Inhaltsverzeichnis

Prolog. Wer macht denn sowas?

1. Trautes Heim, Glück allein

2. Willkommen im falschen Film

3. Spagat und andere Akrobatik

4. Der Personaleingang zur Hölle

5. Brenzlig

6. Igitt, wie geil!

7. Verrückte Frösche

8. Mamas Liebling

9. Stille Wasser sind tief und dreckig

10. Wer andern eine Grube gräbt, ist selbst ein Schwein

11. Die Katze lässt das Mausen nicht

12. Die Katze auf dem heißen Wellblech

13. Ich zeig dir, was ’ne Harke ist

14. Die lieben Kinder

15. Das verrückte Gewissen

16. Holy shit

17. Ende gut, die Katz war gut.

Danksagung

Cover





Mina Teichert 




Mieze Undercover 

Der 1. Fall für Mieze Moll






herausgegeben von Daniela Katzenberger









Edel Elements


3

Spagat und andere Akrobatik

Lars Baum nickt stumm, während Revierleiter Helmke verkündet, dass ich quasi ein neues Tätigkeitsfeld habe. Nämlich als verdeckte Ermittlerin in der Tabledancebar Moulin Rouge.

»Sie werden das großartig machen, das habe ich im Gefühl«, meint er und faltet seine Hände auf dem wuchtigen Tisch. Herr Legert stimmt ihm zu.

Ich selbst kann mich gerade nur darauf konzentrieren, dass ich zu spät zum Kindergarten komme, um Lou abzuholen. Meine Gedanken rennen alle quer durcheinander, während meine Finger am vertrockneten Blatt einer Pflanze herumfummeln. Herr Baum, der neben mir sitzt, mustert mich von der Seite. Immer wieder verändert er seine Sitzposition, und ich rutsche nicht minder nervös auf meinem Stuhl umher.

»Wenn Sie das sagen«, antworte ich dem Revierleiter, versuche mich an einem Lächeln und schaue zu Herrn Baum, der aussieht, als habe er herzhaft in eine Zitrone gebissen. Wenigstens Herr Legert lächelt zurück und rückt seine Brille auf der spitzen Nase zurecht.

»Sie beide, Lars und Mieze«, beginnt Herr Helmke feierlich, »werden ein hervorragendes Team abgeben.«

Ich spüre, wie sich die Luft in diesem Raum gerade abkühlt. Auf unter null Grad. Immer wieder muss ich daran denken, wie ich beinahe den Einsatz vermasselt hätte, den Herr Baum von so langer Hand geplant und eingefädelt hatte, wie er mir nach seiner Ankunft im Revier lautstark an den Kopf geworfen und mit den charmanten Worten eingeleitet hat: »Sind Sie eigentlich völlig übergeschnappt, Sie Volldröse?« Was bitte?

Mir war nichts Besseres eingefallen als: »Ach, jetzt sind wir wieder beim Sie? Vorhin in der Bar hast du mich noch geduzt.« Ich wette, sogar die Kollegen im öffentlichen Bereich hinter der Glasscheibe haben Herrn Baums ausschweifende Antwort darauf mitgekriegt. Gerade als es mir gelungen war, seinen explodierenden Wortschwall mit einem »Aber wie ich getanzt habe, das hat dir schon gefallen« abrupt zu stoppen, kam Herr Helmke ins Zimmer und rief zu dieser außerordentlichen Dienstbesprechung.

»Super. Dann ist das ja beschlossene Sache«, meldet sich mein Undercover-Kollege jetzt zu Wort und schaut mich ernst an. »Na dann, Michaela Moll. Ein bisschen Nachtarbeit hier und da, bis in den frühen Morgen, das schaffen Sie schon, so als Mutter.« Er setzt sich aufrecht hin und reicht mir die Hand.

Moment mal, woher, verflucht, kennt der meinen Vornamen? Also den scheußlichen, der unvorstellbarer Weise in meinem Ausweis steht und überhaupt nicht zu mir passt? Zögerlich greife ich Herrn Baums Hand, unschlüssig, ob ich sie nicht einfach aus Rache für das »Michaela« zerquetschen soll. Sie fühlt sich warm und rau an. Ganz anders als Fabians, die so weich ist wie von einem Pianisten.

»Woher …«, beginne ich meine Frage, und er hebt eine Augenbraue.

»Wir sind hier bei der Polizei. Ich hab mir mal den Spaß erlaubt, deinen Vornamen bei der Führerscheinstelle zu erfragen. Ist doch hübsch.« Er grinst süffisant. »Ich bin Lars, willkommen im Team. Und bitte, lass dich nicht während meiner Arbeitszeit umbringen. Jetzt, wo wir per du sind.«

Er steht auf, sein Stuhl schabt laut über den Boden, und ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Hat er gerade »umbringen« gesagt? So als Mutter? Nachtschichten?

»Haha, Herr Baum ist ein ganz schöner Scherzbold.« Herr Helmke zaubert eine Bäckertüte aus seiner Schublade und überspielt die Situation mit einem Lachen. »Mohnschnecke?« Er hält mir die geöffnete Tüte entgegen. »Gleich am Montag werden Sie in alle Einzelheiten eingeweiht. Es gibt viel zu besprechen, auch was den Spagat zwischen dem Einsatz und ihrem bürgerlichen Leben angeht. Soweit ich weiß, ist das Moulin Rouge vormittags für exklusive Gelegenheiten buchbar, das ist das Besondere an Alex Herbigs Geschäftsmodell. Da können Sie sicher einen Deal bezüglich der Nachtarbeit aushandeln.«

Soll mich das beruhigen? Mit einer Handbewegung lehne ich die Mohnschnecken ab, die immer noch in ihrer Tüte vor meiner Nase baumeln. In diesem Moment fühle ich die leise Muskelüberdehnung in meinen Beinen, die ich der sportlichen Höchstleistung von vorhin zu verdanken habe. So ein Tanz kann ganz schön Kraft kosten.

Als Herr Helmke mich völlig zufrieden nach draußen begleitet und mir großväterlich seine Hand auf die Schulter legt, bin ich zunächst zuversichtlich, dass ich meinen Job im Dienste der Allgemeinheit meistern werde. Das ändert sich, als ich viel zu spät beim Kindergarten ankomme.

»Mieze, wo warst du?«, fragt mich Paps vorwurfsvoll, der Lou auf dem Arm hat und mir gerade aus dem Haupteingang entgegenkommt. Der Spielplatz ist verwaist, und wo sonst Kindergeschrei und Gelächter umherhallen, ist es sehr still. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf meine Armbanduhr, und mich trifft fast der Schlag.

»Verdammt«, stoße ich aus. »So spät schon?!« Das fängt ja gut an. »Ich war zu lange im Büro. Es ist etwas total Krasses passiert, Papa«, beginne ich, während ich ihm meine Tochter abnehme, wobei sie ihre Prinzessin-Lillifee-Tasche verliert und zu zappeln beginnt. Ich setze sie in den Fahrradsitz und schnalle sie fest. Lou zeigt auf den Boden und plärrt.

»Mama, meine Tasche! Sie wird ganz mutzig und muss dann in die Waschemine.« Ich setze ihr den kleinen, roten Helm auf und gebe ihr einen Kuss.

»Ich muss jetzt aber nicht regelmäßig als Notfallabholer herhalten, oder?«, fragt Paps skeptisch und klaubt die Tasche vom Boden. »Heute ist eigentlich Angeltag, das weißt du doch. Hier, kleine Maus, halt sie gut fest.« Er drückt Lou ihre Tasche in den Arm, die sie sofort an sich presst und sich freut.

»Nein, natürlich nicht«, beruhige ich meinen alten Herrn, der sich durch seine grauen Haare fährt, wie er es oft tut, wenn er unruhig ist. Seite an Seite setzen wir uns in Bewegung, ich schiebe mein Rad neben ihm her.

»Wie war denn dein erster Tag im Revier?«, erkundigt er sich jetzt beiläufig. »War Herbert freundlich zu dir?«

Uff. Wo soll ich bloß anfangen? »Also, ja, war er. Und ich bin schon befördert worden«, beginne ich. Papas buschige Augenbrauen hüpfen überrascht in die Höhe. Jetzt habe ich seine volle Aufmerksamkeit. Ich erzähle ihm jede Einzelheit meines Fettnäpfchen-Laufes und die anschließenden, durchaus verblüffenden Erfolge. Seine Augen werden immer größer. Schließlich bleibt er stehen.

»Moulin Rouge? Undercover? Das kommt ja gar nicht infrage!« Zeitgleich verdunkelt eine Wolke die Sonne und unterstreicht seine Fassungslosigkeit. »Das ist kein Kinderspiel, Mieze.«

»Weiß ich«, antworte ich. Die weichen Knie und der wilde Herzschlag beim Anblick von Alex Herbigs Knarre sind mir durchaus noch präsent. Genauso wie die dürftige Begeisterung meines Kollegen Baum, als Revierleiter Helmke mich offiziell ins Team aufnahm. »Ich muss nur ein bisschen tanzen und die Augen offenhalten«, sage ich kleinlaut.

»Mieze, ich habe lange im Milieu zu tun gehabt. Es ist eine raue Welt mit vielen Abgründen. Man wird schneller verschluckt, als du es für möglich hältst. Wie kommt dieser alte Dabbschädel bloß auf so eine Schnapsidee? Der kann sich warm anziehen!« Papa knurrt, was Lou ziemlich lustig findet.

»Opa ist ein Hu-hund, Opa ist ein Hu-hund«, teilt sie dem Umfeld singend mit. Dreistimmig, laut, falsch und mit Begeisterung.

»Der sollte dir lediglich einen netten Bürojob geben. Von mehr war nie die Rede!«

»Sag mal, Papa, du traust mir aber auch nicht ganz viel zu, oder?«, frage ich und zucke zusammen, als er sich zu mir umdreht und mich völlig unerwartet bei der Hand nimmt.

»Du sagst denen gleich morgen Früh, dass du da nicht mitmachst, Mieze. Ich meine das todernst!«

Lou unterbricht ihr Lied und blinzelt verwirrt. Ihre Antennen für miese Stimmung sind ultrafein, und sie beginnt zu quengeln. »Mamaaaaa, Hunger.« Na super!

»Ich weiß nicht. Ist es nicht wichtig, dass man etwas von sozialer Wichtigkeit tut, wenn man die Gelegenheit dazu hat?« Gut, das sind große Worte, und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie genau ich im Stringtanga die Welt retten soll … Papa läuft rot an, und ich mache mir augenblicklich Sorgen um seinen Gesundheitszustand. »Ich meine, warum hast du dich damals dazu entschieden, zur Polizei zu gehen?«, frage ich versöhnlich und drücke aufmunternd seine Hand. Er lässt mich los.

»Mieze, das kannst du nicht vergleichen. Ich habe eine Ausbildung. Nahkampf, Selbstverteidigung, Waffenkunde – und was hast du?«

»Mich selbst verteidigen kann ich auch.« Ich schiebe trotzig die Unterlippe vor. Hab ich von Lou, sieht super aus!

»Jemanden mit Deo zu besprühen ist keine Selbstverteidigung, du Grummbeere«, erinnert mich Paps an einen Vorfall aus meiner Jugend, als ich einen Jungen aus meiner Klasse auf Abstand gehalten habe, indem ich ihm eine Ladung Fa ins Gesicht sprühte.

»Hat aber funktioniert.« Immerhin ließ der Typ von mir ab. Und musste sogar zum Arzt. »Müssen wir nicht alle unseren Teil dazu beitragen, dass unsere Welt jeden Tag ein bisschen besser wird?«

»Meine liebe Tochter, du solltest dich darauf konzentrieren, Lou zu einem gesunden und verantwortungsvollen Menschen zu erziehen. Für eine bessere Welt musst du dir keine Kugel fangen.«

»Ich tanz doch nur ein bisschen«, wiederhole ich mich wenig geistreich.

Es beginnt zu regnen.

»Mieze, sei nicht so stur.«

»Ich bin nicht stur, ich bin meinungsstabil«, antworte ich und fühle mich, als wäre ich wieder zehn Jahre alt. Damals wollte ich unbedingt Fußball spielen und Paps schenkte mir ein Ballettkleidchen zum Geburtstag.

»So ein Undercover-Einsatz ist nicht nur gefährlich, er ist auch unvereinbar mit einer Familie. Keiner darf davon erfahren. Du müsstest deine Freunde belügen und, was noch schlimmer ist, du müsstest Fabian belügen. Und Mama auf jeden Fall auch – wenn die das wüsste …!«

»Ist ja nur vorübergehend«, sage ich schwach und fühle mich bei dem Gedanken wirklich nicht wohl. Lügen hatte ich noch nie drauf – wenn der eigene Vater ein Bulle ist und einen mit miesen Verhörtaktiken bei jeder noch so kleinen Flunkerei in Widersprüche verwickelt, geht das eigene Selbstbewusstsein für Münchhausengeschichten unweigerlich zugrunde. Mein Problem ist ja gerade, dass ich immer die Wahrheit sage. Statt lang nicht gesehene Freundinnen mit »Wow, hast du abgenommen?« zu begrüßen, frage ich: »Wow, in welchem Monat bist du?«, nur um dann zu erfahren, dass die Gute gar nicht schwanger ist.

»Du wirst meinem lieben Freund Herbert sagen, dass du im Büro bleibst – wie es dein Arbeitsvertrag vorsieht. Sonst kann er seine Stelle neu besetzen«, befiehlt mein Vater und zieht sich seinen Mantelkragen höher. Der Regen ringelt sich jetzt in Bindfäden vom Himmel, die Lou mit ihren Fingerchen aufzufangen versucht. Unsere Straße kommt in Sicht, und ich muss abbiegen, ohne meinen Paps weitergehen und meine Gedanken sortieren, während Lou ein neues Lied singt: laut, schief und mit Begeisterung.

Am Samstagmorgen beim Mama-Frühstück bin ich mit den Gedanken ganz woanders.

»Du siehst auch aus, als könntest du eher eine Margherita gebrauchen und keinen Kaffee«, stellt die Gastgeberin plötzlich in meine Richtung fest. »Ganz ehrlich, ich selbst bin zur Zeit so durch mit den Nerven, ich könnte mir schon morgens eine genehmigen.«

»Du hast recht. Vielleicht sollten wir alle mal wieder ausgehen«, schlägt Jasmin vor, während sie sich ein Vollkornbrötchen aufschneidet. »Mal so einen richtigen Cocktailabend machen und tanzen gehen.«

Charlotte gähnt demonstrativ. »Und wo wollt ihr den Elan dafür hernehmen? Ich bin abends total fertig.« Mir fallen ihre tiefen Augenringe auf, und ich möchte ihr meinen Concealer anbieten, besinne mich aber gerade noch rechtzeitig, weil ich weiß, wie empfindlich sie auf so eine Geste reagieren kann – ein diplomatisches Abendessen mit dem nordkoreanischen Staatspräsidenten ist easy dagegen. »Ich weiß einfach nicht, was gerade mit Emil los ist. Er schläft keine Nacht mehr durch, und selbst mit der Brust lässt er sich nicht beruhigen.« Charlotte seufzt. »Letztens hat er mich sogar gebissen.«

»Vielleicht solltest du endlich abstillen«, meint Ilka spitz, die gar nicht oft genug betonen kann, wie bescheuert sie Langzeitstillen findet.

Charlotte zieht beleidigt ihre kleine Nase kraus und gießt sich Kaffee nach. »Das Thema hatten wir doch schon. Wir können ja mal eruieren, ob deine Tochter vielleicht weniger krank wäre, wenn du überhaupt gestillt hättest.«

Oh, oh.

»Das ist so unfair. Es war keine Entscheidung, Lotta nicht zu stillen, das weißt du genau. Es ging einfach nicht.« Der Kaffee in Charlottes Tasse läuft über und färbt die gebleichte Tischdecke braun. »Aber ja, du hast recht, ich finde, dass es vollkommen ausreicht, maximal ein Jahr zu stillen«, fährt Ilka fort.

»Warum? Weil meine Brüste sexualisiert werden durch Medien und Werbung? Weil wir kein Naturvolk sind?« Charlotte greift ihre Serviette und fängt an, die dunkle Flüssigkeit aufzutupfen. Jasmin hilft ihr wortlos und tauscht einen langen Blick mit mir. Mein Mundwinkel zuckt. Dass es beinahe bei jedem Treffen zu diesem Wortgefecht kommt, ist schon witzig. Oder vielleicht auch traurig.

»Außerdem gibt es mittlerweile Studien, die besagen, dass lang gestillte Kinder weniger anfällig für Darm- und frühkindliche Krebserkrankungen sind«, betont Charlotte – wie schon eine Woche zuvor, und davor, und davor. Gott bin ich froh, dass ich wenigstens bis zum achten Monat gestillt habe, sodass ich mich bei dieser Debatte zurücklehnen kann.

Plötzlich wird es laut im Flur. »Nein, is will das nicht«, kreischt Lou. Es folgt ein Rumpeln. Wir Mütter halten alle gleichzeitig die Luft an, bis gleich darauf schrilles Geheule einsetzt.

Jasmin ist zuerst am Tatort und hebt ihren vierjährigen Luis auf den Arm, der aus voller Kehle brüllt. Die beiden Dreijährigen, Lou und Lotta, stehen unbeteiligt im Türrahmen des Kinderzimmers. Etwas an ihrem Anblick stört mich. Sie tragen seltsamen Ohrschmuck. Bei genauerer Betrachtung erkenne ich ihn als bemalte Tampons. Totschick.

»Lotta, ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst nicht an Mamas Sachen gehen«, schimpft Ilka und verlangt ihre Hygieneartikel zurück.

»Und was habt ihr beide mit Luis gemacht?«, will Jasmin wissen. Ihr Bäribär, wie sie ihn nennt, reibt sein Gesicht an ihrer Bluse und hinterlässt einen eleganten Rotzstreifen.

»Er wollt mir was wegnehm«, antwortet Lou und sieht dabei entzückend unschuldig aus. »Is hab nur die Tür zugemacht.« Allem Anschein nach war Luis’ Finger langsamer als der Rest seines Körpers …

»Ach, Süße. Da musst du doch aufpassen. Jetzt hast du deinem Freund ganz schön wehgetan«, sage ich und gehe vor ihr in die Knie. Zur Bestätigung holt Luis noch mal tief Luft und kreischt, und ich stöhne mit, weil mich der Muskelkater in den Oberschenkeln gerade umbringt. »Entschuldigst du dich bitte?«, schlage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen vor. Lou schaut zu Boden.

»Nein«, antwortet sie knapp. Was frage ich auch? Da ich jedoch Jasmins bissig-erwartungsvollen Blick im Nacken spüre, setze ich nach: »Warum denn nicht? Das ist aber nicht nett von dir.«

»Luis hat mis gehänselt«, erklärt Lou und sieht jetzt wütend zu dem weinenden Jungen, der oft genug selbst rabiat mit den beiden Mädchen umspringt, weshalb sich mein Mitleid in gesunden Grenzen hält. Ich ziehe Lou zu mir heran, und sie legt ihre Ärmchen um meinen Hals und nickt. Wenn ich nicht bald aufstehe, bin ich es, die als nächstes schreit.

»Aber das ist kein Grund, ihm wehzutun«, mahne ich meine Tochter, ganz zur Zufriedenheit der anderen Mütter. Lou nickt kräftig, was den blau gepunkteten Tamponschmuck an ihren Ohren lustig wackeln lässt, und krakeelt eine Entschuldigung in Luis’ Richtung. Der zweijährige Emil sitzt derweil auf seinem Windelhintern und schaukelt von einer Seite zur anderen, hoch erfreut über den ganzen Trubel.

Ein Pflaster (hilft gegen alles!) und zwei Kühlakkus später sitzen wir wieder am Tisch und Ilka schneidet Gurken- und Tomatenhäppchen für die Kids. »Was Mütter an Kernkompetenzen mitbringen müssen – das schreibe ich alles in meinen Lebenslauf«, lässt sie uns wissen. »Sowas wie Kommunikationsfähigkeit, Initiative, Führungsfähigkeit, Entscheidungsstärke, Einsatzbereitschaft, Problemlösungsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft lernt man schließlich nicht an der Uni.«

»Du hast ja so recht«, stimmt Jasmin ihr zu, während sie Luis auf ihrem Schoß hin und her wiegt. Er hat noch Tränen im Wimpernkranz und kaut missmutig an einer Gurkenscheibe.

Ilka fährt fort: »Und die ganzen Entscheidungen, die man treffen muss: welche Windel, welche Nahrung, welchen Arzt. Homöopathie oder andere Naturheilverfahren …«

Charlotte unterbricht sie: »Oder Schulmedizin.«

Ilka rümpft die Nase, bleibt aber stumm. Schade, ich hatte schon überlegt, ob ich mir einen Zettel holen und Bullshit-Bingo spielen soll, denn die Diskussion Globuli versus Ibuprofen führen die beiden mindestens so oft wie die ums Stillen.

»Impfen – ja oder nein?«, zählt Charlotte auf. »Und mit jeder gewählten Entscheidung müssen wir ja auch leben können. Wir leisten so viel. Wir sind Haushälterinnen, Erzieherinnen, Köchinnen, Lehrerinnen …«

»Krankenschwestern«, ergänze ich und schiele zu Luis Finger hinüber, den ein rosa Prinzessinnenpflaster ziert. Weil Jasmin ihre Piratenpflaster für abenteuerlustige Jungs zu Hause vergessen hat, musste sie mit einem aus Mädchen-Mama-Ilkas Vorrat vorliebnehmen, was ihren Sohn weniger zu stören schien als sie selbst.

»Das wären schon fünf Berufsgruppen, und mir fallen noch etliche ein«, sagt Jasmin, während sie den Kopf einzieht, weil Luis gerade versucht, ihr ein hartgekochtes Ei ans Hirn zu donnern. »Es ist erstaunlich, was wir alles schaffen. Und das allzeit bereit. Nachtschichten, Überstunden, Doppelschichten.«

»Wer das schafft, kann auch arbeiten gehen«, überlege ich. Und womöglich auch die Welt retten – mit ein bisschen Pole-Dancing, ein wenig Schauspielerei und Agatha-Christi-Manier. Mit akrobatischen Höchstleistungen zwischen dem Privatleben und dem Dasein einer Geheimagentin. Mein Magen kribbelt vor Aufregung. Denn mein Name ist Moll. Mieze Moll.

»Apropos neuer Job: Wie gefällt’s dir im Kommissariat?«, wirft Ilka völlig unvermittelt ein, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Gleichzeitig fängt sie ihre Tochter Lotta ab, die lachend um den Tisch läuft. »Sag mal, musst du mal auf Toilette, Prinzessin?«

»Nee, Mama. Mein Popo ist leer«, antwortet die.

Dafür ruft Lou: »Maaaamaaaa, is muss mal!« Sofort stehe ich auf. Wir sind ja noch nicht so lange im Club der Trockenen, also muss der Toilettengang schnell gehen. »Ist ganz okay«, antworte ich Ilka, »hauptsächlich Schreibkram.« Ich will Lou gerade an die Hand nehmen und zum Klo begleiten, da bemerke ich die Pfütze, die sich unter ihren Füßen bildet.

»Oh, oh«, sagt sie beschämt und blinzelt mich an.

»Ach, Süße. Du sollst doch früher Bescheid sagen.« Behutsam schiebe ich meine Hände unter ihre Achseln und schaue entschuldigend zu Ilka.

»Das ist gar kein Problem, das kennen wir. Unser Fußboden ist aus PVC, der kommt mit sowas klar.«

Beruhigt trage ich das tropfende Kind ins Bad. Hinter mir beginnt Ilka routiniert aufzufeudeln.

»Is wollte ja pipimachen gehen, nur später«, entschuldigt sich Lou.

»Ist ja nicht so schlimm.« Ich stelle sie in Ilkas Badewanne. »Aber das war viel zu spät.«

»Is hatte keine Zeit. Is wollt gerne die Welt sehen«, erklärt meine Tochter mit der Ernsthaftigkeit einer Dreijährigen, während ich sie aus den nassen Sachen pelle.

»Das nächste Mal gehst du aber trotzdem gleich auf die Toilette. Sonst muss ich dir wieder eine Windel ummachen«, warne ich sie, und sie zuckt mit den Schultern.

»Na gut. Dann Windel.«

»Oh, Lou. Du bist doch aber ein großes Mädchen, oder?«

Sie jauchzt, weil ich das Wasser anstelle und es an ihren Beinen entlangläuft. Ilka bringt mir ein Handtuch und Ersatzkleidung von Lotta. Lou sieht mich an, legt ihre nassen Hände an meine Wangen und guckt mir ins Gesicht. Sie ist so süß dabei, dass mein Herz ganz weich wird.

»Mama, du hast sagt, wenn is groß bin, krieg is ein Haustier.« Shit. Ich erinnere mich an dieses ganz dumme Versprechen, das ich ihr gab, damit sie wie ein großes Kind in den Kindergarten geht.

»Aber du hast doch Eichi«, versuche ich, mich aus der selbstgestellten Falle zu befreien. Eichi ist das Eichhörnchen, das in der Buche hinter unserem Haus lebt und von dem Lou bislang nie genug kriegen konnte, wenn es auf der Wiese saß und Eicheln knabberte.

»Nein, das ist doof. Is will ein Meah-Schweinschen!«, fordert sie stattdessen.

»Da müssen wir in Ruhe mit Papa reden, ja, Mäuschen?« Mit etwas Glück gelingt es mir, Fabian den Schwarzen Peter zuzuspielen, denn er ist kein großer Haustierfreund. Lou sieht nachdenklich aus. »Und du musst wie ein großes Mädchen auf die Toilette gehen.« Sie gibt mir ihr Wort.

Am Müttertisch zurück platze ich gerade in eine hitzige Unterhaltung zwischen Charlotte und Jasmin.

»Unser Vorort geht langsam, aber sicher den Bach runter«, sagt Charlotte. »Der moralische Verfall ist allgegenwärtig, und wenn wir nicht alle gemeinsam etwas dagegen unternehmen, dann können unsere Kids ihre Kinder hier nicht mehr großziehen.« Energisch packt sie ihren Busen aus. Emil wird ganz unruhig, als die Milchbar öffnet, und schmiegt sich fest an seine Mama. »Den Jungen von Richters haben sie jetzt auch mit Drogen erwischt.«

»Ist der nicht erst 15?«, fragt Ilka, während sie demonstrativ in eine andere Richtung schaut.

»Das ist ja das Erschreckende daran. Als nächstes verkaufen diese Teenager das Zeug auf dem Schulhof, um ihr Taschengeld aufzubessern.«

Von Emil angesteckt hüpft Lou auf meinen Schoß und kuschelt sich an mich. Ich umarme sie und schaue in ihr kleines Gesicht.

»Mami?«, fragt sie.

»Ja, mein Schatz?«

»Is hab dis lieb.«

»Ich dich noch viel mehr«, antworte ich und gebe ihr einen dicken Kuss. Sie lacht. Ihre Augen leuchten, während sie sich eine Tomate angelt und in den Mund schiebt. In diesem Moment beschließe ich drei Dinge: Ich werde den Spagat zwischen Muttersein und Beruf schaffen, ganz nebenbei werde ich Köln, oder zumindest unseren schönen Vorort, besser machen, und Lou werde ich ein Meerschweinchen kaufen.

Prolog

Wer macht denn sowas?

»Ist ja gut, mein Süßer, alles wird gut.«Gabrieles Worte klingen leise und beruhigend, ihre gummibehandschuhten Finger streichen rhythmisch über das kurze schwarze Fell, kraulen das Dreieck hinter dem linken Ohr. »Bald hast du es hinter dir.«

»Er kann Sie nicht hören.«

Manchmal fragt sich Gabriele, wie ein Mensch, der so gut in seinem Beruf ist, gleichzeitig so schlecht im Umgang mit Menschen sein kann.

»Sprechen Sie mit ihm, wenn er aufwacht.« Dr. Wilhelm nickt Silke zu, die ihm den Schweiß aus dem Gesicht wischt. Ihre Kollegin mochte er schon immer lieber als sie, das weiß Gabriele. Obwohl sie besser mit Tieren kann. Vermutlich hat es gar nichts mit ihr zu tun, sondern ist so ein grundsätzliches Typending. »So, jetzt haben wir’s gleich. Schauen wir mal, was den Obstruktionsileus verursacht hat. Tupfer.«

Silke tupft, während Gabriele weiterkrault. Auch wenn der Hund sie nicht hören kann, so spürt er doch, dass jemand bei ihm ist, dessen ist sich die Tierarzthelferin sicher. Außerdem hat sie dem aufgelösten Frauchen versprochen, ihrem Liebling nicht von der Seite zu weichen.

»Bei Dr. Wilhelm ist er in guten Händen«, hatte sie der jungen Frau, kaum älter als zwanzig, versichert. »So einen Darmverschluss haben wir öfter mal.«

»Kann ich nicht bei ihm bleiben? Bitte!« Die Frau – wie heißt sie noch mal? Gabriele ist schlecht mit Namen, was nicht gut ist in einer Praxis, aber es ging halt alles so schnell – die Frau fasste Gabrieles Hände und blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Bitte, ich kann ihn nicht allein lassen, bitte!« Neue Tränen rannen ihr über die Wangen, und sie schluchzte laut auf. »Das habe ich doch nicht gewollt, bitte, bitte, Sie müssen ihn retten! Ich werde ihn nie wieder unbeaufsichtigt lassen, nie wieder! Bitte …«

»Sie dürfen nicht mit in den OP.« Mit sanfter Gewalt zog Gabriele das Frauchen von dem Labrador weg und bugsierte es durch den Flur zum Aufwachraum. »Sie können hier warten«, bot sie der Frau an. »Hier ist es ruhiger. Ich werde bei Ihrem Hund bleiben, versprochen. Setzen Sie sich, meine Kollegin bringt Ihnen einen Tee.«

Die Frau war auf dem Stuhl zusammengesackt, kaum dass sie die Sitzfläche berührte, hatte das Gesicht in den Händen verborgen und geweint, dass die Schultern bebten.

Armes Ding, hatte Gabriele gedacht, bevor sie in den OP-Saal eilte, um ihr Versprechen einzulösen. Als sie eintraf, hatte Silke den Hund bereits intubiert, während Dr. Wilhelm über den Ultraschallbildern brütete.

»Dass die Leute nicht aufpassen können, was ihre Hunde fressen«, brummte er vor sich hin. »Und wenn’s dann schiefgeht, ja, dann ist der Katzenjammer groß. Und was sie dann nicht alles versprechen …«

»Das Frauchen wusste nicht, was es sein könnte?«, erkundigte sich Silke.

Dr. Wilhelm schüttelte den Kopf. »Nein. Mit der war ja kaum zu reden, so aufgelöst wie die war. Vielleicht war’s eine von diesen Kaffeekapseln, das würde die Symptome erklären, von denen sie faselte.«

Schwester Gabriele erinnerte sich: Wie ein Wahnsinniger sei das Tier durch die Wohnung getobt, hatte das Frauchen zwischen heftigen Schluchzern gestammelt, nachdem sie mit dem zitternden Hund auf dem Arm in die Praxis gestürzt war – eine schier unmögliche Leistung für die zierliche Frau. Irgendwann habe sich das Tier im Wohnzimmer erbrochen und sei schließlich winselnd zusammengesackt.

»Na, was haben wir denn da?« Dr. Wilhelms grüne Finger halten ein kleines Tütchen in die Höhe, das er aus dem Darm des Hundes entfernt hat. »Sieht mir nicht nach einem Kaffeepad aus.«

Silke hält ein Tablett hin, auf das Dr. Wilhelm das Tütchen fallen lässt. Er beugt sich wieder über den Hund, vergräbt seine Finger in der blutigen OP-Wunde und fördert ein weiteres zu Tage. Und noch eines. Aus dem vierten rieselt kristallines Pulver heraus.

»Wer macht denn sowas?«, entfährt es Silke, und beinahe kippt ihr das Tablett aus den Händen.

»Gabriele, schauen Sie nach dem Frauchen und sorgen Sie dafür, dass sie im Aufwachraum bleibt.« Dr. Wilhelm atmet scharf ein. »Und dann verständigen Sie die Polizei.«

In diesem Moment springt das Alarmsignal des EKG-Geräts an und Dr. Wilhelm ruft: »Scheiße!«

4

Der Personaleingang zur Hölle

Das Wochenende, bestehend aus einem Schwimmbadbesuch mit Lou, einem romantischen Essen mit Fabian, der ganz schön viele misstrauische Fragen zu meinem neuen Job hatte (»Wie lang musst du denn da täglich hin? Schaffst du es rechtzeitig in den Kindergarten? Und wieso kann es vorkommen, dass du auch mal abends hin musst – ich denke, das ist ein Bürojob?!«), und einem Sandförmchenunfall, bei dem Lou einem Jungen fast einen Milchzahn ausgehauen hätte, ist super schnell vorbei. Nun sitze ich im Büro und habe Bienen im Bauch, während mir die Kollegen die Einzelheiten des Falls vorsetzen.

»Und sowas passiert hier?«, frage ich ungläubig. »In diesem friedlichen Vorort?« Ich kann es nicht fassen, dass ein unschuldiger Vierbeiner sein Leben lassen musste. Gar nicht auszudenken, wenn es ein Kind getroffen hätte!

»Die Zahl der Meth-Konsumenten in Köln steigt stetig an, in letzter Zeit auffällig gerade hier im Umkreis«, erklärt mir Herr Legert. »Das lässt vermuten, dass jemand eine Drogenküche betreibt.«

»Also führt die Spur des vergifteten Labradors im Grunde genau dort hin«, überlege ich. Oder wie sollte ein Hund sonst an zehn kleine Päckchen Meth kommen?

»Zunächst führt sie ins Moulin Rouge.« Lars steht von seinem Stuhl auf und pikt mit seinem Daumen gegen das Diagramm auf einer Tafel, an der Täterprofile, Hinweise und Erkenntnisse angepinnt sind. Ich verfolge die Linien, die von verschiedenen Fotos ausgehen und sich bei der Tabledancebar treffen. »Der Hund gehört dieser Irina Kaminski, nach der du schon recherchiert hast. Sie brachte den Labrador am späten Nachmittag in die Vorstadt-Tierklinik und verschwand dann ganz plötzlich, noch bevor sie über das Ableben ihres Haustieres informiert werden konnte. Niemand will sie beim Verlassen der Praxis gesehen haben. Und sie ist bis heute unauffindbar.«

Ich leide für einen Augenblick mit dem armen Hund mit. Paps’ Schwester, meine Tante Käthe, besitzt auch einen Labrador, und dieses Exemplar frisst wirklich alles, was ihm vor die Futterluke kommt. Meist sogar, ohne zu kauen.

»Die Kaminski hat zuletzt als Tänzerin bei Alex Herbig gearbeitet«, sagt Herr Helmke.

»Heißt das … hab ich etwa …?« Ich sehe von einem zum anderen, und noch bevor ich die Frage zu Ende gestellt habe, nickt der Revierleiter. »Frau Kaminskis Job?«

»So ist es, Frau Moll«, sagt Herr Helmke mit einem gewissen Hurra im Gesicht, und die Bienen in meinem Magen stechen einmal kräftig zu.

»Es gilt jetzt herauszufinden, wer in Verbindung zu Irina Kaminski stand. Mit wem hat sie privat verkehrt? Mit wem wurde sie zuletzt gesehen? Wusste sie von den Drogen, oder ist sie nur zufällig zwischen die Fronten geraten? Wo steckt sie überhaupt, und ist sie möglicherweise in Gefahr?« Lars spult die Fragen ab wie das kleine Einmaleins.

»Wie lange ist sie denn schon verschwunden?«, frage ich und betrachte ihr Foto, das im Zentrum der Tafel klebt. Diese Melancholie in Irina Kaminskis Blick, die mir schon zuvor aufgefallen war, lässt mich alle Gedanken an den unschuldigen und sehr toten Hund mit Überdosis vergessen und auch Papas Forderung, nämlich meinen Undercover-Einsatz abzusagen, in den Wind schießen. Da ist jemand, der Hilfe braucht, und ich kann helfen. Da bin ich mir sicher.

»Etwa zwei Wochen«, höre ich Herrn Helmke sagen, und die gute Laune in seiner Stimme ist augenblicklich weggewischt.

»Und Sie sind sicher, dass sie nicht wusste, dass ihr Hund verstorben ist?«, will ich wissen. Ich meine, die meisten Hundebesitzer lieben sie fast so sehr, wenn nicht genauso, wie ich meine Lou. Und nie, niemals würde ich Lou aus freien Stücken verlassen, wenn ich wüsste, dass sie um ihr Leben kämpft. No chance!

»Laut der Tierarztpraxis verschwand Frau Kaminski, bevor man ihr die Nachricht überbringen konnte. Sie saß im Aufwachraum, als der Labrador in Narkose gelegt wurde, war aber nicht mehr dort, als der operierende Arzt etwa 15 Minuten später die Überraschung im Inneren des Hundes fand.«

»Also wurde die Frau entführt«, schlussfolgere ich.

»Nicht unbedingt«, antwortet Lars und hängt ein weiteres Foto an die Pinnwand. Es zeigt Chantal, die junge und ziemlich bissige Tänzerin, mit der ich im Moulin Rouge Bekanntschaft gemacht habe. Was hat sie denn damit zu tun? »Vielleicht steckt sie auch selbst mit drin. Und die hier ebenfalls.« Wieder bohrt Lars seinen Finger in die Tafel. »Ich werde meinen Einsatz als Boris Schulze fortführen und dich, so gut es geht, im Auge behalten, wenn du im Moulin Rouge unterwegs bist«, sagt er an mich gewandt. »Wir werden eng zusammenarbeiten müssen, um nicht aufzufliegen. Ich erwarte daher, dass du während der nächsten Zeit immer für mich erreichbar bist – Tag und Nacht. Und dass du keine Alleingänge unternimmst, klar?«

»Das versteht sich von selbst«, erwidere ich etwas eingeschnappt. Was glaubt er denn, wie blöd ich bin? »Ich bin ja nicht lebensmüde.« Natürlich werde ich mich nicht unnötig in Gefahr bringen – schon vergessen, ich bin Mutter! Aber wie steht’s wohl mit dir, mein lieber Lars? Hast du irgendeine Bindung, Frau, Freundin, Schwiegermutter oder wenigstens einen Goldfisch?

In den nächsten Stunden kriege ich einen Crashkurs in Undercover-Einsätzen und lerne die Basics der verdeckten Ermittlungen: nie direkt vom Einsatzort nach Hause fahren – kein Problem, nach Feierabend im Moulin Rouge muss ich eh erst mal Lou im Kindergarten abholen. Keine privaten Gegenstände dabeihaben – na gut, aber auf das Handy werde ich nicht verzichten können, oder soll ich meinem Mann vielleicht sagen: »Schatz, in nächster Zeit musst du für den Kindergarten erreichbar sein, falls Lou sich mal übergibt oder so. Ich kann leider nicht, ich muss ein paar Geschäftsmänner mit meinem Hintern begeistern!«

Ich sehe schon, ich brauche dringend eine Liste mit Undercover-Ausreden …

Am Nachmittag ist Babyschwimmen angesagt. Oder besser: Kleinkindschwimmen mit gelegentlichen Poolnudel-Unfällen. Während Lou strampelt, was das Zeug hält, denke ich immer noch darüber nach, wie ich Fabian seine neue Rufbereitschaft glaubwürdig unterjubeln könnte. Ob er mir abnimmt, wenn ich behaupte, dass ich während der Dienstzeit keine Privatgespräche führen darf?

»Die werden dir ja wohl kaum verbieten, mit dem Kindergarten zu telefonieren, wenn es unserer Tochter schlecht geht«, höre ich meinen Mann in meinem Kopf schon sagen. »Du arbeitest doch für die Polizei, deinem Freund und Helfer. Was ist mit diesem Helmke? Ich dachte, der ist ein Freund von deinem Vater.«

Neben mir schreit Luis wie am Spieß, weil Jasmin es gewagt hat, ihn loszulassen, und er panische Angst vorm Wasser hat.

»Toll machst du das, Mäuschen«, lobe ich Lou, als sie ein ganzes Stück mit Poolnudel allein schwimmt, was Jasmin halb bewundernd, halb beleidigt zur Kenntnis nimmt.

Bis mir eine glaubwürdige Ausrede eingefallen ist, werde ich mein Handy einfach mit ins Moulin Rouge nehmen, beschließe ich. Was soll schon passieren?

»Mama, darf is Pipi ins Wasser machen? Papa sagt, is darf.«

»Nein, Schatz, wir machen das anders. Komm, wir gehen zu den Toiletten.« Ich greife nach Lous Hand und schnappe Jasmins Blick auf.

»Das Problem kenne ich«, meint sie jetzt mittleidig und nimmt Luis auf den Arm, während sie sich auf dem Rücken ins Wasser legt. Luis sieht wenig begeistert aus.

»Manchmal frage ich mich, ob Männer genetisch immer noch einen gewissen Drang verspüren, Reviere zu markieren. Vielleicht ist das so in ihnen verankert, dass sie deshalb keinerlei Scheu verspüren, überall freizupinkeln.«

»Interessante Theorie«, gebe ich zu, muss mich aber doch fragen, was Jasmin dazu veranlasst, Männer immer noch als Neandertaler zu sehen. Während ich Lou aus dem Wasser helfe, geht mir ein Gedanke nicht mehr als dem Kopf: Ein Hund hat doch auch sein Revier, nämlich dort, wo er täglich Gassi geführt wird. Kann es nicht also sein, dass jemand im Umfeld des Labradors etwas beobachtet hat, das uns in unserem Fall weiterhilft? Wahrscheinlich haben die Kollegen das schon abgecheckt, aber ein bisschen Eigeninitiative schadet sicher nichts, oder?

Nach dem Schwimmen erkläre ich Lou, dass ich noch ganz dringend etwas Besonderes einkaufen muss und wir deshalb heute einen Umweg nach Hause nehmen. Du bist großartig, lobe ich mich selbst (tut ja sonst keiner!) dafür, dass ich mir die recherchierte Adresse der Vermissten gleich mal auf GoogleMaps angeschaut habe. So weiß ich, dass Irina Kaminski gar nicht so weit von uns entfernt lebt. Unterwegs spreche ich jeden Hundehalter an, der mir in Irinas Wohnumgebung entgegenkommt. Lou verliebt sich umgehend in eine französische Bulldogge namens Napoleon und will sie gar nicht mehr verlassen. Neben unwichtigen Informationen, dass Irina eine Einzelgängerin sei, nie mit anderen Hundebesitzern Unterhaltungen führe und ihren Müll nicht richtig trenne, erfahre ich, was der Schmerz einer Dreijährigen so kostet, weil sie keinen Napoleon haben darf: ein halbes Vermögen für die Anschaffung eines Meerschweinchens namens Rosi nebst Stall, Häuschen – natürlich in Pink –, und einem Futtervorrat für mindestens zwei Monate. So viel zum Thema Da müssen wir in Ruhe mit Papa reden … Einen Vorteil hat das Ganze: Lou glaubt, dass wir deshalb den Umweg gehen mussten, weil ich schon die ganze Zeit vorhatte, ihr die Meersau zu kaufen, und so bin ich für den Rest des Tages die beste Mama der Welt.

Lou ist selig, als sie Rosi das erste Mal auf den Arm nimmt. Und, was soll ich sagen, als ich beobachte, wie zärtlich und fürsorglich meine Dreijährige ist, bin ich der festen Überzeugung, dass jedes Kind ein Haustier braucht. So früh wie möglich. Wir hatten früher eine Katze namens Tatze, die ihrem Namen alle Ehre machte, wenn sie sich zu sehr bedrängt fühlte. Das lehrt einen eine Menge, nämlich den Raum, den ein Lebewesen braucht, zu akzeptieren und sich in Distanz zu üben.

Zu Hause angekommen lasse ich Lou und ihre Rosi allein und bereite das Abendessen vor: selbstgemachte Low-Carb-Tomatensuppe, um das ein oder andere überflüssige Pfund zu verlieren. Schließlich muss ich mich ja jetzt präsentieren, und das mehr, als ich je gedacht hätte. Schade eigentlich, dass ich das niemandem zeigen darf, der mich kennt.

»Hallo, Mieze, was kochst du denn Schönes?«, fragt Fabian, als er nach Hause kommt. Er legt seine Arme um meine Mitte, während ich im Topf rühre.

»Ein Liebessüppchen«, scherze ich, während ich Ingwer schnipple und großzügig in der Suppe versenke.

»Das hört sich gut an«, raunt Fabian nahe an meinem Hals und küsst die empfindliche Stelle unterhalb des Ohres. In mir schwirren Schmetterlinge empor. Zwei Herzschläge später liege ich in seinen Armen und küsse ihn. Er presst mich an sich, während er den Kuss erwidert. Heiß!, denke ich und freue mich darüber, dass wir uns nach all der Zeit immer noch dermaßen anziehen. Und dann zischt es auf dem Herd, weil das Essen überkocht. Zeitgleich kommt Lou aus ihrem Kinderzimmer und hält Fabian die kleine hellbraune Meersau entgegen.

»Guck mal, was is habe«, sagt sie stolz, und Fabian lässt mich so abrupt los, dass ich ein Schleudertrauma erleide.

»Michaela?«, sagt er vorwurfsvoll und betrachtet unsere neue Mitbewohnerin mit einer gehörigen Portion Ekel, als hätte ich Lou eine Vogelspinne und kein niedliches Säugetier gekauft. »Ich dachte, wir waren uns einig, dass wir keine Haustiere wollen.« Tja, waren wir ja auch. Bis heute.

»Papa, Rosi spricht«, sagt Lou und lässt das Meerschweinchen quieken, indem sie einmal feste zudrückt.

»Lou! Das darfst du nicht.« Erschrocken nehme ich ihr das zitternde Tier ab. »Ich habe dir gesagt, dass du ganz vorsichtig mit ihr sein musst.« Das kleine Ding versteckt seinen Kopf in meiner Armbeuge, für einen Tag hat sie definitiv genug Liebe erfahren.

»Na gut«, erklärt Lou betroffen und haucht dem Tier einen Kuss auf den Rücken. Wir beschließen, dass es sich im Käfig ausruhen soll, solange wir essen. Fröhlich summend verteile ich Suppe und werfe Fabian dabei schmachtende Blicke zu … Vergeblich – er ignoriert mich einfach.

»Michaela, du weißt, ich liebe dich. Aber sowas geht gar nicht«, sagt er schließlich, als ich meine Besänftigungsversuche aufgebe, mich setze und nach dem Löffel greife. Lou zappelt unruhig auf ihrem Kinderstuhl herum und zieht an der Tischdecke, was die Suppe bedrohlich an den Rand der Schüsseln schwappen lässt.

»Lou, sitz bitte still«, mahne ich und reiche ihr ein Stück Brot, damit sie etwas zu knabbern hat, solange die Suppe abkühlt. »Ach, komm schon, es ist doch nur ein Meerschweinchen und kein Hund. Und ich brauchte eine Ablenkung … also Belohnung.« Das fängt ja gut an, mit dem Verplappern. Und sogleich kreisen meine Gedanken um meinen ersten Termin im Moulin Rouge.

Während ich die Tomaten für die Suppe geschnitten habe, habe ich parallel mit Alex telefoniert (ja, vom privaten Smartphone aus …), um ihm mitzuteilen, dass ich für Nachtschichten nicht zur Verfügung stehe. Ich habe damit gerechnet, dass er mich gleich feuern würde, doch stattdessen bestand er darauf, geduzt zu werden, und erklärte außerdem: »Das trifft sich, Puppe, ich hab dich eh für die besonderen Geschäftstreffen vorgesehen.« Was auch immer das heißen mag.

»Is will nich«, mault Lou und schiebt ihr Brot über den Tisch. »Is will zu Rosi.« Fabian wirft mir einen vielsagenden Blick zu, der so viel bedeutet wie: selbstgemachte Leiden.

»Jetzt wird erst gegessen. Die Tomatensuppe ist sehr lecker, Mäuschen«, sage ich mit der Überzeugungskraft eines Motivationsgurus und stelle ihr die abgekühlte Suppe hin.

Sie probiert, verzieht ihr Gesicht und verkündet: »Mama, du bist eine schlechte Küchnerin.« Na toll!

Leider muss ich feststellen, dass sie recht hat. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, ein bisschen Stolz muss schließlich sein, doch der Ingwer brennt so auf der Zunge, dass mir Tränen in die Augen steigen. Fabian greift nach einem Glas Milch und grinst mich offen an. »Na gut. Ihr habt ja recht.«

»Ist nicht so leicht, eine Doppelbelastung zu meistern«, meint mein Mann mit einer gewissen Genugtuung, die mich aufwühlt. »Haushalt, Kindererziehung und Job.«

»Das hat gar nichts damit zu tun. Da stimmte irgendwas mit dem Rezept nicht.« Ist eigentlich irgendjemand auch mal auf meiner Seite?

»Wie läuft’s denn so im Revier?« Fabians Blick heftet sich an meinen. Mir rennen die Gedanken durch meinen plötzlich so vollen Kopf und verheddern sich ineinander. »Was musst du genau machen?«

Um Zeit zu gewinnen, schnappe ich mir Lous verschmähte Scheibe Brot und knabbere daran, während ich an mein Tätigkeitsfeld denke. Viel muss ich ja nicht tun … Ein bisschen erotisch tanzen, was mir zu Hause bestimmt auch noch mal von Nutzen sein kann, kriminaltechnisch ermitteln und alles für mich behalten. Letzteres dürfte die größte Herausforderung sein. »Dieses und jenes«, antworte ich zögerlich.

»Is will runtaha«, verlangt Lou laut und gibt ihr Lieblingsargument hinterher: »Is will die Welt sehen.«

»Das ist ja mal präzise. Dieses und jenes – was soll das heißen?«, fragt Fabian, während er Lou vom Stuhl hilft.

»Ich schreibe Protokolle und arbeite Akten ab, nichts weiter.« Ich zucke mit den Achseln und esse meine Suppe weiter. Holla die Waldfee, ist die bitter – genauso wie der Zug um Fabians Mund. Na bravo!

Am nächsten Tag habe ich meinen ersten Einsatz im Moulin Rouge und betrete die Hölle durch den Personaleingang. Chantal erwartet mich kaugummikauend und führt mich zur Bühne, um mir ein paar Moves beizubringen. So kommt es, dass ich im nächsten Moment kopfüber an der Stange hänge und fürchte, mir das Genick zu brechen.

»Komm schon, die Beine etwas mehr spreizen«, spornt das Mädel mich an, und ich rutsche fast ab. Das ganze Rot, Schwarz und Silber in diesen Räumlichkeiten verschwimmt vor meinen Augen.

»Ich glaube, das geht nicht«, krächze ich.

»Klar geht das«, antwortet Chantal spitz, legt ihre Hand an meinen Po und drückt ihn in Richtung Deckenbeleuchtung. Ich lasse meine Beine zurückschnellen, treffe beinahe das kleine gehässige Mädchen und komme wenig elegant zum Stehen.

»Deine Tanzausbildung ist wohl schon ’ne Weile her, was?«, fragt sie, und mir geht durch den Kopf, dass ihr Charakter gegensätzlich zu ihrer guten Figur liegt. Danke, lieber Gott, dass ich nett bin und trotzdem okay aussehe.

»Also noch mal von vorn«, kommandiert Chantal, wedelt auffordernd mit den Händen und betrachtet dann in aller Ruhe ihre roten Gel-Nägel.

»Ich brauche einen klitzekleinen Moment«, keuche ich und stütze mich mit den Händen an meinen Oberschenkeln ab, um den Sauerstoffmangel in meinem Hirn zu beheben.

»Ich mach es dir vor«, sagt sie so gelangweilt, dass es mich kränkt. Bei ihren eleganten eins achtzig sieht alles so leicht aus wie Luftholen.

»Fest zugreifen, hoch die Beine und den Rücken an die Stange, dann öffnen wir die Schatzkiste …« Sie spreizt die Schenkel, um einen Blick ins Paradies zu gönnen. Gott, wenn mein Mann wüsste, was ich hier tue!

»Okay, ich hab’s verstanden«, verkünde ich laut und schüttle meine Arme aus. Chantal macht eine hübsche Drehung und kommt vor mir zum Stehen. Bin ich froh, dass der Laden heute so gut wie leer ist. In etwa einer Stunde wird eine kleine Gruppe Bankangestellter erwartet, doch den Part übernimmt die kleine Giftspritze.

»Brauchst du Kreide?«, fragt sie und greift nach meinen Händen. »Wenn du schwitzt, rutschst du ab, ist meiner Ex-Kollegin auch mal passiert. Not so nice.« Will die mir Angst einjagen? Und wie, bitteschön, soll ich denn nicht schwitzen bei dem ganzen Herumgeturne?

»Wie hieß sie denn, deine Kollegin?«, frage ich. »Vielleicht treffe ich sie mal und frag sie, was ich noch so alles vermeiden sollte beim Tanzen.«

Chantal lacht und wirft ihr langes braunes Haar zurück. »Irina, aber die ist schon lange nicht mehr hier gewesen, die Snitch. Hat nicht mal ihren letzten Scheck abgeholt. Keiner weiß, wo sie abgeblieben ist und was sie angestellt hat. Ich persönlich bin ganz froh, dass sie und ihr sabberndes Ungetüm nicht mehr hier sind.«

»Sabberndes Ungetüm?«, erkundige ich mich und klopfe mir selbst auf die Schulter, weil ich die Ermittlungsgrundlagen so gut beherrsche und noch mal nachfrage, um sicherzugehen, statt meine Schlussfolgerung als gegeben hinzunehmen.

»Ach, die hat so ’nen Dog, ’nen Labrador, den sie regelmäßig mitgebracht hat, weil niemand auf den Köter aufpassen wollte. Pah!« Chantal verdreht die Augen. »Wenn das jede von uns machen würde … Am Ende bringt noch eine ihr Kind mit, weil sie keinen Sitter findet, or what?«

Ich verkneife mir den Kommentar, der mich auf der Zunge kitzelt, und umfasse stattdessen erneut die Stange, die kalt in meinen Händen liegt und sich langsam, aber sicher nicht mehr wie ein Fremdkörper anfühlt, als ich mich an ihr hinaufziehe.

»I think, I spider!«, stößt Chantal aus und klatscht in die Hände. »Du hast es allmählich raus.«

Mir kommt nur ein »Umpf« über die Lippen, während ich Richtung Boden gleite, eine Drehung vollführe, aber immerhin echt gut dabei aussehe, wie ich in einem der vielen Spiegel beobachten kann.

»Wieso denkst du, diese Irina hat was angestellt?«, will ich wissen, als ich wieder zum Stehen komme. »Und was bedeutet Snitch?« Mein Blick heftet sich auf ein Bild, das über einer Sitzgruppe an der Wand angebracht ist. Es ist geschmackvoll und von einer stilvollen Erotik, die mir gefällt und an den Künstler Egon Schiele erinnert. Überhaupt muss ich zugeben, dass das gesamte Flair des Ladens auf den zweiten Blick gar nichts so Schmuddeliges an sich hat.

»Irina ist so eine, die hinter deinem Rücken redet und dich gern mal schlecht dastehen lässt, wenn du weißt, was ich meine«, erklärt Chantal.

Obwohl ich eigentlich nicht so genau weiß, was sie meint, nicke ich und hauche verschwörerisch: »Oh, ja. Ich habe ständig mit solchen Weibern zu tun. Man muss immer auf der Hut sein, sag ich dir.«

»So ist es, hab ich schon immer gesagt. Wenn man solche Freundinnen hat, braucht man keine Feinde mehr.«

»Wart ihr denn befreundet?«

»Ganz kurz, bis ich erkannt habe, wie evil sie ist.« Chantals Blick wird kalt, so kalt, dass ich unwillkürlich zurückweiche. Die Eiskönigin wäre nichts dagegen. Scheint so, als wären Chantal und Irina sowas wie beste Feindinnen gewesen. Das kenne ich aus meiner Kindheit, da hatte ich ständig Zwist mit einem Nachbarsmädchen – man hätte meinen können, dass unser Lebensinhalt daraus bestand, uns gegenseitig das Leben schwer zu machen. Ließ sie mir die Luft vom Fahrrad ab, stellte ich mich doof und brachte ihrer Mutter ein Päckchen Marlboro mit den Worten: »Das hat die Nadja heute in der Schule liegenlassen, das wollte ich eben vorbeibringen.« Da waren wir zehn. Nadja bekam zwei Wochen Hausarrest.

»Was hat sie denn angestellt?«, frage ich nach Irina. Chantal will gerade ausholen, als Alex Herbig zu uns herüberkommt. Wie beim letzten Mal ist er schwarz in schwarz gekleidet, was die Tätowierungen auf seiner Haut leuchten lässt.

»Sehr schön, unsere neue Tänzerin ist hier.« Er schwingt sich auf die Bühne und reicht mir seine Hand, ohne Chantal zu beachten. Er quetscht meine Finger, an denen sich bereits die ersten Blasen von der Stange bilden, und mir schießt die Frage durch den Kopf, wie ich die eigentlich meinem Umfeld erklären soll. Die können ja schlecht vom Tippen kommen.

»Na, wie gefällt’s dir hier?«, unterbricht Alex meine Gedanken. Chantal lässt uns einfach stehen und tippelt davon, wobei sie ihren kleinen Po kräftig von links nach rechts schwingen lässt.

»Gut, alles tutti«, antworte ich und will der Kollegin am liebsten nachrufen, dass sie ruhig hierbleiben kann.

»Mademoiselle Chat Noir, das ist dein neuer Name«, verkündet Alex feierlich und zieht mich näher zu sich heran. »Der wird dir gerecht, Katze.« Er grinst, zeigt seine weißen Zähne, die im Kontrast zu seiner Kleidung stehen, und mir stellen sich die Nackenhaare auf. Alex verströmt einen herben Geruch nach scharfem Aftershave und etwas, das ich nicht definieren kann. Ich unterdrücke ein Niesen und sammele mich. It’s Play Time, dein Einsatz, Mieze Moll! Jetzt sind schauspielerische Fähigkeiten gefragt.