Der kleine Fürst – 164 – Die schöne Charlotte

Der kleine Fürst
– 164–

Die schöne Charlotte

Wirklich nur unnahbar und gefühlskalt?

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-210-8

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»Etwas ist seltsam hier«, sagte Charlotte von Sedern zu ihrer Freundin Clarissa von Bouvet. »Seit Tagen habe ich das Gefühl, als würde ich beobachtet.« Sie stand an einem Fenster ihres großen Wohnzimmers in dem alten Gründerzeithaus, in dem sie sich eingemietet hatte, als sie nach Deutschland zurückgekehrt war. Sie würde vermutlich nicht hierbleiben, aber für den Augenblick gefiel es ihr. Überall standen Umzugskisten herum, sie war noch nicht dazu gekommen, alles auszupacken. Aber einige Bilder hingen immerhin an den Wänden, und die Sitzecke mit Sofa und Sesseln sah schon sehr gemütlich aus.

»Ein Verehrer bestimmt«, erwiderte Clarissa. »Das ist doch nichts Ungewöhnliches. Du hattest immer viele Verehrer, Charly.«

Sie sagte das ohne jeden Neid. Clarissa war nicht schön wie Charlotte, sie hatte nicht deren aufregende Figur, ihr ansteckendes Lachen, ihre lebhaft funkelnden Augen, die dichten hellbraunen Locken. Clarissa war die Unauffälligkeit in Person, aber sie war ein rundum glücklicher Mensch. Ihr Mann, Bernhard, sah ähnlich unauffällig aus wie sie: Sympathisch und klug, weder schön noch hässlich. Sie hatten sich gesucht und gefunden, zwei Kinder bekommen, ein Haus gebaut, und sie hofften, dass sie ihr unauffällig glückliches Leben noch lange führen konnten.

»Quatsch«, murmelte Charlotte. »Ich meine keinen Verehrer, ich meine eher ein …, ein allgemein seltsames Gefühl von Beobachtetwerden. Kennst du das nicht? Dieses Gefühl, dass dir auf Schritt und Tritt Blicke folgen, vielleicht sogar aus heimlich installierten Kameras?«

Clarissas Blick wurde besorgt. »Sag mal, fängst du jetzt an zu spinnen? Ist während deines Aufenthalts in Südamerika etwas passiert, das …« Sie brach ab. »Entschuldige, aber ich weiß nicht, was ich denken soll. An Verfolgungswahn hast du bisher noch nie gelitten.«

»Ich fühle mich nicht verfolgt, nur beobachtet.«

»Kommt das nicht letzten Endes auf dasselbe hinaus?«

»Keine Ahnung. Vergiss es, ich hätte es nicht erwähnen sollen. Oh, da ist er wieder.«

»Wer?«

»Dieser elegante Mann, der auch hier im Haus wohnt, der Große, der es immer so wahnsinnig eilig hat.«

»Gefällt er dir?«

Charlotte wandte sich vom Fenster ab und ließ sich neben ihre Freundin auf das Sofa fallen. »Nein«, antwortete sie entschieden. »Ich mag keine Männer, die mich noch nicht einmal richtig ansehen, wenn sie mir begegnen und die nicht höflich grüßen können.«

Clarissa lachte leise. »Du meinst, du magst Männer nicht, die deine Schönheit nicht zu würdigen wissen.«

»Jetzt bist du ungerecht. Das ist nicht nett von dir, Clärchen.«

Clarissa legte einen Arm um ihre Freundin, Charlotte ließ den Kopf an ihre Schulter sinken. »Ich bin froh, wieder in Deutschland zu sein«, sagte sie. »Es war toll in Sao Paulo, ehrlich, aber auch sehr anstrengend.« Sie war im Auftrag einer international tätigen deutschen Firma dort gewesen, um geschäftliche Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. Sie hatte großen Erfolg gehabt, war dann aber auf eigenen Wunsch nach Deutschland zurückgekehrt.

»Was hast du jetzt eigentlich vor?«

»Die Firma hat mir einen Inlandsposten angeboten, ich denke noch darüber nach, ob ich ihn annehme. Netzwerke knüpfen kann ich ja auch von hier, und sie denken wohl, ich sollte am besten da weitermachen, wo ich aufgehört habe. Mal sehen. Nächste Woche arbeite ich meinen Nachfolger ein, falls eine Woche reicht, das wird wahrscheinlich nicht ganz einfach. Danach habe ich erst einmal Urlaub, sechs Wochen lang, und die werde ich auskosten.«

»Wie? Weißt du das schon?«

»Keine festen Pläne bisher. Die Familie besuchen, ein paar Freunde, aber vor allem will ich mich ausruhen. Mal wieder bis mittags schlafen, eine halbe Nacht lang ein Buch lesen oder stundenlang vor dem Fernseher hängen. Solche Dinge eben, die für mich in den letzten Jahren nicht einmal vorstellbar waren. Das ist für mich wahrer Luxus.«

»Kann ich verstehen«, sagte Clarissa verträumt. »Mir geht es ähnlich.«

Charlotte hob den Kopf. »Ja?«, fragte sie ungläubig.

»Dachtest du, mit zwei Jungs von vier und sechs Jahren könntest du es dir leisten, eine halbe Nacht lang zu lesen? Ich bin abends meistens so müde, dass ich direkt nach den Nachrichten schon einschlafe. Oft denke ich morgens: Wie gern würde ich jetzt noch liegen bleiben, aber daran ist überhaupt nicht zu denken.«

»Und du arbeitest ja außerdem noch.«

Clarissa gab Musikunterricht an einer privaten Musikschule. Seit der Geburt ihres ersten Sohnes arbeitete sie nur noch halbtags.

»Ja, und bald werden wir zu fünft sein.«

Mit einem Ruck richtete sich Charlotte auf und sah ihre Freundin entgeistert an. »Du bist wieder schwanger? Und das erzählst du mir erst jetzt und dann noch so nebenbei?«

»Entschuldige, ich dachte, das wäre jetzt erst einmal nicht so wichtig. Dies ist unser erstes Wiedersehen seit drei Jahren, da muss ich doch nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.«

Charlotte umarmte ihre Freundin. »Wolltet ihr das? Ist es ein Wunschkind?«

»Du kennst doch Bernd! Er möchte unbedingt noch eine Tochter haben – na ja, und ich eigentlich auch. Also haben wir gesagt, wir versuchen es noch einmal. Aber ich habe ihm schon angekündigt, dass dies das letzte Mal ist. Einen weiteren Versuch wird es nicht geben, nach drei Kindern ist Schluss. Wir möchten übrigens beide gern, dass du Taufpatin wirst. Bei den Jungs mussten wir ja Bernds Brüder berücksichtigen, aber weitere Verwandte, die beleidigt sein könnten, wenn wir sie übergehen, gibt es nicht. Also bist du jetzt endlich dran.«

Charlotte war so gerührt, dass ihre Augen feucht wurden. »Sehr gern«, sagte sie. »In welchem Monat bist du?«

Clarissas Lächeln wurde verlegen. »Aber werde bitte nicht gleich wütend, wenn ich es dir sage, ja?«

»Wütend? Wieso denn?«

»Ich bin schon im sechsten Monat, und ich weiß, ich hätte es dir viel früher sagen sollen, aber irgendwie wollte ich, dass wir beieinandersitzen, wenn ich es dir erzähle. So finde ich es schöner. Ich wollte deine Reaktion sehen.«

»Im sechsten Monat? Aber man sieht überhaupt noch nichts!«

Clarissa schlug ihre dicke und weite Strickjacke auseinander und lachte. »Ich habe den Bauch nur gut versteckt, noch geht das.«

»Bäuchlein«, korrigierte Charlotte und legte liebevoll eine Hand auf die kleine Kugel, die sich über Clarissas Hosenbund wölbte. »Und wie soll das Mädchen heißen?«

»Was für eine bemerkenswert dumme Frage für eine kluge Frau!«, rief Clarissa. »Charlotte natürlich, was dachtest du denn?«

Charlotte gab ihr einen Kuss. Kurz darauf verabschiedete sich Clarissa. »Übermorgen bei uns zum Abendessen, vergiss das nicht!«

»Wie könnte ich? Ich freue mich so darauf, Bernd und die Jungs wiederzusehen. Außerdem habe ich euch allen etwas mitgebracht, ich muss die Sachen nur zuerst finden. Aber ich habe ja noch zwei Tage Zeit, um die restlichen Kisten auszupacken. Umziehen ist schrecklich.«

Die meisten Sachen waren während der Zeit von Charlottes Abwesenheit eingelagert gewesen. Ursprünglich hatte sie nicht vorgehabt, mehrere Jahre in Sao Paulo zu bleiben, aber dann hatte ihr die Tätigkeit so viel Spaß gemacht, dass letzten Endes doch drei Jahre daraus geworden waren, bevor der Drang zur Rückkehr in die Heimat übermächtig geworden war.

Sie brachte Clarissa zur Tür. Als sie wieder allein war, geriet sie in Versuchung, sich noch einmal gemütlich auf dem Sofa auszustrecken und gar nichts zu tun. Doch als ihr Blick auf die noch unausgepackten Umzugskisten fiel, riss sie sich zusammen. Es wurde Zeit, dass sie sich häuslich einrichtete, auch wenn sie vielleicht nicht lange in dieser Wohnung blieb.

Aber vielleicht blieb sie ja doch. Das Haus war hübsch, der Ort war es auch, Clarissa wohnte in der Nähe. Eigentlich, wenn man es recht bedachte, lag die Wohnung sogar ideal. Schwungvoll öffnete sie den ersten Karton und begann damit, die Bücher, die sich darin befanden, in das bereits aufgestellte, aber noch völlig leere Regal zu räumen.

*

Auf Schloss Sternberg, das hoch über dem Ort Sternberg thronte, herrschte eine deutlich spürbare angespannte Stimmung, die sich noch verstärkt hatte, seit Kriminalrat Volkmar Overbeck mit seinem engsten Mitarbeiter Arndt Stöver eingetroffen war. Beide saßen mit Baronin Sofia und Baron Friedrich von Kant in der Bibliothek, die nach einhelliger Meinung der gemütlichste Ort im gesamten Schloss war. Im Kamin prasselte ein Feuer, aber die Atmosphäre war dennoch nicht behaglich.

Eberhard Hagedorn, der schon seit Jahrzehnten Butler im Schloss und in dieser Zeit unentbehrlich geworden war, hatte Tee und Kaffee serviert und sich danach zurückgezogen. Die Teenager, Sofias und Friedrichs Kinder Anna und Konrad, sowie Sofias Neffe Christian von Sternberg, waren noch in der Schule, was den beiden Kriminalbeamten nur recht war. Es war kein erbauliches Gespräch, das sie mit der Baronin und dem Baron zu führen hatten. Aufgeweckte Teenager, die viel zu viele Fragen stellten, hätten dabei nur gestört.

»Das Haus, in dem Sven Helmgart jetzt untergeschlüpft ist, unter fremdem Namen natürlich, steht rund um die Uhr unter Bewachung«, sagte der Kriminalrat. »Uns ist bewusst, dass Sie alle sich einen schnellen Zugriff von unserer Seite wünschen, doch wir haben unsere Gründe, noch zu warten. Es geht nämlich nicht nur um Sven Helmgart. Er hat uns bereits zu einem weiteren Mann geführt, den wir seit Langem gesucht haben, aber nie ausfindig machen konnten. Jetzt wissen wir, wo er sich aufhält und was er macht.«

»Wir haben Verständnis für Ihr Vorgehen, aber es kostet uns Nerven, Herr Overbeck«, erwiderte die Baronin. Ihr Blick war auf das Feuer im Kamin gerichtet, sie war sehr blass.

»Ich bedauere das aufrichtig, Baronin von Kant«, versicherte der Kriminalrat.

»Es wird nicht mehr lange dauern«, warf sein jüngerer Kollege Arndt Stöver ein. »Er hat keine Chance, uns noch einmal zu entkommen, da können Sie ganz sicher sein.«

»Auch wenn Sie mich jetzt für unverschämt halten«, erwiderte daraufhin Baron Friedrich, »aber wir sind keineswegs sicher. Er ist der Polizei sein Leben lang entwischt. Warum sollte sich das ausgerechnet jetzt ändern?«

»Erstens, er ist nicht mehr ganz jung, auch ihn strengt es an, auf der Flucht zu sein. Und zweitens, wir haben mehr Erfahrung und wissen sehr genau, mit wem wir es zu tun haben.« Der Kriminalrat beugte sich ein wenig vor. »Ich verstehe Ihre Skepsis. Sie haben ein furchtbares Jahr hinter sich, in dem sich Unglück an Unglück gereiht hat, und ich gestehe gern, dass wir, die Polizei, auch dazu beigetragen haben, weil uns nicht alles so gelungen ist, wie wir uns das gewünscht haben.«

»Ich kann Ihnen leider nicht widersprechen«, murmelte der Baron. »Allerdings war die Polizei an dem Unglück, mit dem alles angefangen hat, nun wirklich vollkommen unschuldig.«

Er spielte auf den tragischen Unfall des Hubschraubers an, mit dem Fürstin Elisabeth und Fürst Leopold von Sternberg ein knappes Jahr zuvor Opfer einer Sturm­katas­trophe hatten besuchen wollen. Der Hubschrauber war abgestürzt, das Fürstenpaar und der Pilot waren ums Leben gekommen. Seitdem war Prinz Christian von Sternberg, der einzige Sohn von Elisabeth und Leopold und zukünftiger Fürst von Sternberg, Vollwaise.