2In der globalisierten Welt geht die Angst vor einem Verlust der kulturellen Identität um, und fast überall formieren sich die selbsterklärten Retter: In Frankreich gibt Marine Le Pen vor, sie »im Namen des Volkes« zu verteidigen, die AfD fordert in ihrem Grundsatzprogramm »deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus«, und die Identitäre Bewegung ruft gleich in mehreren Ländern mit aggressiven Aktionen zu ihrer Bewahrung auf.

Doch gibt es überhaupt so etwas wie eine kulturelle Identität? In seinem neuen Buch zeigt François Jullien, dass dieser Glaube eine Illusion ist. Das Wesen der Kultur, so Jullien, ist die Veränderung. Er plädiert dafür, die Vielfalt der Bräuche, Traditionen und Sprachen als Ressourcen zu begreifen, die prinzipiell allen zur Verfügung stehen.

François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist Philosoph und Sinologe. Er war unter anderem Direktor des Collège international de philosophie und Professor an der Universität Paris-Diderot. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2010 mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken.

François Jullien

Es gibt keine kulturelle Identität

Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur

Aus dem Französischen von Erwin Landrichter

Suhrkamp

7Vorbemerkung

Die Forderung nach einer kulturellen Identität hat derzeit überall auf der Welt Konjunktur: in Form einer Wiederkehr des Nationalismus und als Reaktion auf die Globalisierung.

Die kulturelle Identität sei ein Schutzwall: gegen eine von außen drohende Uniformierung; und gegen Gruppen, die Gesellschaften von innen dissoziieren könnten. Wo aber den Cursor platzieren zwischen Toleranz und Assimilation, zwischen der Verteidigung des Einzigartigen und dem Erfordernis von Universalität?

Diese Debatte wird insbesondere in Europa geführt, das plötzlich von Zweifeln am Ideal der Aufklärung erfasst wird. Sie betrifft, ganz allgemein, die Beziehung der Kulturen zueinander und die Richtung, die diese in Zukunft nehmen könnte.

Nun glaube ich, dass man sich in dieser Debatte nicht der richtigen Konzepte bedient: dass hier nicht von »Unterschieden« die Rede sein sollte, welche die Kulturen voneinander isolieren, sondern von Abständen (écarts). Diese Abstände, welche die Kulturen in Gegenüberstellung und daher in Spannung zueinander aufrechterhalten, bringen das Gemeinsame zwischen ihnen zum Vorschein. Außerdem sollten wir nicht von »Identität« sprechen, da Kultur sich 8dadurch auszeichnet, dass sie mutiert, dass sie sich permanent verändert. Angebrachter scheint es mir daher, von Fruchtbarkeit zu sprechen und das ins Auge zu fassen, was ich Ressourcen nennen werde.

Ich werde daher keine französische kulturelle Identität verteidigen, die unmöglich zu identifizieren ist, dafür jedoch die französischen (europäischen) kulturellen Ressourcen – wobei »verteidigen« hier weniger im Sinne von beschützen gemeint ist als vielmehr im Sinne von nutzen oder ausbeuten. Denn selbst wenn klar ist, dass solche Ressourcen in einer Sprache oder im Schoß einer Tradition, in einem bestimmten Milieu oder in einer Landschaft entstehen, sind sie anschließend doch für alle verfügbar und nicht irgendjemandes Eigentum. Anders als »Werte« sind sie nicht exklusiv; sie preisen sich nicht an, und man »predigt« sie nicht. Man bringt sie vielmehr zur Geltung oder nicht, man aktiviert sie oder lässt sie verkommen; ob dies geschieht, liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen.

Eine solche konzeptuelle Verschiebung verlangt im Vorfeld die Neudefinition dreier miteinander rivalisierender Termini: des Universellen, des Uniformen bzw. Gleichförmigen und des Gemeinsamen. Es gilt, sie von ihrer Zweideutigkeit zu befreien. Außerdem führt diese Verschiebung zu einer anderen Sichtweise auf den »Dia-log« der Kulturen: dia von Abzweigung/Abstand und von Verlauf; logos vom 9Gemeinsamen des Intelligiblen. Denn es ist dieses Gemeinsame des Intelligiblen, welches das Menschliche ausmacht.

Irrt man sich in Bezug auf die Konzepte, verstrickt man sich in eine falsche Debatte und steckt von Anfang an in einer Sackgasse fest.