Die Klinik am See – 9 – Hat mein Baby eine Chance?

Die Klinik am See
– 9–

Hat mein Baby eine Chance?

Bange Stunden einer Mutter

Britta Winckler

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-202-3

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In bester Stimmung betrat Dr. Lindau an diesem Morgen die Klinik am See. Freundlich begrüßte er im Vorzimmer seines Büros wenig später seine Sekretärin. »Sie sind ja schon fleißig, Frau Stäuber«, setzte er anerkennend hinzu.

Marga Stäuber freute sich über das Lob und strahlte den Chefarzt an. »Von allein erledigt sich ja die Arbeit nicht«, sagte sie und lächelte.

»Da haben Sie allerdings recht«, entgegnete Dr. Lindau. »Aus diesem Grunde werde ich mich auch an…« Mitten im Satz unterbrach er sich und hob lauschend den Kopf. Er hatte deutlich das Geschrei eines Kindes gehört. Aus seinem nebenan liegenden Büro und Sprechzimmer war es gekommen. Erstaunt sah er seine Sekretärin an. »Da schrie doch eben ein Kind«, stieß er hervor.

Marga Stäuber nickte. »Ja, bei Ihnen drin«, erklärte sie. »Unsere Frau Sieber. Entschuldigung, sie heißt jetzt ja Frau Wendler seit ihrer Heirat…«

»Ja, und was ist mit ihr?« fiel Dr. Lindau der Sekretärin ein wenig ungeduldig ins Wort.

»Sie hat ihr Baby mitgebracht, Herr Doktor.«

»Hierher? Weshalb? Hat ihr Babysitter etwa gekündigt?« fragte Dr. Lindau. Es sollte scherzend klingen, aber in der nächsten Sekunde schon wußte er, daß dieser Scherz mißlungen war.

»Bettinas Baby ist krank«, klärte Marga Stäuber auch sofort ihren Chef auf. »Deshalb hat sie es mitgebracht.«

»Tja, dann…« Dr. Lindau verschwand auch schon in seinem Sprechzimmer. Erneut empfing ihn Kindergeschrei. Er sah im Hintergrund den Kinderwagen stehen. Bettina Wendler versuchte gerade das Kind zu beruhigen. »Hallo, Frau Sieber, oh, pardon, Frau Wendler, wollte ich sagen.«

Die so angesprochene junge Frau richtete sich auf und wandte sich dem Arzt zu. »Nennen Sie mich ruhig wie früher einfach Bettina, Herr Doktor«, rief sie dem Chefarzt zu.

»Gern.« Dr. Lindau trat an den Kinderwagen. »Was ist mit dem Kleinen?« fragte er. »Die Stäuber deutete an, daß er krank ist.«

»Das ist richtig«, bestätigte die Assistentin von Dr. Lindau, die sich noch im Mutterschaftsurlaub befand.

»Seit etwa einer Woche erbricht er sich immer, und es sieht so aus, als ob er Magenkrämpfe hätte.«

»Gewichtsverlust?« fragte Dr. Lindau.

»Ja, das heißt, er nimmt nicht mehr zu, ist dauernd weinerlich und schreit dann wieder vor Hunger«, erklärte Bettina. »Irgendwie muß er auch eine Verstopfung haben, denn…«

»Gut«, fiel Dr. Lindau der jungen Frau ins Wort, »wir werden sofort eine Untersuchung vornehmen. Kommen Sie, wir gehen in die Kinderabteilung zu meiner Tochter und meinem Schwiegersohn. Die sind ja beide Kinderärzte.«

Bettina nahm ihr Baby aus dem Wagen. Dr. Lindau öffnete die Tür und ließ Bettina den Vortritt. »Wir sind drüben in der Kinderabteilung«, rief er seiner Sekretärin zu.

»Ach, Herr Doktor, dann nehmen Sie doch bitte diesen Brief gleich mit«, bat Marga Stäuber. »Er ist für Herrn Dr. Mertens.«

»Mach ich.« Dr. Lindau steckte den Brief ein. »Rufen Sie doch gleich auf der Kinderstation an und sagen Sie Dr. Mertens, daß er ins Untersuchungszimmer kommen soll«, wies er noch rasch die Sekretärin an und folgte dann der schon vorausgehenden Bettina mit ihrem wieder quengelnden Baby.

Dr. Alexander Mertens kam gerade aus dem Stationszimmer, als sein Schwiegervater mit Bettina vor dem Untersuchungszimmer erschien. »Hal­lo«, rief der Kinderarzt, »eben hat die Stäuber angerufen. Geht es um dieses Baby?« Er deutete auf das Kind in Bettinas Armen.

Dr. Lindau nickte. Mit kurzen Worten schilderte er dem Schwiegersohn die Symptome, wie er sie von Bettina gehört hatte. »Wir werden den Kleinen gleich untersuchen«, entschied er.

»In Ordnung.« Dr. Mertens winkte einer Schwester. »Bringen Sie das Baby hinein«, sagte er.

Nur zögernd übergab Bettina ihr Kind der Schwester, die es sofort ins Untersuchungszimmer trug, gefolgt von dem Kinderarzt.

»Bettina, Sie warten am besten drüben im Besucherraum«, sagte Dr. Lindau zu der jungen Mutter. »Ich sage Ihnen dann gleich Bescheid.«

Bettina wagte keinen Einwand, so gern sie auch bei der Untersuchung zugegen gewesen wäre. »Hoffentlich ist es nichts Schlimmes«, flüsterte sie und ging davon.

Dr. Lindau wollte gerade das Untersuchungszimmer betreten, als er plötzlich seine Tochter Astrid den Gang entlangkommen sah. Mißbilligend blickte er sie an, als sie Sekunden später vor ihm stand. »Findest du das denn gut, daß du jetzt noch Dienst machst?« fragte er. »Du solltest dich doch schonen. So kurz vor der Niederkunft…«

»Aber Paps«, unterbrach Astrid ihren Vater lächelnd, »du tust ja gerade so, als würde ich vor einer Katastrophe stehen.« Zärtlich strich sie mit der Hand über ihren gewölbten Leib. »Dem da drinnen passiert schon nichts, und ich fühle mich bestens. Vor einer Woche ist mit der Geburt ohnehin nicht zu rechnen, wie du weißt.«

»Na ja, aber etwas mehr Schonung kann dir in deinem Zustand nicht schaden«, entgegnete Dr. Lindau mit Betonung.

»Ich werde es mir zu Herzen nehmen, Paps«, gab Astrid lächelnd zurück. »Aber was machst du hier auf der Station?« wechselte sie das Thema. »Hast du schon mit der Hauptvisite begonnen?«

Mit wenigen Worten erklärte Dr. Lindau seiner Tochter seine Anwesenheit. »Das Baby ist schon im Untersuchungszimmer, dein Mann auch und ich werde jetzt ebenfalls…«

»Da komme ich mit«, fiel die Kinderärztin dem Vater ins Wort. Beide betraten den Untersuchungsraum, in dem die Schwester das Baby bereits entkleidet hatte.

Dr. Mertens streifte sich gerade die dünnen Gummihandschuhe über die Hände, als er Astrid erblickte. »Liebes«, sagte er besorgt, »du solltest dich doch ausruhen.« Der leise Vorwurf in seinen Worten war nicht zu überhören.

»Aber Alexander«, gab die Kinderärztin lächelnd zurück. »Uns beiden geht es doch gut.« Zärtlich strich sie dabei über ihren Bauch.

»Trotzdem…«

Dr. Lindau schmunzelte. »Dagegen kommst du nicht an, lieber Schwiegersohn«, erklärte er zu Dr. Mertens gewandt. »Was sich Astrid einmal in den Kopf gesetzt hat, das führt sie auch aus. Lassen wir sie also ruhig bei der Untersuchung zugegen sein.«

Dr. Mertens seufzte verhalten. »Also schön, dann beginnen wir«, sagte er und neigte sich über das leise weinende Baby und begann mit der Untersuchung, bei der ihn Dr. Lindau unterstützte. Astrid sah nur zu.

Die Hände der beiden Ärzte tasteten den kleinen Körper ab. »Es scheint eine Anomalie des Magenpförtnermuskels vorzuliegen«, erklärte Dr. Mertens, als er den zarten Körper des Kindes unter dem rechten Rippenbogen abtastete.

»Der Meinung bin ich auch«, stimmte Dr. Lindau zu.

»Also Verdacht auf Pylorusstenose«, sagte Astrid.

»Sieht so aus«, bestätigte Dr. Mertens. »Ich schlage vor, daß wir den Kleinen röntgen und eventuell eine Magenspiegelung vornehmen.«

»Hm, die Spiegelung aber nur, wenn es unbedingt nötig ist«, meinte Dr. Lindau. »Immerhin haben wir es mit einem Baby zu tun.«

»Gut, ich lasse den Kleinen zunächst röntgen«, erklärte Dr. Mertens. »Vielleicht wird dann eine Spiegelung überflüssig.«

Dr. Lindau sagte ernst: »Unter Umständen müssen wir operieren. Das kannst du übernehmen, Alexander.«

»Meinst du damit, daß ich operieren soll?« Dr. Mertens sah seinen Schwiegervater einigermaßen erstaunt an. »Ich bin kein Chirurg, wie du weißt.«

Dr. Lindau lächelte. »Das weiß ich«, entgegnete er. »Aber du kannst dem Kollegen Hoff assistieren, falls ein Eingriff vorgenommen werden muß.«

»Also gut«, gab Dr. Mertens zurück. »Kann ja nicht schaden, wenn man sich als Kinderarzt ein wenig mit der chirurgischen Materie bekannt macht.«

»Eben.« Dr. Lindau wandte sich an seine Tochter, während Dr. Mertens der Schwester einige Anweisungen gab. »Das Baby bleibt in der Klinik, Astrid«, sagte er. »Außerdem schlage ich vor, daß die Mutter ebenfalls Quartier bei uns bezieht, damit sie in der Nähe ihres Kindes ist.«

»Das geht zu machen«, erwiderte die Kinderärztin. »Ich werde das sofort veranlassen. Sprichst du mit Bettina oder soll ich…?«

»Das erledige ich sofort«, fiel Dr. Lindau seiner Tochter ins Wort. »Wir sind uns also einig?« wandte er sich fragend an seinen Schwiegersohn.

»Vollkommen«, kam die Antwort.

»Also dann.« Dr. Lindau ging zur Tür, drehte sich dort aber um. »Fast hätte ich es vergessen«, murmelte er und zog den Brief aus der Tasche, den ihm seine Sekretärin mitgegeben hatte. »Für dich, Alexander«, sagte er und reichte Dr. Mertens den Brief.

»Danke.« Dr. Mertens steckte den Brief ein. Er würde ihn später lesen. Im Augenblick hatte er anderes zu tun.

»Wir sehen uns nachher bei der Visite.« Dr. Lindau verließ das Untersuchungszimmer, um die wartende Bettina zu informieren.

*

Wie Dr. Mertens schon bei der ersten Untersuchung vermutet hatte, handelt es sich bei Bettina Wendlers Baby tatsächlich um eine Pylorusstenose, also um eine Verengung des Ringmuskels, der den Weitertransport der Nahrung durch den Zwölffingerdarm in den Dünndarm regelt. Die Röntgenuntersuchung hatte es bestätigt.

»Ich werde das nachher bei der Besprechung gleich zur Sprache bringen«, gab er seiner Frau zu verstehen, der er die Röntgenaufnahmen zeigte.

»Glaubst du, daß operiert werden muß?« fragte Astrid.

Alexander Mertens zuckte mit den Schultern. »Wir werden zunächst versuchen, mit Medikamenten gegen die vermehrte Magensäureproduktion anzugehen, um eine Linderung der Stenose zu erreichen«, sagte er, »und dem Kleinen krampflösende Mittel verabreichen.«

»Hoffentlich hilft das«, gab Astrid zu bedenken. »Babys reagieren anders als Erwachsene.«

»Das ist mir klar«, pflichtete Dr. Mertens seiner Frau bei. »Wenn nicht, dann wird ein Eingriff wohl unumgänglich sein. In ein paar Tagen werden wir es wissen.«

Als Astrid mit ihrem Mann allein im Dienstzimmer war, fiel ihr plötzlich etwas ein. »Alexander, hat dir Paps nicht einen Brief gegeben?« fragte sie.

Dr. Mertens stutzte. »Richtig«, stieß er hervor. »Den hätte ich fast vergessen.« Er zog den Brief aus seiner Manteltasche hervor, drehte ihn um und las den Absender. In seinen Augen blitzte es erstaunt auf. »Von Peter Stolpe«, kam es über seine Lippen.

»Wer ist das?« wurde Astrid neugierig und trat näher.

»Das ist mein einziger und bester Freund«, erwiderte Dr. Mertens. »Mit ihm zusammen habe ich die Schulbank gedrückt und auch an der gleichen Universität studiert.« Erinnerungen meldeten sich bei ihm. »Wir waren oft genug der Schrecken unserer Professoren.« Ein fröhliches Lachen kam aus seinem Mund. »Wenn ich an die verschiedenen Bergtouren denke, die wir zusammen unternommen haben, dann…«

»Ist er auch Arzt?« fragte Astrid dazwischen.

»Nein, er hatte damals Naturwissenschaften belegt und ging meines Wissens danach nach Berlin, um in der Forschungsabteilung irgendeines großen Konzerns zu arbeiten.«

»Seither hast du nichts mehr von ihm gehört?«

Dr. Mertens schüttelte den Kopf. »Dieser Brief ist das erste Lebenszeichen von ihm nach einer Reihe von Jahren«, erklärte er.

»Na, dann lies ihn doch endlich«, rief Astrid.

Dr. Mertens ließ sich das nicht zweimal sagen. Er schlitzte den Umschlag auf, entnahm ihm einen engbeschriebenen Bogen Papier und las.

Astrid störte ihn nicht dabei. Erst als er mit dem Lesen fertig war, konnte sie ihre Neugierde nicht länger zügeln. »Nun?« fragte sie. »Was schreibt dein Freund?«

»Alles mögliche«, antwortete Dr. Mertens. »Daß er verheiratet ist, bald Vater wird und sich im Augenblick mit seiner Frau zur Erholung ganz hier in unserer Nähe befindet.«

»Wie schön«, gab Astrid zurück. »Wo denn?«

»In Bad Wiessee.«

»Dann lade ihn und seine Frau doch einmal zu uns ein«, schlug Astrid vor. »Deine Freunde sind schließlich auch die meinen, die ich ganz gerne auch kennenlernen möchte. Außerdem neh­me ich an, daß ihr euch nach so viel Jahren doch eine Menge zu erzählen habt. Oder?«

»Selbstverständlich werde ich ihn und seine Frau einladen, obwohl…« Dr. Mertens sprach nicht weiter. Er sah Astrid nur sinnend an.

»Obwohl?« hakte Astrid nach.

»Nun ja, Peter hat sich in diesem Brief schon selbst eingeladen«, erwiderte Dr. Mertens. »Noch anders aus gedrückt, er hat mich eingeladen, zu einer Bergtour nämlich. Und das schon fürs kommende Wochenende.« Sekundenlang war in seinen Augen ein Ausdruck von Enttäuschung, ja, fast Resignation zu erkennen. »Leider«, murmelte er.

Astrid sah ihren Mann erstaunt an. »Leider? Weshalb? Was meinst du damit?« wollte sie wissen. »Freust du dich denn nicht? Du liebst es doch, in den Bergen herumzusteigen.«

»Das schon«, gab Alexander zu, »und so gern ich mit Peter wieder einmal in die Berge gehen möchte, muß ich aber absagen.«

»Weshalb das denn?« fragte Astrid verwundert.

»Das solltest du doch wissen, Liebes«, gab Dr. Mertens zurück.

»Glaubst du wirklich, ich steige in die Berge, während du unmittelbar vor der Entbindung stehst?« Heftig schüttelte er den Kopf. »Nein, das kommt nicht in Frage. Ich werde Peter anrufen und ihm sagen, daß er am Sonntag mit seiner Frau zu uns kommen soll.«

»Anrufen, ja, das mußt du«, entgegnete Astrid. »Aber du sollst nicht diese Bergtour absagen. Gib es doch zu, daß du dich darauf sehr freuen würdest. Ich kenne dich doch.« Sie lächelte.

»Nun ja, das ist schon richtig, aber…«

»Kein aber, mein lieber Alexander«, widersprach Astrid. »Du kannst eine solche Abwechslung, die dir außerdem noch Freude bereitet, gut gebrauchen. Die beiden Tage kann ich durchaus auch einmal ohne dich auskommen.«

»Aber du bekommst in wenigen Tagen unser Baby«, wandte Dr. Mertens ein.

»In sechs Tagen, ja«, bestätigte Astrid. »Heute haben wir Donnerstag. Also wird es am Dienstag so weit sein. Bis dahin bist du doch längst wieder von dieser Bergtour zurück. Wohin soll die eigentlich gehen?«

»Peter hat in dem Brief die Rotwand vorgeschlagen«, erklärte Dr. Mertens seiner Frau. »Er meint, daß wir Samstag zeitig aufbrechen und am Sonntagabend wieder zurück sein würden.«

»Sag deinem Freund zu. Seine Frau könnte ja in diesen beiden Tagen bei mir bleiben, wenn sie möchte.«