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MARGARETHA KOPEINIG

Hans Peter Doskozil
Sicherheit neu denken

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www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01099-3

Copyright © 2017 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien unter Verwendung eines Fotos von Manfred Weis

Typografische Gestaltung und Satz: Michael Karner, Gloggnitz

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Familie im Südburgenland

II. Beruf Polizist

III. Manager der Flüchtlingskrise 2015

IV. Verteidigungsminister mit Visionen

V. Migration

VI. Umfassende Sicherheit

VII. Alltag und Freundschaften neben der Politik

VIII. Arbeitsstil und Führungsqualitäten

IX. Interviews mit Bernhard Heinzlmaier und Peter Pilz

Curriculum Vitae

Danksagung

Einleitung

»Ich mache alles mit vollem Einsatz.«
Hans Peter Doskozil, 11. April 2017

Es ist Sommer 2017, ein Samstagnachmittag: Hans Peter Doskozil sitzt leger gekleidet, in Jeans und weißem Hemd, an seinem Schreibtisch, kein besonderes Design, alles ist funktional und praktisch. Vor ihm liegt die Dokumentenmappe. Er unterschreibt Briefe und Anweisungen. »Ich benütze fast nie diesen Tisch, den Computer habe ich abgebaut. Am Handy kann ich alles abrufen, das Smartphone genügt.« Das ist typisch für ihn, denn er arbeitet lieber vor Ort, dort, wo sich das Leben abspielt. »Zu meinem Job gehört: reden, sehen was los ist, zuhören, verstehen«, sagt er, und erhebt sich. Damit signalisiert er gleich zu Beginn unseres Gespräches, worauf es ihm ankommt: den direkten Draht zu den Menschen zu haben, zu wissen, was sie denken, was sie wollen und was sie brauchen. Das betrifft nicht nur die Soldaten, die Truppe, die Generäle, das betrifft alle, jede Bürgerin und jeden Bürger, bis hin zu seinen engsten Mitarbeitern. Der persönliche Kontakt ist ihm wichtig. Dafür braucht er keinen Computer und keinen großen Schreibtisch.

Neue Ideen, Antworten, Anregungen und praktikable Lösungen für Probleme holt er sich zum einen an der Basis, aber nicht nur. Ein intensives Aktenstudium gehört zu seinem täglichen Arbeitsprogramm, Hintergrundberichte liest er frühmorgens, und dazu gibt es den ständigen Austausch mit Experten, den Spitzenleuten in seinem Haus: Der Generalstabschef, die Sektionsleiter, der Direktor für Sicherheitspolitik und der Militärvertreter in Brüssel sind jene Beamte des Ressorts, mit denen er sich regelmäßig austauscht. Mit seinen politischen Beratern, Stefan Hirsch und Raphael Sternfeld, bespricht er politische Strategien.

Hans Peter Doskozil mag den Widerspruch, nicht den Zuspruch. »Der Minister hört sich unsere Argumente an. Der Chef (so wird er von seinen Mitarbeitern genannt) wägt ab und trifft dann seine Entscheidungen«, sagt Kommunikationschef Hirsch. »Nach Abwägen aller Optionen sehr oft blitzschnell«, sagen andere, »so wie er es als Polizist gewohnt war«.

Selbst definiert er seinen ministeriellen Alltag, sein Engagement für die Sozialdemokratie und seinen Arbeitsstil als »die Verantwortung gegenüber den Menschen, ihre Sorgen und Ängste ernst zu nehmen und etwas zum Besseren zu verändern«. Privatem gibt er kaum einen Raum. Er stellt seine eigene Person nicht in den Mittelpunkt und neigt überhaupt nicht zu Eitelkeit. Selbst in aufregenden und hektischen Situationen bewahrt er innere Gelassenheit und Ruhe. Der Wille zur Pflichterfüllung und Selbstdisziplin treiben ihn an, sowie die Überzeugung, Sicherheit als »umfassendes Bürgerrecht« durchzusetzen. Das ist sein politisches Ziel, das er sowohl in seinem Beruf als Polizist als auch als Verteidigungsminister und natürlich als Sozialdemokrat verfolgt, sagt Doskozil. Ihm ist lieber, wenn er als »Politiker der Mitte«, wie er sich selbst sieht, das Richtige tut, als nur über das Richtige zu philosophieren.

Inspiriert hat ihn in seinem Politikverständnis ein großer deutscher Sozialdemokrat: Helmut Schmidt. Er bezeichnet den ehemaligen Bundeskanzler, der auch Verteidigungsminister war, als Vorbild. »Zwei Dinge, die Helmut Schmidt gesagt hat, gefallen mir sehr gut: Der Politiker soll nie vergessen, dass er dient. Und zweitens: Es ist wichtig, dass er gebildet ist und über den Tellerrand hinausschaut.«

Das schon lange in der österreichischen Gesellschaft wachsende Gefühl zunehmender Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unsicherheit fordert Hans Peter Doskozil besonders heraus. Seine Stirn legt sich in Falten, wenn er die Probleme aufzählt, die den Menschen unter die Haut gehen: Massenmigration, Asyl, die Integration von vielen Tausenden Flüchtlingen, die 2015 und 2016 nach Österreich gekommen sind, der Kampf gegen den Terror, Cyber-Angriffe, Rechtsradikalismus, Antisemitismus, autoritäre Regime und noch dazu eine EU, die vielen als zu schwach erscheint, die viel ankündigt, aber nicht alles davon umsetzt. Überall Unsicherheit, überall Unruhe.

Im Sommer 2017 hat Hans Peter Doskozil in der Auseinandersetzung über antisemitische Äußerungen des FPÖ-Abgeordneten Johannes Hübner1 ganz klar Position bezogen: »Wenn es der FPÖ nicht gelingt, sich von Ewiggestrigen zu trennen, dann können sie (die FPÖ, Anm.) kein Partner sein. Jeder Form von Antisemitismus muss man entschieden entgegentreten«, sagte der Bundesminister und Vize-Chef der SPÖ in Zeitungsinterviews2.

Hans Peter Doskozil wies darauf hin, dass Österreich eine besondere historische Verantwortung habe, dessen müsse sich ein Abgeordneter besonders bewusst sein. »Antisemitische Äußerungen und Verschwörungstheorien sind zutiefst abzulehnen«, betonte Hans Peter Doskozil. Er erwarte sich von der Bundes-FPÖ eine »Klarstellung und Distanzierung, aber auch Konsequenzen«. Eine parteiinterne Aussprache mit Hübner sei »nicht genug«. Hübner gab dann bekannt, nicht mehr bei der Nationalratswahl im Oktober 2017 kandidieren zu wollen.

Auf all diese oben genannten Probleme und Herausforderungen in Österreich, aber auch EU-weit, mit denen sich Politik und Gesellschaft konfrontiert sehen, weiß Hans Peter Doskozil nur eine einzige Antwort: »Meine Richtschnur als sozialdemokratischer Politiker ist, Beschlüsse zu fassen, die die Menschen schützen und stärken – und das umfassend.« Von innerer und äußerer Sicherheit, von strengen Kontrollen der EU-Außengrenze bis hin zur Verteidigung sozialer Sicherheit, Demokratie und Freiheit.

Am Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 hat Hans Peter Doskozil als burgenländischer Polizeichef nicht nur Festigkeit und perfektes Krisenmanagement bewiesen, er war der Polizist, der human reagiert hat. Dafür bekam er nationale und internationale Anerkennung. Der Bischof von Eisenstadt, Ägidius Johann Zsifkovics, hat ihn mit der höchsten Auszeichnung der Diözese Eisenstadt, dem St. Martinsorden in Gold, für sein »äußerst kompetentes, unaufgeregtes, besonnenes und zutiefst menschliches Handeln« geehrt. Doskozil habe dadurch nicht nur hauptverantwortlich eine humane Bewältigung schwierigster Situationen gewährleistet, »sondern gleichsam als ein ›Fels in der Brandung‹ dazu beigetragen, dass unsere Landsleute stets das Gefühl von Sicherheit haben konnten und die Stimmung immer positiv geblieben ist«, bemerkte der Bischof 3.

Es ist unübersehbar, dass Sicherheit ein prioritäres Anliegen der Bürger ist, nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa, und sich zu einem ganz zentralen Wertebegriff entwickelt hat. Dem will Hans Peter Doskozil mit seiner Politik und seinem Anspruch, normative Klarheit zu schaffen, Rechnung tragen. Er weist Aussagen und Klassifizierungen, wonach es eine »rechte« und/oder »linke Sicherheit« gäbe, entschieden zurück. »Für mich gibt es nur eine umfassende Sicherheit.« Dabei wird er auch von der Spitze der SPÖ, Bundeskanzler Christian Kern ebenso wie von Kanzleramtsminister Thomas Drozda, unterstützt. Ende Juli 2017, am Rande eines gemeinsamen Truppenbesuches in der Salzburger Schwarzenberg-Kaserne, und in darauf folgenden Zeitungsinterviews hebt Kern die sicherheitspolitischen Kompetenzen von Doskozil besonders hervor. »Dass Doskozil qualifiziert ist, hat er bereits mehrmals unter Beweis gestellt«, sagte Kern4 und verweist auf seinen Einsatz bei der Lösung des Flüchtlingsansturmes im Herbst 2015 und die positiven Entwicklungen beim Bundesheer.

Mit den Reformen im Verteidigungsministerium und seinen Vorschlägen zur Lösung der Flüchtlingskrise, die er bei Amtsantritt formuliert hat, ist Hans Peter Doskozil zum »Sicherheitsminister« avanciert. Den zerstörerischen Sparkurs für das Heer hat er gestoppt und mehr Geld für Ausrüstung und Ausbildung der Soldaten verhandelt. Er hat die starre Struktur des Militärs umgekrempelt, den Anteil der rasch einsatzbereiten Berufs- und Zeitsoldaten deutlich erhöht, neues Gerät angeschafft und erreicht, dass sich wieder deutlich mehr junge Frauen und Männer für den Grundwehrdienst und eine Ausbildung beim Heer melden.

Meinungsumfragen zeigen, dass das Bundesheer als Garant für Sicherheit und Katastrophenschutz sowie als Arbeitgeber wieder attraktiv geworden ist. 64 Prozent der befragten Österreicher sagen im Juni 2017, dass sich die Entwicklung des Bundesheeres unter Bundesminister Hans Peter Doskozil »sehr« bzw. »eher verbessert« hat.5 Auch die Rekrutierungszahlen haben sich bereits im ersten Amtsjahr des Ministers – im Vergleich zu 2015 – verdoppelt, von 605 Aufnahmen 2015 auf 1037 im Jahr 2016. Ein junger Offizier sagt es offen heraus: »Er hat das Bundesheer gerettet und uns wieder Selbstbewusstsein gegeben.«

Mitten im Hochsommer 2017 ist Hans Peter Doskozil – zwei Jahre nach dem Flüchtlingsansturm – erneut als Krisenmanager gefordert. Es geht darum, die Ursachen und Umstände des Todes eines 19-jährigen Grundwehrdieners bei einem Marsch mit Gepäck Anfang August in der Kaserne im niederösterreichischen Horn zu untersuchen und entsprechende Konsequenzen für die Ausbildungsbedingungen und die Qualität der Ausbildner zu ziehen6. Keine Frage, davon hängt auch ab, ob es Hans Peter Doskozil gelingt, die positive Stimmung in der Truppe und den Imagegewinn des Bundesheeres in der Öffentlichkeit, den er als Verteidigungsminister aufgebaut hat, weiter zu erhalten.

Entschlossen packt er diese menschliche und inhaltliche Herausforderung an. »Schonungslose und lückenlose Aufklärung sowie Transparenz« gibt er als Maxime seines politischen Handelns und seiner Verantwortung aus. Umgehend setzt er zwei Untersuchungskommissionen mit anerkannten Experten an ihrer Spitze ein. Mit dieser raschen Reaktion, Offenheit und Klarheit, zieht er das Heft des Handelns an sich und schafft es, Pauschalurteilen sowie Gerüchten und Spekulationen – unter anderem in den sozialen Medien – entgegenzutreten und auf der Ebene der Fakten und valider Antworten zu bleiben.

Von Anfang an ist Teil seiner Reformagenda die Korruptionsbekämpfung im Beschaffungswesen. Hier setzt der gelernte Polizist und studierte Jurist Schwerpunkte. Er präsentiert ein Anti-Korruptionspaket, das künftig keine Gegengeschäfte beim Ankauf neuer Geräte mehr zulässt, und er unterbindet Rechtsgeschäfte des Verteidigungsministeriums mit Lobbyisten. Außerdem versucht er, einen Schlussstrich unter die Endlos-Causa Eurofighter zu ziehen, indem er nach Ermittlungen der internen Task Force Anzeige wegen Betrugs gegen den Hersteller Airbus erstattet.

Hans Peter Doskozil stärkt das Bundesheer für neue Herausforderungen, er lässt die Cyber-Defense-Einrichtung ausbauen und geht dabei eine Kooperation mit Israel ein, dem weltweit führenden Land im Bereich der Cyber-Defense und der Bekämpfung von Cyber-Kriminalität. Er rüstet die Soldaten für internationale Aufgaben aus und hält an Friedenseinsätzen des Bundesheeres in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo fest, weil »ein stabiles Umfeld auch unsere Sicherheit stärkt«, wie er betont.

Wenige Monate nach Amtsantritt hat er als erster österreichischer Verteidigungsminister im Juni 2016 einen offiziellen Besuch bei NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel absolviert. Österreich ist Mitglied des NATO-Programmes »Partnership for Peace« (PfP). Ein Jahr später gab es einen neuerlichen Termin beim NATO-Chef. Auf höchster Ebene wurde der Konflikt mit der Türkei entschärft. Als Retourkutsche für die Haltung der österreichischen Bundesregierung, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stoppen, blockiert die Regierung in Ankara die Teilnahme von Bundesheersoldaten an PfP-Ausbildungstrainings. Mit Stoltenberg hat er eine Lösung gefunden: Die Soldaten beteiligen sich an Ausbildungsprogrammen mit anderen Ländern.

Auf europäischer Ebene profiliert sich Hans Peter Doskozil im Kreise seiner Amtskollegen auch in der Flüchtlingsfrage. Gleich nach Amtsantritt Ende Jänner 2016 schlägt er einen besseren und effizienteren Außengrenzschutz der EU unter militärischer Beteiligung vor. Sein Migrationskonzept ist in weiten Teilen in den »Sieben-Schritte-Plan« von Bundeskanzler Kern eingeflossen, den beide – Kern und Doskozil – am 12. Juli 2017 präsentiert haben. Verfahrens- und Schutzzentren in afrikanischen Ländern (zum Beispiel Niger), Rückführungsabkommen, ökonomische Hilfe und Investitionen für die Herkunftsländer der Flüchtlinge und ein eigener EU-Migrationsbeauftragter sind die wichtigsten Punkte dieses Planes. Wenn all das umgesetzt ist und auch funktioniert, geht Hans Peter Doskozil davon aus, dass auch die Verteilungsfrage der Flüchtlinge in der EU gelöst werden könne.

Ein enges Netz an Kontakten auf europäischer und internationaler Ebene – unter seinen Amtskollegen, aber auch unter Europas Sozialdemokraten – hilft ihm, österreichische Interessen in der Sicherheits- und Migrationspolitik durchzusetzen. Die Bilanz ist beachtlich: 37 Auslandsreisen und hochrangige bilaterale Treffen und Truppenbesuche weist seine Agenda von Februar 2016 bis Ende Juni 2017 aus.

Hans Peter Doskozil hat mittlerweile auf EU-Ebene aber auch erfahren, dass Reformen in der EU nur in kleinen Schritten möglich sind, vorausgesetzt, es gibt einen Konsens. Hier erwartet er raschere Entscheidungen, auch im Sinne der Bürger.

Apropos Konsens: Hans Peter Doskozil ist gewiss ein Politiker, der nicht stur seine Positionen durchboxt. In allem, was er bisher erreicht hat – Bundesheerreform und Migration – hat er den Kompromiss mit anderen Parteien gesucht. Er hat aber auch sehr deutlich darauf hingewiesen, wo Grenzen notwendig sind. Die Erfahrungen in der Flüchtlingsfrage und der öffentliche Diskurs darüber haben gezeigt, wie gefährlich es für den inneren Frieden und für die Stabilität der Gesellschaft ist, wenn Bürger den Eindruck bekommen, der Staat verliert die Kontrolle über Grenzen und Zuwanderung. So lautet auch das Postulat von Hans Peter Doskozil: Es ist legitim, Grenzen zu ziehen.

Der Berliner Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel findet, dass es der SPÖ erfolgreich gelungen ist, die Themen Sicherheit, Flüchtlinge und Ausländer in ihr Programm zu integrieren. »Die Sozialdemokraten in Österreich unter Bundeskanzler Christian Kern haben die Ausländer-Thematik erfolgreich in ihr Programm integriert.« Daher rät er auch der SPD, diese Themen stärker in den Blick zu nehmen. Es sei nicht ausländerfeindlich, von Grenzen der Immigration und Integration zu sprechen und Befürchtungen weniger begüterter Menschen aufzunehmen, sagte der Politologe der Deutschen Presse-Agentur7. »Wenn die Sozialdemokratie diesen Menschen eine auch progressive Stimme gibt, können sie vor dem Rutsch nach Rechtsaußen bewahrt werden.« Was der deutsche Politikwissenschaftler ausdrückt, »ist auch meine Position«, sagt Hans Peter Doskozil.

Wien, August 2017

I.

Familie im Südburgenland

»Die Grenze beschäftigt mich
schon mein ganzes Leben.«

1970 ist das Geburtsjahr von Hans Peter Doskozil. In Deutschland beginnt mit Bundeskanzler Willy Brandt die neue Entspannungspolitik zwischen der BRD und der DDR. Am 1. März 1970 erreicht die SPÖ unter Bruno Kreisky ihr bis dahin bestes Nachkriegsergebnis und wird stärkste Partei. Die legendären Beatles trennen sich endgültig. Die Concorde macht ihren ersten Überschallflug. Brasilien gewinnt die Fußball-WM. Der Schulmädchen-Report, Teil 1, kommt in die Kinos und erregt die Gemüter. Im September erscheint in Wien das Nachrichtenmagazin profil das erste Mal. Jimi Hendrix stirbt an einer Alkohol- und Tablettenvergiftung, und Janis Joplin beendet ihr Leben mit einer Überdosis Heroin. Salvador Allende wird Präsident von Chile. Die ARD strahlt den ersten Tatort aus. Gegen Ende des Jahres gedenkt Willy Brandt in Warschau den Opfern des Holocaust: Vor dem Denkmal für die Opfer des Ghettos, die überwältigende Mehrheit waren Juden, geht der deutsche Sozialdemokrat in die Knie. Seine Geste bleibt unvergessen.

1970, das Geburtsjahr von Hans Peter Doskozil, ist ein aufregendes und spannendes Jahr.

Für den kleinen Hans Peter beginnt alles in Blumental, in einer entlegenen Siedlung. Blumental, mit dem ansprechenden Namen, ist aber nicht irgendein kleines Dorf im Südosten von Österreich. Blumental ist ein Grenzort zwischen zwei Bundesländern: dem Burgenland und der Steiermark. Staatsgrenze ist das natürlich keine, aber immerhin, es ist ein geteilter Ort. »Zwei Häuser standen in der Steiermark, drei Häuser im Burgenland«, erinnert sich Hans Peter Doskozil.

Hier, in Blumental, im Süden des Burgenlandes, verbringt er die ersten vier Jahre seiner Kindheit. Heute sagt er: »Das Bild der Grenze, die Grenze als Metapher, beschäftigt mich schon mein ganzes Leben.«

Bald ziehen die Doskozils in den benachbarten Ort Kroisegg, welcher zur Gänze im Burgenland liegt. Die Eltern arbeiten hart und sparen, hier in Kroisegg bauen sie ein Einfamilienhaus – damals in den aufstrebenden siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Es sind einfache Verhältnisse, in denen Hans Peter Doskozil aufwächst. Die Großmutter, eine resolute Frau, betreibt in der Nachkriegszeit eine kleine Landwirtschaft, drei, vier Hektar Grund gehören zum Hof. Ihr Mann ist im Zweiten Weltkrieg gefallen.

Die Mutter, Herta Doskozil – sie ist 1948 geboren – arbeitet einige Jahre in einer Fabrik in Willersdorf. Als Hans Peter 1970 auf die Welt kommt, gibt sie den Job auf. Sie bleibt zu Hause und kümmert sich fortan um die Familie.

In Abständen von sieben Jahren werden die Kinder geboren: Hans Peter ist der Älteste, 1977 kommt seine Schwester Birgit auf die Welt, im Jahr 1984 folgt sein Bruder Klaus.

Der Vater, Johann Doskozil, Jahrgang 1938, verdient das Geld als Fahrschullehrer in Pinkafeld. Später wechselt er zur BEWAG, der Burgenländischen Elektrizitätswirtschafts Aktiengesellschaft, heute kurz »Energie Burgenland« genannt, arbeitet in einem Instandsetzungstrupp, der Transformator-Stationen und Leitungen wartet. Dieser Tätigkeit geht er bis zu seiner Pensionierung nach.

Der Vater von Hans Peter Doskozil kommt aus Blumental, seine Mutter aus Dreihütten in der burgenländischen Gemeinde Bernstein, hart an der Grenze zu Niederösterreich gelegen. Die Familie der Mutter gehört der ÖVP an, alle sind tief mit der Volkspartei verbunden. Der Vater der Mutter, Hans Peter Doskozils Großvater, macht Karriere in der ÖVP, er wird Bürgermeister in Dreihütten.

Die parteipolitische Orientierung der Herkunftsfamilie der Mutter hin zur ÖVP ist aber nicht der einzige Unterschied zwischen den beiden Elternteilen. Die Mutter und ihre Familie sind protestantisch, wie viele im Burgenland. Die Angehörigen der Familie des Vaters sind alle Sozialdemokraten und katholisch. Ein Partei- und Religionen-Mix im Hause Doskozil, Hans Peter wächst katholisch auf und tritt später der SPÖ bei.

Jahrzehnte später: An einem Frühsommerabend im Juni 2017 sitzt Hans Peter Doskozil im crèmefarbenen Lederfauteuil im Wintergarten des Verteidigungsministeriums im Dachgeschoss der Rossauer Kaserne im 9. Wiener Gemeindebezirk, ein kleiner Raum mit Ziegelwand und Glasdach. Draußen rauscht der Verkehr am Donaukanal entlang. Vor dem Minister steht ein schlichter Beistelltisch mit einer Karaffe Wasser, einigen Gläsern und einer Tasse Cappuccino. Das Handy von Hans Peter Doskozil ist auf lautlos gestellt. Er wirkt sehr konzentriert, wenn er mit leiser Stimme über seine Kindheit und Jugend redet. Sentimental wird er nie. Unaufgeregt, sachlich und überraschend offen schildert er, was war. Er lässt die Jahre Revue passieren, an manchen Stationen hält er länger, manche Phasen streift er nur. Man hat den Eindruck, Erzählen und Erinnern gefällt ihm.

»Wie war das damals?«, »Wie war es genau?« – er unterbricht sich selbst, schiebt rhetorische Fragen ein und gewinnt ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Nicht immer fällt ihm sofort das richtige Wort ein, dann wieder sprudeln viele Details aus ihm heraus. Über vieles würde er gerne länger diskutieren, aber er muss zum nächsten Termin.

Es ist spannend, wie er Fragen aufgreift, die ihn beschäftigen, eben nicht nur tagespolitische, sondern auch philosophische und religiöse. Wie entwickelt sich die Gesellschaft weiter? Wie entstehen Trends? Ein Spitzenpolitiker hat wenig Zeit, doch bei einem unserer Gespräche schweift er ab, wir reden einen Abend lang über Evolution, über menschliche Existenz und was Glauben für Menschen bedeutet. Gemeinhin erwartet man sich solche Reflexionen nicht von einem Verteidigungsminister. Doch das anzunehmen, ist ein Klischee.

Bei einem anderen Termin in seinem Büro setzen wir in seiner Kindheit fort: »Ja, die Erziehung meiner Eltern war streng, sie waren bedacht auf eine gute Schulbildung ihrer Kinder. Ich musste sofort nach der Schule die Hausaufgaben erledigen und lernen, lernen, lernen. Zumindest in der Volksschule«, schränkt er ein. Früh übernimmt er Verantwortung und Pflichten. »Mir wurden bestimmte Tätigkeiten und Aufgaben zugeteilt. Als Volksschulkind musste ich auf meine jüngere Schwester aufpassen, später auch auf meinen kleinen Bruder. Das war schon eine Herausforderung.«

Viel mehr Freude und Spaß bereitet ihm das Milchholen beim Bauern, denn hier war ständig etwas los. »Am Hof konnte ich immer mit den anderen Kindern spielen, und ich durfte mit dem Bauern auf dem Traktor mitfahren.« Für einen aufgeweckten Buben ist das Traktorfahren schon ein kleines Abenteuer, jedenfalls aufregender als die kleinen Pflichten und Aufgaben im Einfamilienhaus.

Der Alltag im damals 232 Einwohner zählenden Dorf Kroisegg bietet ja nicht sehr viel Abwechslung für neugierige Kinder. Es gibt einen Fußballverein und einen Sportplatz. Am Fußballplatz trifft sich der ganze Ort, die kleinen Buben, die Jugendlichen und die etwas älteren Herren kicken hier fast jeden Abend. Unter den Bewohnern des Ortes lässt das ein Gefühl von Zusammengehörigkeit entstehen. Wenn es eine Arbeit zu erledigen gibt, zum Beispiel das Gras des Fußballfeldes zu mähen, packen alle an, eine Erinnerung, die sich bei Hans Peter Doskozil eingeprägt hat: »Wenn ich heute noch frisch gemähtes Gras rieche, muss ich an diese Zeit zurückdenken.«

Fußball ist sein Ein und Alles, er ist vernarrt in diesen Sport. Das Interesse am Kicken lässt allerdings ein wenig nach, als plötzlich Tennis modern wird. »Da es bei uns im Ort keinen Tennisplatz gab, haben wir einfach auf der Asphaltstraße gespielt. Das Feld wurde auf der Straße gezeichnet, als Netz diente eine Holzlatte. Dann schlugen wir mit Plastikschlägern auf den harten Tennisball. Immerhin, der Ball war echt.«

Vom Tennis ist damals die ganze Bevölkerung begeistert. Thomas Muster, der bis heute erfolgreichste österreichische Tennisspieler, gewinnt ein Turnier nach dem anderen und feuert die Tennisleidenschaft bei vielen Menschen so richtig an. »Das hat uns alle beflügelt«, sagt Hans Peter Doskozil. Noch heute spielt er gelegentlich ein Match mit Freunden. Seine Rückhand ist gefürchtet.

»In der Volksschule war ich ein sehr guter Schüler«

Nach der Übersiedlung der Familie von Blumental nach Kroisegg kommt Hans Peter Doskozil in den Kindergarten. Ein Jahr später, mit sechs Jahren, beginnt für ihn der Schulalltag. Er nimmt es gelassen: »In der Volksschule war ich ein sehr guter Schüler.« Den Schuldirektor, eine Respektsperson und ein Jagdkollege seines Vaters, findet er durchaus sympathisch, ein Lehrer, der keine Angst macht. Schon in der Volksschule kommt er erstmals mit einem Politiker in Berührung: Der damalige burgenländische Landeshauptmann Theodor Kery (SPÖ) kommt auf Besuch nach Kroisegg. Der ganze Ort ist auf den Beinen, der Schulchor rückt aus und gibt ein Ständchen zum Besten; Hans Peter wird vom Lehrer ausgewählt und darf ein Gedicht aufsagen. »Diese Begegnung hat mich als Kind schon beeindruckt.«

Nach der vierten Klasse Volksschule wechselt Hans Peter Doskozil – wie fast alle anderen Mitschüler – in die nächstgelegene Hauptschule in Pinkafeld. Die ersten beiden Hauptschul-Klassen schafft Hans Peter Doskozil ohne Probleme und mit den besten Noten. Den Lehrern fallen seine Leistungen auf, nichts liegt näher als ihn zu fragen, ob er nicht in das Gymnasium wechseln wolle. Auch seine Eltern sind damit einverstanden, das Gymnasium war immer ihr Traum, doch die finanziellen Kosten sind eine Hürde. Ab der dritten Klasse Gymnasium bis zur Matura ist Hans Peter Doskozil Schüler des Bundesrealgymnasiums in Oberschützen. Täglich fährt er mit dem Bus mehr als 45 Minuten von Kroisegg nach Oberschützen, einmal muss er sogar umsteigen. Doch so einfach, wie er sich den Unterricht im Gymnasium vorgestellt hat, ist es doch nicht. Der neue Schultyp, die Professoren und auch die Mitschüler haben Hans Peter Doskozil schon einiges abverlangt.

Am Beginn der Oberstufe legt er sich eine »effiziente Lernmethode« zurecht. Das System ist ganz einfach: »Mit dem geringsten Aufwand den maximalen Erfolg erzielen.« Von dieser ökonomischen Formel habe ihm irgendjemand erzählt, erinnert er sich. Das Prinzip hat er sich gemerkt, und er praktiziert die Methode – erfolgreich – bis zur Matura. »Ich habe immer gewusst, wann es notwendig ist, etwas zu lernen, und wann eben weniger.«

Vorbilder: Niki Lauda und Helmut Schmidt

Ende der 1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre, gibt es in Österreich noch ein überschaubares Medienangebot: ORF 1 und ORF 2 liefern die Informationen und sind für die Bevölkerung das Fenster zur Welt. Auch für die Jungen, auch für Hans Peter Doskozil.

Im Fernsehen schaut er sich jede Übertragung eines Formel-1-Rennens an. Von Niki Lauda ist er angetan, der österreichische Autorennfahrer wird zu seinem Vorbild. Bei einem Wettbewerb gewinnt er sogar ein Autogramm von Niki Lauda. »Die Autogrammkarte wurde mir per Post zugeschickt. Niki Lauda war bei uns am Land unter den Jugendlichen ein Riesenthema, alle schwärmten von ihm.«

Trotz der vorübergehenden Begeisterung für die Formel-1 bleibt Fußball für den Jugendlichen Hans Peter Doskozil die wichtigste Sportart, die ihn interessiert. Er war immer schon Fan des Wiener Fußball-Klubs Rapid, und bis heute hat sich an dieser Leidenschaft nichts geändert. Es gibt wenig Rapid-Matches, die er nicht besucht, keinen Spieler, den er nicht kennt.

Den Jugendtraum, Profi-Fußballer zu werden, gibt er bald auf. Bis zum Abschluss des Gymnasiums in Oberschützen macht er sich keine besonderen Gedanken, was nach der Schulzeit folgt – Berufsausbildung oder Studium? –, das ist vorerst noch offen. Die Matura in der Klasse 8 a schafft er jedenfalls im Handumdrehen.

Polizist zu werden gehört zunächst nicht zu den Wünschen von Hans Peter Doskozil, er kann sich unter dem Beruf »Polizist« nicht sehr viel vorstellen, die ersten Erfahrungen mit Polizisten schreckten ihn eher ab. »In der Schule hatten wir Verkehrsunterricht, den Polizisten abhielten. Da gab es eine Reihe von Vorschriften, die Polizisten auswendig kennen mussten. Damals habe ich mir gedacht, Polizist will ich nicht werden. Dann, mit 16, begannen wir in die Disco zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt haben meine Freunde und ich eine ganz natürliche Distanz zum Thema Polizei und Sicherheit entwickelt.« Mit Augenzwinkern erinnert sich Hans Peter Doskozil an diese Phase seines Lebens.

Die Reise nach der Matura auf die griechische Ferieninsel Santorin genießt er. Es ist die erste Reise in seinem Leben. »Meine Familie war nie auf Urlaub, wir haben höchstens Tagesausflüge zum Neusiedlersee oder zum Stubenbergsee unternommen. Für mich war die Maturareise nach Santorin der erste richtige Urlaub.«

Bis zum Einrücken zum Bundesheer Anfang 1989 überbrückt Hans Peter Doskozil die Zeit mit verschiedenen Tätigkeiten, um Geld zu verdienen. Jobs zu machen, ist für ihn ganz normal. »Seit meinem 15. Lebensjahr habe ich in den Ferien immer rund sechs Wochen gearbeitet.« Keine Alternative zum Bundesheer ist für ihn der Zivildienst. »Diese Option ist für mich nicht in Frage gekommen, das war kein Thema. Ich wollte zum Bundesheer.«

Nicht nur die Berufsausbildung zum Polizisten wird in seinem 18. Lebensjahr immer konkreter, auch das Interesse an Politik wird stärker. Er beginnt sich mit dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt zu beschäftigen, liest Bücher von ihm und Texte über ihn. Als Hans Peter Doskozil selbst Verteidigungsminister wird, kommt er wieder auf Helmut Schmidt zurück. »Ich schätze ihn sehr, er ist heute für mich ein Vorbild.« Zwei Gedanken, die der Sozialdemokrat und spätere langjährige Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit formulierte, faszinieren den neuen Minister. »Einmal die Aussage, wonach der Politiker nie vergessen soll, dass er dient.« Und zweitens »die Antwort auf die Frage, welche Voraussetzungen ein Politiker mitbringen und welchen Mindestanforderungen er genügen sollte. Für einen Politiker ist es wichtig, dass er gebildet ist und über den Tellerrand hinaus blickt«, sagt Hans Peter Doskozil in Anlehnung an Helmut Schmidt8.

Der Plan, Polizist zu werden