Cover
Leopoldine Evelyne Kwas - ICH BIN DAS VOLK - edition a

Leopoldine Evelyne Kwas:
Ich bin das Volk

Alle Rechte vorbehalten
© 2017 edition a, Wien
www.edition-a.at

Cover: JaeHee Lee
Gestaltung: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-99001-245-1

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim

Weil ich euch liebe

Inhalt

Die Suppe geht über

Wer bin ich?

Armut, die Sie nicht sehen

Beschäftigung in Österreich

Sie nennen es »Arbeitsmarktservice«

Für dumm verkauft

Wir, die Nazis

Wir sind die Wirtschaft

Die Politik des Volkes

Die Suppe geht über

Es hätte ein schöner Tag für mich werden sollen. Ich hatte mir vorgenommen, an diesem Vormittag ausnahmsweise nicht in meinen Laden zu gehen. Ich wollte mir selbst ein paar gute Stunden gönnen. In solchen Fällen steht Kochen ganz weit oben auf meiner persönlichen To-do-Liste.

Eine Freundin hatte mir ein Kochbuch voll mit bodenständigen Gerichten geschenkt. Es sollte eine Kartoffelsuppe nach Wiener Art werden. In der Luft lagen schon die Aromen der frischen Kräuter. Dazu würde ich selbst Brot backen.

Beim Kartoffelschälen schaltete ich den Fernseher an und landete bei einer Live-Übertragung des ORF aus dem österreichischen Parlament. Sie, meine Damen und Herren in der Politik, hatten sich ein paar Tage zuvor auf Neuwahlen geeinigt und nun ging es um die Form der Zusammenarbeit in den nächsten Wochen. Probleme zu lösen gab es in unserem Land ja genug.

Ich drehte den Ton etwas lauter, um nichts zu verpassen, während ich meine Zutaten wusch. Eigentlich hätte ich einen konstruktiven Dialog erwartet. Stattdessen hörte ich immer lautere Auseinandersetzungen. Ich spürte, wie mich diese merkwürdige Dynamik erfasste. Wo, verdammt noch einmal, war dieser blöde Kochtopf bloß wieder?

Genervt durchstöberte ich meine Küchenschränke, während Sie sich im Parlament gegenseitig als Versager beschimpften. Irgendwie hieß das ja wohl, dass wir, die wir diese Versager gewählt haben, auch Versager waren.

Es war kaum auszuhalten, wie Sie sich auslachten und beschimpften. Hätte es sich um ein Theaterstück gehandelt, wäre das nicht gar so tragisch gewesen. Dann hätte ich am Ende mein Eintrittsgeld zurück verlangt, und fertig. Doch hier standen Sie auf der Bühne, die Spitzen der Bundesregierung und der Großteil der Abgeordneten zum Nationalrat. Es war Ihnen offensichtlich egal, dass Sie Ihr mieses Stück vor laufenden Kameras inszenierten. Sie äfften einander sogar nach. Einer von Ihnen verwendete das Wort »Schmierentheater«. Es kam mir vor, als würden die Kameras Sie erst recht zu Bosheiten animieren. Als seien Gemeinheit und Niedertracht die Maßstäbe für die Qualität Ihrer Politik.

Mir wurden Ihre erhitzten Gesichter zu viel und ich drehte den Fernseher ab. Lasst mich doch in Ruhe, dachte ich. Wenn es heute überhaupt noch etwas werden sollte mit meiner Suppe, dann sollte ich mich jetzt besser aufs Kochen konzentrieren. Doch es gelang mir nicht so recht.

Ich fragte mich, wem Sie mit solchen Stücken imponieren wollen. Wem helfen Sie damit? Während Sie als Bestverdiener einander verbale Ohrfeigen verpassen, nehmen viele betrübliche Schicksale in diesem Land ihren Lauf, die so nicht sein müssten.

Haben Sie an diesem Tag zum Beispiel auch nur einen einzigen Job für einen einzigen jungen Menschen geschaffen? Das wäre doch eigentlich eine Ihrer Aufgaben, oder nicht? Und was ist mit denen, die morgen einen dringenden Arzttermin haben und schon heute wissen, dass sie schwarzfahren müssen, weil sie sich die Fahrkarte nicht mehr leisten können?

Wem haben Sie, die wir in die hohen Ämter gewählt haben, heute geholfen? Wem haben Sie das Leben erleichtert? Wie haben Sie sich heute für uns eingesetzt, damit wir in diesen schwierigen Zeiten auf Besserung hoffen können?

Meine Gedanken schwappten mitsamt der Suppe über, in der ich mittlerweile zu heftig rührte. Rauch und der Geruch von Verbranntem stiegen auf. Ich kann lüften und frischen Wind hereinlassen, dachte ich, während ich das Küchenfenster öffnete. Aber Sie, die feinen Damen und Herren in den guten Kleidern? Wann lassen Sie den frischen Wind, den Sie vor Wahlen so gerne beschwören, endlich wirklich einmal ins Land? Wann gedenken Sie, endlich wirklich einmal für uns da zu sein?

Wer bin ich?

Ich bin das Volk. Ich bin irgendeine Wählerin. Ich bin diejenige, die Sie, meine Damen und Herren in der Politik, fragen, ob ich Ihnen vertrauen möchte. Ich bin diejenige, für die Sie Ihre Parteiprogramme schreiben. Ich bin die Stimme, um die Sie in Ihren Wahlkämpfen buhlen. Ich bin die Person, die den Kugelschreiber, die Kappe, die Autogrammkarte oder den roten Apfel bekommt.

Sie wollen meinen Beifall, mein wohlwollendes Nicken, Sie schütteln gerne meine Hand und sehen mir dabei professionell in die Augen. Sie versuchen, mir die Worte aus dem Mund zu nehmen. Oft, indem Sie über andere schimpfen. Sie wollen mir damit klar machen, dass Sie meine Anliegen kennen und dass Sie genau für diese Anliegen bis ans Ende Ihrer politischen Tage kämpfen werden, weil es ja auch die Ihren sind.

Ich bin die, der Sie sich vorstellen als die Retter meines Haushaltsbudgets, der abstürzenden Mittelschicht, der Umwelt, der Außenseiter und von allem, das ich sonst noch gerettet haben möchte.

Ich bin die, der Sie gerne erzählen, Sie wüssten ganz genau, wie es da unten ist bei uns, dem Volk. Wie es sich anfühlt, kämpfen zu müssen. Ich brauche Sie bloß zu wählen, dann wird alles gut. Und wissen Sie was? Es funktioniert sogar. Bei jeder Wahl tue ich, worauf Sie so scharf sind wie Nachbars Lumpi auf den neuen Postler. Ich mache in der Wahlzelle mein Kreuzchen für einen von Ihnen.

Ich bin auch diejenige, die mit ihren Steuern Ihre Limousinen bezahlt, deren Felgen wahrscheinlich mehr kosten, als ich jemals in einem Monat verdient habe. Ich bin diejenige, die Ihre Gehälter bezahlt und damit für das Wohlergehen Ihrer Familien sorgt. Ich bin diejenige, die damals Ihre Schulbildung und Ihr Studium mitfinanziert hat, damit Sie jetzt, als Politiker, für mich da sein können. So etwas Ähnliches haben Sie ja auch bei Ihrer Angelobung versprochen, oder nicht? Für mich da zu sein.

Gut, Sie haben dieses Versprechen bisher nicht gehalten. Aber dann, vor der Wahl, haben Sie wieder einmal wirklich alles getan, um mich von Ihren Qualitäten als Führungspersönlichkeiten zu überzeugen. Also denke ich jedes Mal in der Wahlzelle: Lassen Sie uns nach vorne blicken. Schwamm drüber, was die Vergangenheit betrifft. Genauso, wie Sie das von mir erwarten.

Ich bin aber auch diejenige, die nach jeder Wahl noch frustrierter ist als davor, und die sich dann immer zwei Fragen stellt:

Geht es mir am Ende doch nicht so gut, wie Sie es mir vor der Wahl eingeredet haben?

Kann die schöne Zukunft, die Sie mir ausgemalt haben, mit Ihnen an der Macht vielleicht doch nicht Realität werden?

Warum zum Beispiel ist mein Gefühl von Wohlstand und Sicherheit soweit aus meinem Alltag verschwunden, dass ich es nur noch mit meiner Jugend in Verbindung bringe? Warum ist es Nostalgie geworden, ein »Damals-Gefühl« aus den 1970er-, 1980er- und auch noch den 1990er-Jahren?

Dann denke ich: Sie sehen und hören uns nicht, weil Sie uns gar nicht sehen und hören wollen. Irgendjemand muss Sie aufwecken. Irgendjemand muss Ihnen sagen, was wirklich los ist in diesem Land.

Genau das werde ich jetzt tun.

Armut, die Sie nicht sehen

Vergangenen Winter hatte ich auf einem Weihnachtsmarkt eine schmerzliche Begegnung. Eine schmächtige alte Frau mit faltigem Gesicht sah mich lieb an und zeigte auf den Kartoffelpuffer in meiner Hand, den ich mir geleistet und von dem ich schon abgebissen hatte.

Sie war keineswegs eine verkommene Alte, wie Sie jetzt vielleicht denken, eine, die wegen Trunksucht oder einer psychischen Erkrankung aus den sozialen Netzen gefallen ist. Sie war alles andere als eine typische Schnorrerin. Sie sah aus, wie vielleicht auch meine Mutter ausgesehen hätte, wenn sie nicht schon in jungen Jahren gestorben wäre. Sie war einfach eine betagte Österreicherin, zurückhaltend und etwas betreten. Eine betagte Österreicherin, die Hunger hatte.

Natürlich gab ich ihr meinen Kartoffelpuffer und natürlich lief ich und kaufte ihr noch einen zweiten, obwohl ich ehrlich gesagt auch ein bisschen aufs Geld schauen muss. Sie bedankte sich höflich und zog sich zurück, um ihre Mahlzeit zu genießen.

Wann, meine Damen und Herren, sind Ihnen das letzte Mal die Tränen in die Augen gestiegen, weil Sie erkannt haben, wie bitter es für manche ist, ihr Leben in unserem Land fristen zu müssen?

Ach ja, ich vergaß. Die Bettler gehören ja alle organisierten Banden an, die in Wahrheit in Schlössern wohnen und sich nur deswegen arm stellen, weil sie einfach faul sind.

Ich weiß.

Österreich war einmal so reich. Hier herrschten einmal nahezu amerikanische Verhältnisse. Vom Tellerwäscher zum Fabrikanten oder von der Stewardess zur Spitzenmanagerin. Solche Aussichten machten das Leben lebenswert. Dass die Wenigsten je so weit kamen, machte gar nichts. Alleine das Wissen um die Möglichkeit, mit Fleiß, Mut und guten Ideen alles erreichen zu können, schuf dieses Gefühl, ein vollwertiger Mensch zu sein.

Österreich war einmal so stark. Wir waren ein humorvolles und geeintes Volk mit pausbackigem Nachwuchs, das sich Zeit für seine Traditionen nahm. Die Alten mussten uns damals nicht verschämt um einen Bissen bitten. Wir hatten Respekt vor ihnen. Wir hörten auf sie, wenn sie uns vom Krieg erzählten und uns warnten. Wir standen in der Straßenbahn und im Bus auf, wenn einer von ihnen einstieg.

Auch damals ging es nicht allen gut, wenden Sie jetzt wahrscheinlich ein. Auch damals gab es Bettler. Doch damals fühlte sich das mit den Armen noch anders an.

Ich wuchs in einem Wiener Gemeindebau mit dem dort typischen dörflichen Charakter auf. Jeder kannte jeden, ob wir wollten oder nicht. Bestimmte Menschen sorgten beharrlich dafür, dass alle mit den neuesten Informationen über alle anderen versorgt waren. So wussten wir dann zum Beispiel, dass auf Stiege 4, Tür 2, eine alte und anscheinend ärmliche Frau eingezogen war. Also schickte die Gemeindebaugemeinschaft eine von den Frauen vor, um in einem freundlichen Gespräch die Lage zu sondieren. Mindestens zwei Mal die Woche brachte in der Folge jemand warmes Essen zu der alten Frau, und dies höchst diskret. Die Erwachsenen achteten darauf, ob sie die Vorhänge regelmäßig auf- und zuzog, und wir Kinder waren angehalten, ihr den Einkauf heim zu tragen, wenn wir sie auf der Straße trafen.

Und heute? Wenn uns jemand um Hilfe bittet, müssen sich viele von uns beschämt abwenden, weil sie selber nicht wissen, wie sie mit ihrem Haushaltsbudget auskommen sollen.

Ich übertreibe? Wenn Sie in Ihren Limousinen an uns vorbeirauschen, fällt Ihnen das nicht auf. Denn vielen von uns sehen Sie die Armut nicht an, meine Damen und Herren. Sie können nicht auf den ersten Blick erkennen, in welcher Sackgasse jemand steckt und wie viele Sorgen er hat.

Jüngst hat mir eine Frau erzählt, dass sie bereits seit einem halben Jahr ohne Strom lebt, weil sie ihn sich nicht mehr leisten kann. Niemals hätte ich vermutet, dass sie in so einer traurigen Situation ist, denn sie war sauber gekleidet und frisiert.

Sie zeigte mir ein kleines Stofftier, das sie verbilligt bei einem Diskonter gekauft hatte. Sie hatte keine zwei Euro dafür bezahlt, für sie ein Betrag von Bedeutung, doch sie hatte einfach nicht widerstehen können, ihrem neugeborenen Enkelkind ein Geschenk mitzubringen. Ich sah ihr an, wie sie die Bescheidenheit dieses Geschenkes grämte, aber sie hielt sich tapfer.

Ich fragte sie, wie sie in der Nacht ohne Licht das Klo findet, denn sie fuhr einen Rollator, mit dem das wahrscheinlich besonders schwierig war. Sie meinte, es wäre witzig, dass ich darauf zu sprechen komme, weil sie erst dieser Tage eine Lösung für dieses Problem gefunden habe.

Jeden Abend vor Einbruch der Dunkelheit würde sie einen Wollfaden vom Bett zur Toilettentür spannen, so straff wie möglich. An dem Faden würde sie sich dann entlangtasten. Das funktioniere prima.

Ich wollte nicht, dass sie sich bloßgestellt fühlt. Deshalb habe ich nicht gefragt, ob sie nicht wenigstens die Mindestsicherung bezieht, oder was sie sonst an Einnahmen und Ausgaben hat. Es gab bestimmt gute Gründe, wieso sie sogar auf den Strom verzichten musste und ihr Leben diesen Lauf genommen hat.

Sie wirkte, zumindest im Rahmen unseres Gespräches, gefasst. Ihr Schicksal bejammerte sie nicht, und das möchte ich ihr zuliebe hier auch nicht tun. Doch wenn ich daran denke, dass Sie, meine Damen und Herren, vor jeder Wahl auch hinter ihrer Stimme her sind, dass Sie dann auch ihr einen Kugelschreiber, eine Kappe, einen Apfel oder eine Autogrammkarte mit Ihrem lächelnden Gesicht darauf schenken, dann schäme ich mich, nicht nur für Sie, sondern auch für mich, die einigen von Ihnen mit meiner Stimme zu Ihren Ämtern verholfen hat. Und ich schäme mich dafür, dass ich ihr nicht diskret helfen kann, weil sich das bei mir einfach nicht ausgeht.

Gerade für meine Generation, die einen gewissen Überblick über die jüngere Geschichte hat, ist es grausam zu sehen, was aus uns geworden ist und wie sich Österreich entwickelt hat.

Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten wir einen echten Sozialstaat. Es gab ein Anreizsystem, das uns motivierte, im Interesse des Landes zu handeln. Es gab zu wenige Eheschließungen, also kam das Hochzeitsgeld. Es gab zu wenig Bevölkerungszuwachs, also kam das Geburtengeld.

Die damaligen Regierungen gaben uns das Gefühl, dass es uns gut geht im eigenen Land. Die Kollektivverträge garantierten akzeptable Mindestlöhne und alle konnten beruhigt ihrem verdienten Ruhestand entgegensehen. Die Renten waren so gut wie gesichert.

Bruno Kreisky hat die Herzen seiner Wählerschaft erobert mit der Ansage, dass ihm ein paar Milliarden Schulden weniger schlaflose Nächte bereiten würden als ein paar hunderttausend Arbeitslose. Volkswirtschaftlich betrachtet mag diese Aussage fragwürdig sein, aber Kreisky hat damit das vertreten, was sich die Mehrheit gewünscht hat.

Klar, die Manager der verstaatlichten Betriebe haben Geld verschwendet, die damaligen Politiker haben mit Posten geschachert und Fehlentscheidungen getroffen, es gab Missmanagement und es mangelte an Kontrolle und strategischer Weitsicht. Dieses System ist selbstverschuldet und zu Recht untergegangen. Jede Kritik daran ist rückblickend berechtigt. Dennoch stand es für eine Politik, in der es noch um die Menschen ging.