Der Bergpfarrer – 164 – Die Heimat im Herzen

Der Bergpfarrer
– 164–

Die Heimat im Herzen

So hat sich Andreas seine Heimkehr nicht vorgestellt

Toni Waidacher

Impressum:

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-209-2

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Andreas Brandner schlug fröstelnd den Kragen seiner Jacke hoch. Ein kalter Wind fegte über den Bahnhofsvorplatz und trieb Papierschnitzel vor sich her. Langsam ging der junge Mann zur Bushaltestelle hinüber, den kleinen Koffer in der rechten Hand, und schaute sich den Fahrplan an. Mißmutig stellte er fest, daß der Bus erst in einer Stunde abfahren würde. Offenbar war es doch ein Fehler gewesen, in München den ersten Zug zu nehmen, aber an die Abfahrtszeiten hatte er sich nicht mehr erinnert.

Die vollgekritzelte Bank in dem Wartehäuschen wirkte wenig einladend, doch war man hier immerhin vor dem Wind geschützt.

Schaut net so aus, als ob dir bei deiner Heimkehr ein freundlicher Empfang bereitet wird, dachte Andreas, mit einem Anflug von Sarkasmus. Zumindest net, was das Wetter angeht.

Am Himmel hingen dunkle Wolken, und wenn es der Wind nicht schaffte, sie zu vertreiben, würde es kein guter Tag werden. Und ob es für ihn persönlich ein guter Tag werden würde, hing dabei ganz alleine von der Reaktion seines Vaters ab.

Der Bauernsohn lehnte sich seufzend an die Rückwand des Wartehäuschens und schloß die Augen. Mit einem Male waren die Euphorie und sehnliche Erwartung wie weggeblasen, ja, wenn er ehrlich war, dann mußte Andreas sich sogar eingestehen, daß er Angst vor dem Wiedersehen hatte.

Aber vielleicht ist diese Angst ja auch unbegründet, versuchte er sich einzureden. Immerhin sind vier Jahre vergangen, da muß doch auch der ärgste Zorn einmal verraucht sein.

Vor vier Jahren hatte er die Heimat verlassen. Freiwillig war er gegangen und doch gezwungenermaßen. Franz Brandner, sein Vater und »Alleinherrscher« auf dem Hof, hatte seinem Sohn nie ein Mitspracherecht einräumen wollen. Stets hatte er alles alleine entschieden und nie eine andere Meinung geduldet.

Andreas, der den Abschluß der Landwirtschaftsschule mit »sehr gut« gemacht hatte, wollte gerne neue Wege gehen. Der Bauernsohn war immer interessiert und bildete sich in seinem Beruf weiter. Er wußte, daß die Art des Wirtschaftens, wie sein Vater sie immer noch anwandte, im Begriff war, auszusterben. Sie mußte es ganz einfach, wenn man als Bauer in der heutigen Zeit Erfolg haben wollte. Während der Altbauer kein Interesse an Neuerungen hatte, begeisterte sich der Sohn für alternative Formen der Landwirtschaft, insbesondere was den Wandel vom herkömmlichen Anbau zum biologischen betraf. Andreas hatte mehrmals Höfe besucht, auf dem ökologische Landwirtschaft betrieben wurde, und wenn es auch oft ein langer Weg war, bis sich der Erfolg einstellte, so stellte er immer wieder fest, daß es sich für die Kollegen letzten Endes doch gelohnt hatte. In den letzten Jahren waren sich immer mehr Verbraucher bewußt geworden, daß von einer gesunden Ernährung mehr abhing, als ein gefüllter Magen. Die Umsätze in den Geschäften, die biologisch angebaute Lebensmittel verkauften, stiegen immer mehr. Es war eine Wachstumsbranche, und ein Ende dieser positiven Entwicklung war nicht abzusehen.

Während Andreas Brandner das rasch erkannte, tat sein Vater alles als neumodischen Kram und als Unsinn ab und fuhr weiter in den eingefahrenen Gleisen. Darüber kam es immer wieder zum Streit, und eines Tages, als es eine besonders heftige Auseinandersetzung gegeben hatte, packte Andreas seine Sachen und verließ den Hof.

Vier Jahre hielt er es in der Fremde aus. Er fand Arbeit auf einem Bauernhof in Franken, auf dem genauso gewirtschaftet wurde, wie er es sich immer für den väterlichen Hof gewünscht hatte. Es war eine schöne Zeit, und der junge Brandner lernte viel. Doch tief in seinem Herzen war da immer noch die Sehnsucht nach der Heimat und den Eltern. Es dauerte dennoch, bis er ernsthaft an eine Rückkehr dachte. Seine Briefe waren unbeantwortet geblieben, bis er es schließlich aufgab, welche zu schreiben. Andreas nahm es als Zeichen, daß er zu Hause nicht mehr willkommen war, daß seine Eltern mit ihm gebrochen hatten.

Und doch hielt er es nicht mehr länger aus und kündigte die Stelle. Schon als er gestern abend in Nürnberg in den Zug gestiegen war, stellte er sich die Frage, ob es richtig war, was er tat. Plötzlich traute er sich nicht weiter. Anstatt durchzufahren, stieg er in München aus und übernachtete in einer Pension in Bahnhofsnähe. Stundenlang dachte Andreas über eine Umkehr nach, doch am Morgen nahm er den ersten Zug, der ihn zurück ins Wachnertal brachte, und da saß er nun in einem zugigen Buswärterhäuschen und fühlte sich hundeelend.

Beinahe hätte er vergessen, einzusteigen, so sehr war er mit seinen Gedanken beschäftigt. Erst als der Fahrer ihn ansprach, schien Andreas aufzuwachen.

»Also, ich fahr’ jetzt nach St. Johann«, sagte der Busfahrer, ein wenig über den seltsamen Fahrgast zu dieser frühen Stunde erstaunt. »Wenn du auch mitfahren willst, dann mußt’ jetzt einsteigen.«

Der Bauernsohn nickte rasch, griff sich seinen Koffer und zahlte den Fahrpreis. Dann setzte er sich nach hinten und hielt den Koffer auf seinem Schoß.

Viel zu schnell erreichte der Bus sein Ziel, und Andreas Brandner spürte seine Knie zittern, als er ausstieg…

*

Den Koffer in der Hand stieg er die Wiese hinauf. Hin und wieder blieb Andreas stehen und schaute sich um. Ein tiefes, glückliches Gefühl durchströmte ihn, als er die Berge betrachtete, die grünen Almen, das Dorf, das inzwischen unter ihm lag.

Lange hatte er sich in St. Johann nicht aufgehalten. Die meisten Menschen schliefen noch, und die wenigen, die ihm begegneten, erkannten ihn nicht.

Dabei hatte sich Andreas Brandner kaum verändert. Er war ein wenig älter geworden, gewiß, und die blonden Haare trug er länger als früher. Aber immer noch hatte er dieses markante, freundliche Gesicht. Von Gestalt her war der Bauernsohn schlank geblieben. Weil es inzwischen warm geworden war, hatte er die Jacke ausgezogen, und unter dem Hemd spannte sich der muskulöse Oberkörper.

Der junge Bursche drehte sich um und sah den Berg hinauf. Querfeldein war er gegangen und hatte so den Weg abgekürzt. Jetzt war es nur noch ein kurzes Stück, bis er den Brandnerhof erreicht hatte. Schon konnte er die Schindeln des Daches sehen, das durch die Bäume schimmerte.

Mit einem Mal beschleunigte sich sein Schritt, als könne er es gar nicht mehr erwarten, nach Hause zu kommen. Andreas kletterte von der Wiese auf die Bergstraße und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Er packte seinen Koffer fester und lief das letzte Stück fast. Ein drohendes Knurren ließ ihn verharren, und im nächsten Moment fegte ein dunkler Hund auf ihn zu.

»Blacky!«

Das Tier blieb abrupt stehen. Diese Stimme kannte der Hund. Er gab ein freudiges Jaulen von sich und stürmte Andreas entgegen. Der hatte den Koffer abgestellt und umfaßte den Mischling, der sich aufgestellt und seine Vorderpfoten auf die Brust des Mannes gelegt hatte, mit beiden Händen.

»Mein Guter!« rief Andreas. »Paßt du immer noch auf, daß niemand einbricht?«

Er streichelte Blackys Kopf, und der Hund konnte sich gar nicht beruhigen. Erst als Andreas in die Hände klatschte, ließ er von ihm ab und rannte zur Hofeinfahrt.

Der Bauernsohn atmete tief durch. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.

Wie sehr hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt!

Seine Knie zitterten wieder, als er den Hof betrat. Nichts hatte sich hier verändert, außer, daß das Haus einen neuen Anstrich erhalten hatte. Aber sonst war alles noch so wie früher. Er ging zur Haustür und klopfte an. Wahrscheinlich waren sein Vater und der Knecht schon auf dem Feld, aber seine Mutter mußte zu Hause sein. Andreas wartete, und sein Herz klopfte rasend, als er Schritte hörte. Dann schwang die Tür auf, und das Gesicht seiner Mutter bekam einen erstaunten Ausdruck, als sie ihn erkannte.

»Grüß dich, Mama«, sagte Andreas. »Da bin ich wieder.«

Katrin Brandner preßte die Hand vor den Mund, und ein Aufschrei entrang sich ihren Lippen.

»Andreas! Mein Bub…«

»Ja«, lachte er, »ich bin’s wirklich.«

Er hatte den Koffer fallen gelassen und breitete die Arme aus. Die Bäuerin warf sich an seine Brust, und Tränen liefen ihr über das Gesicht.

»Ich kann’s noch gar net glauben«, schluchzte sie.

»Wie geht es dir?« fragte Andreas. »Ich hoff’, du bist gesund?«

»Ja, ja«, nickte sie. »Und jetzt, wo du wieder da bist…, ach, vielleicht wird jetzt alles gut.«

Er schaute sie fragend an, weil er nicht begriff, worauf sich ihre Hoffnung bezog.

Auf die Versöhnung mit dem Vater, oder lag sonst etwas auf dem Hof im Argen?

»Was meinst’ denn?«

Die Bäuerin schüttelte den Kopf.

»Komm erstmal herein«, sagte sie. »Du mußt doch Hunger haben. Bist’ etwa den ganzen Weg zu Fuß heraufgekommen?«

»Das macht mir nix«, lächelte er. »Das weißt’ doch.«

Früher war er immer auf Schusters Rappen nach St. Johann gegangen. Weil es ihm Spaß machte und er das Geld für das Benzin sparen wollte.

Er nahm den Koffer wieder auf und wollte seiner Mutter ins Haus folgen. Doch auf der Schwelle blieb er stehen.

»Vater…, ist er daheim?«

Die Bäuerin verneinte.

»Er ist mit dem Sepp aufs Feld gefahren.«

Andreas betrat die Diele. Auch hier war in den Jahren seiner Abwesenheit nichts verändert worden, und mit einem Aufatmen sah er, daß die Fotografie, die ihn auf dem Traktor zeigte, als er das Heu einfuhr, immer noch an seinem Platz über der Kommode hing.

Ein gutes Zeichen?

In der Küche setzte er sich auf seinen alten Platz auf der Eckbank. Seine Mutter war schon dabei, Kaffee zu kochen und Brot, Butter und Wurst auf den Tisch zu stellen.

»Hast’ denn überhaupt gefrühstückt?« erkundigte sie sich.

»Ja, heut’ in aller Frühe, in der Pension«, antwortete er.

Indes verschwieg er, daß er vor lauter Aufregung kaum einen Bissen herunterbekommen hatte.

Als er jetzt in das Brot biß, da schmeckte es immer noch so gut wie früher.

Auf dem Brandnerhof wurde es selbst gebacken, und Andreas wußte, daß dieser Geschmack eines von vielen Dingen war, die er in der Fremde vermißt hatte.

»Erzähl«, forderte seine Mutter ihn auf. »Wie ist’s dir ergangen? Wo hast’ eigentlich die ganze Zeit gesteckt?«

Sie schaute ihn forschend an.

»Gut schaust’ aus«, nickte Katrin Brandner dann zufrieden.

Andreas holte tief Luft und stellte die Frage, die ihm seit Jahren auf der Seele lag.

»Warum habt’ ihr eigentlich nie meine Post beantwortet«, wollte er wissen, »und meine Briefe immer wieder ungeöffnet zurückgeschickt?«

Die Augen der Bäuerin weiteten sich.

»Was sagst’ da?« fragte sie leise. »Briefe von dir? Davon weiß ich nix!«

Stumm schauten sie sich an, und beide wußten, wer Andreas’ Lebenszeichen ignoriert hatte.

»Er hat’s nie verwinden können«, erklärte Katrin Brandner schließlich, »daß du damals ohne ein Wort gegangen bist.«

»Was hätt’ ich denn tun sollen?« begehrte der Sohn auf. »Zuschauen, wie Vater den Hof zugrunde richtet, mit seinen verstaubten Ansichten?«

Er beugte sich vor.

»Mutter«, sagte er eindringlich, »ich hab’ vier Jahre auf einem Hof geschafft, wo genauso gewirtschaftet wird, wie ich’s immer wollte. Glaub’ mir, der Bauer hat weniger Grund als wir, aber sein Gewinn ist höher, weil er die Zeichen der Zeit erkannt und sich rechtzeitig umgestellt hat. Und wir könnten das auch schaffen. Wenn Vater mich nur ließe…«

Die Bäuerin schüttelte den Kopf.

»Einem alten Esel kann man keine Kunststücke mehr beibringen«, entgegnete sie. »Und deinen Vater wirst’ net umstimmen können. Er macht’s so, wie er’s für richtig hält, weil’s so schon immer gemacht worden ist.«

Ein bitterer Zug glitt über das Gesicht des Burschen.

»Dann ist also immer noch alles so, wie früher«, sagte er enttäuscht. »Es hat sich nix geändert.«

»Und der Vater wird nix ändern.«

Andreas hob die Schulter und ließ sie wieder fallen.

»Vielleicht ja doch, wenn ich mit ihm geredet hab’.«

Seine Mutter schaute ihn unsicher an.

»Ich weiß noch gar net, wie er darauf reagieren wird, daß du wieder da bist«, flüsterte sie beinahe.

»Du meinst…, er trägt’s mir immer noch nach, daß ich gegangen bin?«

Die Bäuerin schwieg bedrückt.

»Dann soll er’s mir sagen, wenn ich hier net erwünscht bin«, setzte Andreas hinzu.

Innerlich wappnete er sich bereits für die Auseinandersetzung mit seinem Vater.

*

Es war gegen Mittag, als Franz Brandner auf den Hof zurückkehrte. Andreas hatte sich auf Anraten seiner Mutter in seiner alten Kammer aufs Bett gelegt und tatsächlich zwei Stunden geschlafen. Als er wieder erwachte und sich umschaute, war es ein eigenartiges Gefühl, hier zu liegen.