir, das Volk, wie ein Schwarm lästiger Insekten, die man vertreiben muss.«

Pawel Schelkow, Putin-Kritiker und Kämpfer gegen Willkür und Gesetzlosigkeit durch Beamte und Politiker, Moskau

»Nationale Fragen sind bei uns wichtiger als alles andere. Etwas Gutes, Menschliches oder echte Hilfe für die Bevölkerung gibt es nicht.«

Jurij Fidelgolz, Pensionist und ehemaliger Gulag-Häftling, Moskau

Vorwort

Russland fasziniert, überwältigt und erschreckt zugleich. Das größte Land der Welt, das regelmäßig weltweit die Schlagzeilen dominiert, ist für viele Beobachter im Ausland, aber oft auch für seine eigenen Bewohner, unbegreiflich. Ein Land, das keine Diktatur ist, aber auch keine Demokratie, bezeichnet doch Präsident Putin selbst das politische System unter seiner Ägide als »gelenkte Demokratie«, die bei näherem Hinsehen jedoch ein autoritäres Regime mit schlecht bis gar nicht funktionierenden staatlichen Institutionen und einer zunehmend geknebelten Bürgergesellschaft ist. Ein Land, das im Europa des 21. Jahrhunderts völkerrechtswidrig Staatsgrenzen neu zieht und die Friedensordnung in Frage stellt. Das seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verzweifelt nach einer neuen nationalen Identität sucht. Das sich vom Westen gedemütigt fühlt und trotz wirtschaftlicher Schwäche sich und die anderen davon überzeugen will, den westlichen Ländern überlegen zu sein. Das auf der internationalen Bühne als Großmacht akzeptiert werden will und doch alles tut, um – zumindest von der westlichen Staatengemeinschaft – vielmehr mit erstauntem Schrecken als mit Anerkennung beobachtet zu werden. Ein Land, das trotzdem viele – und auch mich – nicht mehr loslässt, wenn man sich darauf eingelassen hat.

Man könne Russland mit dem Verstand nicht erfassen, sondern nur an das Land glauben, hat der russische Dichter Fjodor Tjuttschew sinngemäß gesagt. Ein Satz, den meine russischen Freunde gerne zitieren, wenn ich wieder einmal vergeblich versuche, manche politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland rational zu verstehen. Zum Beispiel, warum der Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat viel länger ist, als sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion viele in und vor allem außerhalb Russlands erhofft haben. Warum Denk- und Verhaltensmuster aus den Zeiten der kommunistischen Diktatur noch immer omnipräsent sind, obwohl zumindest die russischen Metropolen durchaus europäisch wirken und der Kapitalismus und die Konsumgesellschaft hier längst Einzug gehalten haben. Und warum die Gesellschaft nicht mehr Widerstand leistet, wenn ihre Freiheitsrechte zunehmend eingeschränkt werden. Mit dem Verstand sei Russland nicht zu ermessen, betonen meine Freunde, und sie gestehen ein, dass sie diesen Entwicklungen selbst zuweilen rat- und verständnislos gegenüberstehen, obwohl sie Bürger Russlands und in diesem Land aufgewachsen sind.

Was mich denn an Russland so fasziniere, werde ich in Österreich oft gefragt, wenn ich erzähle, dass mich das Land fesselt und mir zur zweiten Heimat geworden ist. Es sind die Menschen, antworte ich dann, die in meinen Augen eine ganz eigene Tiefe haben. Die mit Würde und Unbeugsamkeit den überall präsenten Schwierigkeiten des Lebens begegnen und sie immer wieder von Neuem zu meistern versuchen.

Mit dem vorliegenden Buch möchte ich versuchen, Russland anhand einiger jener Menschen zu beschreiben, denen ich in meiner Arbeit als Korrespondentin oder aber privat begegnet bin und die mich – jeder auf seine Weise – besonders beeindrucken. Mit ihrer Authentizität, in dem, was sie tun, wofür sie sich einsetzen und woran sie glauben, trotz oder wegen der besonderen Geschichte Russlands und des für Westeuropäer und auch für sie selbst oft schwer begreiflichen Wegs, den Russland innen- und außenpolitisch zuletzt eingeschlagen hat.

Dieses Buch ist keine repräsentative gesellschaftliche Studie und auch keine wissenschaftliche politische Analyse. Es ist eine zutiefst subjektive Auswahl von Menschen, die ich ebenso subjektiv beschreibe. Zu Wort kommen Menschen aus der Millionenmetropole Moskau ebenso wie aus Sibirien oder von der Krim, Kritiker genauso wie Anhänger des politischen Kurses unter Präsident Putin, Bauern, Künstler, Journalisten, Propagandisten, Menschenrechtsaktivisten, Unternehmer. Sie sprechen über Russland unter Präsident Putin, über seine zunehmend repressive Politik, die umstrittene Rolle der immer mächtigeren russisch-orthodoxen Kirche, über die Aufgabe der Kunst und der zunehmend geknebelten Medien in der russischen Gesellschaft.

Meine »Helden« sind völlig unterschiedliche Charaktere, aber sie haben gemeinsam, dass sie einfache Menschen sind, keine Stars, keine Politiker, keine Oligarchen. Und dass jeder von ihnen auf seine ihm eigene Weise versucht, Russland zu einem besseren Land zu machen. Zu einem moderneren, offeneren, demokratischeren, auch wenn diese Begriffe zuweilen unterschiedlich gedeutet werden. Gemeinsam ist den Porträtierten auch, dass sie bereit sind, offen über ihre Hoffnungen, Träume und ihr Scheitern zu erzählen. Darüber, warum sie trotz Rückschlägen, politischen Drucks und Enttäuschungen an ein Russland glauben, das eines Tages ein freies, europäisches Land sein wird. Und warum auf diesem steinigen Weg auch kleine Erfolge manchmal große Siege sind.

Es sind Menschen wie jene, die ich in diesem Buch beschreibe, die mich an und für Russland begeistern. Und die mir helfen, Russland – wenn schon nicht zu begreifen –, so doch ein wenig besser kennenzulernen. Mit all seinen Brüchen, Kontrasten und Widersprüchen. Es würde mich freuen, wenn auch die Leser und Leserinnen dieses Buches durch meinen persönlichen Blick auf Russland und seine Menschen dem Land auf eine neue und vielleicht unerwartete Art begegnen.

»Eines Tages wird Russland ein demokratischer Rechtsstaat und zur europäischen Völkerfamilie gehören.«

Ljudmila Alexejewa, Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung, Moskau

Der Eingang in das Wohnhaus von Ljudmila Alexejewa im Stadtzentrum von Moskau liegt etwas versteckt in einer schmalen Seitenstraße. Der Weg dorthin führt am Denkmal für Bulat Okudschawa vorbei, den berühmten Chansonnier, der zu Sowjetzeiten in melancholischen Liedern leise Kritik am düsteren Alltag, der drückenden gesellschaftlichen Stimmung, an Krieg und Militarisierung geübt hat.

Auch Ljudmila Alexejewa wird nicht müde, Kritik zu üben. An der politischen Führung in Russland, die grundlegende Freiheitsrechte der Bürger einschränkt, von der Versammlungs- bis zur Pressefreiheit. Die ein willfähriges Parlament und folgsame Gerichte als völlig in Ordnung ansieht. Der kritische Blick und der Wunsch, sich für eine starke Bürgergesellschaft einzusetzen, liegt Alexejewa im Blut. Den Großteil ihres Lebens hat die nunmehr 90-jährige Ikone der russischen Menschenrechtsbewegung dem Kampf für mehr politische Freiheit in ihrer Heimat gewidmet. Sie ist Mitglied der ersten Stunde und seit rund 20 Jahren auch Leiterin der renommierten russischen Menschenrechtsorganisation »Moskauer Helsinki-Gruppe«. Für ihre Arbeit ist Alexejewa mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet worden.

In ihrer Heimat erntet sie für ihr Engagement aber bei Weitem nicht nur Lob. Als uns die zierliche Frau mit schneeweißer Pagenfrisur in ihrem Wohnzimmer empfängt, erzählt sie, sie habe vor Kurzem wieder einmal ein vielsagendes »Abenteuer« erlebt. Ein russisches Kamerateam habe sie angerufen und um ein Interview zum Thema Migration und Flüchtlingswelle in Europa gebeten. Das Team habe sich als liberaler Sender vorgestellt, der im Namen das Wort »Freiheit« getragen habe. Sie habe daraus geschlossen, dass es sich um »Radio Free Europe« handle und zugesagt. »Als das Kamerateam dann gekommen ist, haben sie mir auf dem Telefonbildschirm ein Video vorgespielt, auf dem zu sehen ist, wie auf einem Berliner Bahnhof ein Immigrant eine Frau von einer Stiege stößt«, erzählt Alexejewa. »Und sie haben auch gefilmt, wie ich darauf gesagt habe, das sei entsetzlich.« Später, als die Journalisten vor dem Verlassen der Wohnung ihre Geräte zusammenpackten, sah Alexejewa in einer der Taschen des Kamerateams ein Mikrofon mit dem Logo eines kremltreuen Fernsehsenders, der immer wieder mit Hetzkampagnen gegen Oppositionelle, Bürgerrechtsaktivisten und regimekritische Kulturschaffende von sich reden macht. Auch Ljudmila Alexejewa wird in Sendungen dieses Kanals regelmäßig als Mitglied der »Fünften Kolonne« verunglimpft. So werden in Russland, unter anderem auch von Präsident Putin, angeblich vom Ausland gesteuerte »Vaterlandsverräter« bezeichnet, denen vorgeworfen wird, Russland von innen heraus zerstören zu wollen. Das besagte Interview mit Ljudmila Alexejewa, für das sich die Journalisten unter falschem Namen vorgestellt hatten, wurde wenige Tage später auf dem Sender ausgestrahlt. »Es wurde natürlich gezeigt, wie ich gesagt habe, dass ich die Tat des Immigranten furchtbar finde«, erzählt Alexejewa kopfschüttelnd. »Dabei ist es doch ganz normal, furchtbar zu finden, wenn jemand eine Frau von der Stiege stößt, ganz egal, woher er kommt.« Danach sei vom Reporter in der Sendung behauptet worden, sie sei gegen die Zuwanderung von Ausländern in Europa. »›Sogar die Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa ist dagegen‹, hat es geheißen. Dabei habe ich nichts dergleichen gesagt. Ich bin nicht gegen Migration, ich habe selbst jahrelang im Exil in den USA gelebt.«

Dieser Vorfall ist nur eines von vielen Beispielen, das charakteristisch ist für die zum großen Teil politisch gesteuerte Medienlandschaft in Russland, deren Aufgabe nicht ist, einfach Nachrichten zu verbreiten, sondern politische Botschaften zu verkünden. Zum Teil auch mit Tricks und Lügen. Es sollen jene Botschaften verkündet werden, die dem Kreml im Moment gerade genehm sind. So wird die Flüchtlingswelle in Europa in den kremlnahen Massenmedien nicht zufällig als große Gefahr für Europa dargestellt, das angeblich mitsamt seiner »falsch verstandenen Toleranz anderen Kulturen gegenüber« und seinen »liberalen und liederlichen moralischen Werten« nun vor dem Untergang stehe. Während Russland zugleich als Hüterin christlicher Werte und der traditionellen Familie als ein Europa überlegenes Land gezeigt wird. Eine Botschaft, die auch Präsident Putin und mit ihm die ganze politische Führung und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche unermüdlich betonen. Sie passt zum aktuellen politischen Kurs von Wladimir Putin, der angesichts der schweren Wirtschaftskrise und fehlender positiver Zukunftsperspektiven versucht, die Russen davon zu überzeugen, sie seien zumindest ideologisch dem Westen überlegen.

2017 werde Russland ein freies, demokratisches Land sein, hat Ljudmila Alexejewa vor einigen Jahren prophezeit. Als wir sie zum Interview treffen, ist es Dezember 2016. Wie sie nun über ihre Prognose denke, frage ich sie. »Ich habe mich geirrt«, sagt Alexejewa und lächelt leise. »Das habe ich schon 2014 begriffen, als nach der plötzlichen Übernahme der Krim durch Russland eine landesweite hysterische Euphorie ausgebrochen ist.« Damit meint die Menschenrechtlerin, dass damals laut einem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut 86 Prozent der russischen Bevölkerung die Krim-Annexion guthießen. »Krim nasch«, das heißt auf Deutsch »die Krim gehört uns«, ist seither fast schon zu einem geflügelten Wort geworden, sowohl bei den Befürwortern als auch bei den Gegnern der Annexion. »Krim nasch« steht für die hurra-patriotische Welle, die Russland seither erfasst hat und vielen Anhängern von Präsident Putins Führung als Rechtfertigung seines Kurses bzw. als »Trostpflaster« für politische und wirtschaftliche Unannehmlichkeiten im russischen Alltag gilt, die wegen der internationalen Sanktionen, die die Annexion mit sich brachte, erduldet werden müssen. Gegner der Annexion verwenden den Begriff, um ebendiese politisch und medial propagandistisch verstärkte Patriotismus-Welle zu kritisieren.

»Ich habe völlig unterschätzt, dass Russland als imperiale Nation zwar nicht mehr existiert, die Nostalgie aber schon. Und das nicht nur in den Köpfen der Regierenden, sondern auch in jenen der ganz normalen Menschen«, erklärt die Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa. Vor allem außerhalb der Großstädte und in weniger gebildeten Schichten könnten sich viele bis heute nicht mit dem Verlust der imperialen Rolle Russlands abfinden. Diese Menschen würden die Krim-Eingliederung gut finden, ganz nach dem Motto: »Lieber vor lauter Armut einen nackten Hintern, aber im Gegenzug in einem Land leben, das alle in der Welt wieder fürchten«, lacht Alexejewa. Sie selbst wolle jedoch nicht, dass Russland gefürchtet werde, meint sie, und das Lachen verschwindet aus ihrem Gesicht. Sie wünsche sich, dass ihre Heimat im Ausland geliebt und geachtet werde. Immerhin gebe es genügend Gründe dafür. Nicht nur, dass die Sowjetunion mit ihren vielen Millionen Kriegstoten größere Opfer als jedes andere Land gebracht habe, um im Zweiten Weltkrieg Hitler-Deutschland zu besiegen. »Wir haben auch unsere Kultur, unsere Musik und Poesie! Wir haben alles, um unseretwegen geliebt zu werden. Wozu soll man uns also fürchten? Aber viele meiner Mitbürger sehen das anders.«

Ich frage Alexejewa, wo sie heute in Russland die größte Gefahr für die Menschenrechte sehe: in der Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit, in der Tatsache, dass man etwa für regierungskritische Postings in sozialen Netzwerken schon ins Straflager kommen kann oder in Gefängnissen regelmäßig gefoltert wird? »Es sind die Gerichte, die nicht unabhängig sind. Wir brauchen eine unabhängige Justiz, das ist das Allerwichtigste«, antwortet Alexejewa ohne zu zögern. »Wenn die politische Führung Gesetze bricht, wird sie in einem Land mit unabhängigen Gerichten verurteilt«, erklärt die Bürgerrechtlerin. Das sei aber in Russland nicht möglich, denn hier seien alle Institutionen vom Kreml abhängig, vom Parlament bis zu den Gerichten.

»Wir sind wieder ein autoritärer Staat«, sagt Alexejewa. »In den 1990er-Jahren, als die Sowjetunion zusammengebrochen war, waren wir im Vergleich zu heute frei! Wir waren keine wirkliche Demokratie und schon gar kein Rechtsstaat. Aber wir waren ein freies Land. Jetzt nicht mehr. Es gibt keine freie Presse, kein freies Parlament und auch keine unabhängigen Gerichte.«

Damals, in den 1990er-Jahren, seien zwar Institutionen wie das Parlament und die Gerichte auch nicht völlig unabhängig gewesen, gesteht Alexejewa ein. Aber zumindest habe sich das Land damals in Richtung Freiheit bewegt. Heute bewege sich Russland rückwärts. Als ausgebildete Historikerin wisse sie, dass nach Revolutionen immer ein Rückschlag folge. Und einen solchen erlebe Russland nun, ausgelöst durch die »Revolution« des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Diese aktuelle Rückwärtsbewegung sei aber länger und tiefgehender, als sie es erwartet habe, so die Menschenrechtlerin. »Das liegt nicht an uns Russen als Menschen«, sagt sie. »Wir sind nicht schlechter als jene, die in freien Ländern leben, als meine Freunde in den USA zum Beispiel.« Im Unterschied zu diesen Ländern habe Russland aber eine einzigartig tragische Geschichte, die die Menschen präge, ist Alexejewa überzeugt. »Wenn man die Geschichte unseres unglücklichen Landes betrachtet, so gibt es viele große, schwarze Flecken und nur ganz wenige kleine und helle«, meint Alexejewa. »Wir liegen genau an der Schwelle zwischen Ost und West. Die Schläge aus dem Osten haben wir immer als erste und sehr heftig abbekommen. Zum Beispiel die Herrschaft der Mongolen. Hunderte Jahre ist das tatarisch-mongolische Joch schon vorbei. Und doch hat es bis heute Spuren hinterlassen. Wir haben mehr als andere Länder Elemente aus dem ›wilden‹ Osten übernommen. Die Mongolei war ja ein wildes Land damals.« Alexejewa zieht einen Vergleich mit der Ukraine und meint, dass die Mongolen zwar auch bis Kiew vorgedrungen seien und dort alles zerstört hätten. Doch seien sie rasch zurückgeworfen worden, während sie in Russland sehr lange herrschten. »Und schauen Sie doch, welchen Unterschied das bis heute macht«, meint Ljudmila Alexejewa. »Es scheint, als ob die Russen und Ukrainer verwandte Völker sind, sogar die Sprache ist ähnlich. Aber die Psyche ist eine völlig andere. Die Ukrainer haben den Maidan. Wir in Russland nicht.«

In ihren Augen sei nicht allein Präsident Wladimir Putin am repressiven politischen Klima im Land schuld. Sondern auch die russische Gesellschaft, die ein solches Regime fast widerspruchslos zulasse. »Jeder Machthaber in jedem Land wäre ein Despot, wenn das die Bürger zulassen würden. Politische Macht verleitet sehr dazu, vor allem, wenn man lange genug über sie verfügt.« Im Unterschied zu Russland existiere in demokratischen Ländern aber eine starke und aktive Bürgergesellschaft, die nicht erlaube, dass Spitzenpolitiker sich wie Herrscher aufführten. »Bei Ihnen sind Politiker die Diener der Gesellschaft und versuchen alles, um dieser zu gefallen und ja nicht verschmäht zu werden. In Russland wird das auch eines Tages so sein. Aber erst, wenn auch die hiesige Bürgergesellschaft stark genug ist, um ihrer politischen Führung Grenzen zu setzen.«

Allerdings will Präsident Putin mit den zahlreichen repressiven Gesetzen, die er seit Beginn seiner jüngsten Amtszeit beschließen ließ, genau dies verhindern: eine unabhängige und kritisch denkende Bürgergesellschaft, die die politische Führung kontrolliert. Im heutigen Russland genehmigen die Behörden so gut wie keine Demonstrationen mehr, obwohl dies der Verfassung widerspricht, und man kann schon für stille Mahnwachen auf der Straße im Straflager landen. Dies, obwohl solche stillen Formen des Protests sogar im restriktiven russischen Versammlungsrecht ausdrücklich erlaubt sind. Der Druck auf die wenigen verbliebenen kritischen Medien wird immer größer, und das noch einigermaßen freie Internet wird immer stärker kontrolliert.

Auch Ljudmila Alexejewa und die von ihr geleitete Moskauer Helsinki-Gruppe sind Opfer dieser Politik geworden. Laut einem 2012 beschlossenen und auch international heftig kritisierten Gesetz müssen sich Nichtregierungsorganisationen, die politisch tätig sind und finanzielle Förderungen aus dem Ausland erhalten, offiziell als »ausländischer Agent« bezeichnen. Der Begriff »politische Tätigkeit« ist im Gesetz so schwammig definiert, dass praktisch jede in den Augen der Behörden unliebsame Organisation darunter fällt. Der Stempel »ausländischer Agent« macht jedoch für die betroffenen NGOs das Arbeiten in Russland praktisch unmöglich. Der Begriff ist äußerst negativ besetzt. Zu Sowjetzeiten wurden (auch und vor allem angebliche) Spione und Vaterlandsverräter so bezeichnet und hingerichtet oder zu jahrelanger Lagerhaft verurteilt. Weil auch die Moskauer Helsinki-Gruppe für ihre Menschenrechtsprojekte in Russland Geld von ausländischen Sponsoren erhielt, lief sie Gefahr, als »ausländischer Agent« gebrandmarkt zu werden. Daher stellte Alexejewa nach dem Beschluss des Gesetzes sofort die ausländischen Finanzzuschüsse ein. Es wäre undenkbar gewesen, als »ausländischer Agent« Menschenrechtsprojekte in Russland durchzuführen, erklärt sie. Ich erinnere mich gut an den Kommentar der betagten Aktivistin, der damals auch international Aufmerksamkeit erregte: Wenn die Moskauer Helsinki-Gruppe ohne ausländische Hilfe nun zu wenig Geldmittel habe, werde sie eben ihre private Porzellansammlung verkaufen. Alexejewa lacht, als ich sie in unserem Gespräch an ihre Aussage erinnere. »Ja«, sagt sie und macht eine ausladende Geste in Richtung eines großen Wandregals in ihrem Wohnzimmer, auf dem Teller, Tassen und Krüge aus dem berühmten russischen, blau-weißen Gschel-Porzellan thronen. »Das hätte ich alles verkauft.«

Dazu ist es dann aber doch nicht gekommen. Präsident Putin wollte sich offenbar nicht der Kritik aussetzen, die älteste russische Menschenrechtsorganisation in den Ruin zu treiben, und so erhält die Moskauer Helsinki-Gruppe seither jährlich Mittel aus einem Förderungstopf des Kreml. Allerdings handle es sich nur mehr um ein Zehntel jenes Betrags, der der Organisation früher zur Verfügung stand, erzählt Alexejewa. Sowohl die Zahl der Mitarbeiter als auch die Projekte mussten drastisch gekürzt werden. Und dennoch hält die Aktivistin an ihrem unerschütterlichen Optimismus fest. »Wissen Sie, so schlimm es heute auch sein mag, es ist besser als zu Zeiten der Sowjetunion«, meint sie. »Heute machen wir uns darüber Gedanken, ob wir vom Präsidenten Förderungen bekommen oder von Sponsoren. Damals haben wir dieses Wort nicht einmal gekannt. Zu Sowjetzeiten hat niemand das Wort ›Menschenrechte‹ auch nur in den Mund genommen. Und unsere Bewegung wurde nicht offiziell registriert.«

Als die Moskauer Helsinki-Gruppe 1976 von einer Gruppe Dissidenten, unter ihnen Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow, gegründet wurde, war sie im Untergrund tätig. Die kleine Wohnung von Alexejewas Familie war geheimes Büro und Treffpunkt der Aktivisten. Alexejewa lacht, als sie erzählt, dass es zuweilen wegen Platzmangels so eng wurde, dass ihr Mann und ihr Sohn lieber außer Haus arbeiteten und lernten als in der verdeckten Aktivisten-Zentrale. Schon wenige Monate nach der Gründung der Menschenrechtsgruppe hätten die ersten Verhaftungen begonnen, erinnert sich Alexejewa und das Lachen verschwindet aus ihrem Gesicht. »Ein Mitglied nach dem anderen haben sie abgeholt. Zuerst hier in Moskau, danach in der Ukraine und in Litauen. Zunächst haben wir weiterhin Dokumente veröffentlicht, denn es sind trotz der Verhaftungswelle immer neue Leute zu unserer Bewegung gestoßen.« Bis die schon fast zerschlagene Menschenrechtsgruppe aufhörte, neue Mitglieder aufzunehmen. »Für uns tätig zu sein hat einen Direktflug ins Straflager bedeutet. Wir haben entschieden, dass nun Schluss mit neuen Mitgliedern ist«, erzählt Alexejewa. Sie selbst wanderte angesichts der drohenden Verhaftung im Frühjahr 1977 mit ihrem Mann und ihrem Sohn nach Amerika aus.

Zunächst habe sie sich gegen das Exil gesträubt, erinnert sie sich. Aber schließlich habe sie den Gedanken nicht mehr ertragen, dass ihr Mann oder ihr Sohn wegen ihrer Aktivisten-Tätigkeit womöglich Jahre im Straflager verbringen würden. »Sie waren keine Mitglieder der Gruppe, aber haben mir immer wieder geholfen. Zum Beispiel illegal gedruckte Bücher zu schleppen. Wenn man sie dabei erwischt hätte, wären sie sofort verhaftet worden. Sieben Jahre Lager und fünf Jahre Verbannung hätten sie mit Sicherheit ausgefasst. Solche Fälle gab es damals täglich.« Und so verließ Alexejewa schweren Herzens mit ihrer Familie die Sowjetunion in Richtung USA. »Dort ist es dann aber besser gelaufen als erwartet«, lächelt sie. Denn sie habe im Exil als »internationale Vertreterin« weiterhin für die Moskauer Helsinki-Gruppe tätig sein können. Unter anderem habe sie die Dokumente der Organisation ins Englische übersetzt und den Regierungen demokratischer Staaten übermittelt, damit diese auf die Führung der Sowjetunion Druck ausübten, um die Dutzenden Aktivisten der Gruppe, die im Lager saßen, freizubekommen.