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TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur.

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:
Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel,
Claudia Stockinger und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Hermann Korte
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-86916-611-7
E-ISBN 978-3-86916-613-1

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © 2016 Frauke Finsterwalder / Håkan Liljemärker

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2017
Levelingstraße 6a, 81673 München
www.etk-muenchen.de

Inhalt

Clemens J. Setz
Im Herbertshöhischen. Zum Zauberkundigen in Christian Krachts Werk

Moritz Baßler / Heinz Drügh
Eine Frage des Modus. Zu Christian Krachts gegenwärtiger Ästhetik

Daniel Kehlmann
Bord-Treff und Neckarauen. Über »Faserland«

Immanuel Nover
Diskurse des Extremen. Autorschaft als Skandal

Helge Malchow / Christoph Kleinschmidt
Hermeneutik des Bruchs oder Die Neuerfindung frühromantischer Poetik. Ein Gespräch

Christoph Kleinschmidt
Von Zerrspiegeln, Möbius-Schleifen und Ordnungen des Déjà-vu. Techniken des Erzählens in den Romanen Christian Krachts

Isabelle Stauffer / Björn Weyand
Antihelden, Nomaden, Cameos und verkörperte Simulakren. Zum Figureninventar von Christian Krachts Romanen

Susanne Komfort-Hein
Harakiri, Hitler und Hollywood: »Die Toten«

Thomas Wegmann
Die Masken des Authentischen. Christian Krachts Interviews als Szenen auktorialer Epitexte

Till Huber
Andere Texte. Christian Krachts Nebenwerk zwischen Pop-Journalismus und Docu-Fiction

Aglaia Kister / Christoph Kleinschmidt
Auswahlbibliografie

Biografische Notiz

Notizen

Clemens J. Setz

Im Herbertshöhischen
Zum Zauberkundigen in Christian Krachts Werk

Ich glaube, ich wusste lange Zeit nichts von der Zauberei, zu der die deutsche Sprache imstande ist. Jedenfalls las ich nichts, was mich daran erinnerte. Wohl hatte ich in der Kindheit davon gewusst, aber die einst verankerte Gewissheit hatte Schule und Studium nicht überlebt. Manchmal kam sie mir noch unter, etwa beim Blättern im Grimmwörterbuch: »BLEIBHAFTIG, so ich eines sitzes bleibhaftig were. Paracelsus 2, 655c«.

Sobald man dieses Wort sieht, nistet es sich sofort im Kopf ein und man fühlt, dass es gefehlt hat. Wer möchte nicht gerne bleibhaftig auf Erden sein?

Vielleicht ist es hilfreich, Schriftsteller danach einzuteilen, wie sehr sie von Zauberei wissen beziehungsweise sie kennen und an sie glauben. Ich erinnere mich an die Lektüre von Christian Krachts »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« und mein Staunen darüber, wie es möglich war, solche Sätze zu schreiben: »Und die Sonden? Eine schlug ich in der Nähe von Varese aus der Luft, nachmittags, mit dem zurückschnappenden, sirrenden Ast einer Pappel. Sie britzelte ein paar Sekunden, als könne sie nicht verstehen, was mit ihr geschehen war, dann fiel sie zu Boden, ein lebloser Stein. Ich hob sie auf, sie lag in der Hand wie ein eiserner Apfel, ich warf sie weg. Danach stellte sich eine gewisse Nervosität ein, eine Veränderung in der Molekularstruktur der Umgebung, ein Zittern in den Büschen am Wegesrand.«

Dieser Abschnitt findet sich gegen Ende des Romans. Den Anfang, die ersten 30 Seiten oder so, könnte man zur Gänze zitieren, er gehört zum Erhabensten, was in der gegenwärtigen Literatur existiert. Das Eigengewicht gewisser Wörter, ihr keckes Fortleben im Gedächtnis, ist hier so stark vorhanden wie bei kaum einem anderen Autor: »Eine Abteilung welscher Soldaten stand vor einem Wohnhaus und bewarf sich mit Schneebällen. Als die Soldaten mich kommen sahen, liessen sie den geformten Schnee fallen und strichen sich mit klammen und geröteten Händen rasch vorne die Mäntel glatt. Es waren fast noch Mwanas.«

Man muss das Suaheli-Wort »Mwana« für »Kind« gar nicht kennen, man errät seine Bedeutung direkt aus dem Kontext, aus dem Satz selbst. Aber durch seine Verwendung wird etwas anderes mitgeteilt, nämlich der im Kontext des Krieges auffallende gütige Blick des Erzählers, des aus Afrika stammenden Parteikommissärs von Neu-Bern. Er verwendet ein Wort aus seiner eigenen Vergangenheit für die jungen Soldaten. Ein zweitrangiger Autor hätte geschrieben: »Es waren fast noch Mwanas, so nannte man damals bei uns zuhause« und so weiter. Die schwebende Magie des Satzes hängt davon ab, dass er uns an diesem Wort kommentarlos teilhaben lässt.

Nur einmal, in einem sehr langen Roman, der 2015 erschien, habe ich selbst versucht, das Eigenleben bestimmter Wörter zu zeigen. Der Hauptfigur schallen gewisse Phrasen und Wörter lange im Kopf herum und sie wälzt sie mitunter lange hin und her, bis sie ihre ohrwurmhafte Begleiternatur endlich ablegen. Ich hätte mir diese Technik vermutlich nie erlaubt ohne Christian Krachts Werk – und ohne seine einmal in einer Mail geäußerte Empfehlung, Aristoteles’ »Poetik« wiederzulesen. Dort fand ich das Bild von »schlechten Flötenspielern, die sich drehen, wenn sie einen fliegenden Diskus nachahmen wollen«. Was, glaube ich, genau dasselbe ist wie ein Schriftsteller, der das Wort »Mwanas« für uns Leser in einem Nebensatz erklärt, oder, mit anderen Worten, dem Eigenleben seiner Wörter gar nicht vertraut. Eine richtig gespielte Flöte kann gewiss auch aus eigener Kraft einen Diskus fliegen machen.

Dass man vom Eigenleben gewisser deutscher Sätze und Wörter regelrecht irr werden kann, beschreibt eine schöne und auch inzwischen sehr berühmte, häufig zitierte Stelle in »Faserland«, in welcher der Erzähler sich über das Wort »Neckarauen« Gedanken macht. Wenn die Juden nicht vergast worden wären, so der Erzähler, »dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen«. Viel ist über diese Stelle geschrieben worden, allerdings nicht so sehr über das Wort selbst. Der Erzähler vergleicht das von seiner geschichtlichen Entwicklung unkontaminierte Deutschland ja nicht mit den Auen des Flusses Neckar, sondern mit dem Wort. Und es ist in der Tat bemerkenswert, welch ein ungestüm durchsonntes Eigenleben dieses Wort besitzt. Da ist zum Beispiel der (zumindest für manche Ohren) deutliche Pausensprung in der Mitte, zwischen dem r und dem a, er lässt das Wort einen stattlichen Tanzschritt ausführen. So ganz können die Bestandteile »Neckar« und »Auen« gar nie aneinanderhängen, sie flegeln eher lose umeinander. Vor Kurzem hielt ich mich übrigens in Tübingen auf, einer Stadt mit derart altdeutschen Gassen und Gebäuden, dass mir bei ihrem Anblick andauernd alte, obskure Grimmbuchwörter wie »Girste«, »Dingsal« und »lummericht« durch den Kopf gingen. Und dann, im Hölderlinturm-Museum, sah und filmte ich sogar die Lichtreflexionen an der Decke jenes Wohnraumes, in dem der Dichter seine kranken Jahrzehnte verbrachte, ein üppiges Gewürmel war das, begleitet in meinem Kopf von – kein Wunder – dem Wort »Neckarauen«, das die innere Stimme besessen wiederholte. Die Sonne muss auch schon zu Hölderlins Lebzeiten in diesem Winkel auf den Neckar gefallen sein, also kann man davon ausgehen, dass er das vom Neckar reflektierte Gewurl und Geglitzer an der Decke selbst oft sah.

Aber ich schweife ab. In Christian Krachts Roman »Imperium« finden sich fast auf jeder Seite tief ins Innere der deutschen Sprache hallende Wörter. Hier sind es, da der Roman den goldenen Klang älterer Erzählwerke als Grundtonart verwendet, vor allem Wörter mit dem Pfirsichflaum vergangener Jahrhunderte. Etwa der Ort, an dem ein Hauptteil der Romanhandlung spielt: Herbertshöhe. Es ist eindeutig ein Kracht-Wort, obwohl nicht eigens von ihm erfunden, ebenso wenig wie Neckarauen. Besonders schön kommt das zur Geltung, als einmal von dem Hotel Bismarck als dem »Herbertshöhischen« gesprochen wird. Diese Wortbildung erfüllt den Leser mit einem angenehm kecken Gefühl, als hätte man einen Heißluftballon samt schnurrbärtiger Ballonfahrer verschluckt. Vielleicht deshalb, weil es ein wenig an Formulierungen wie »im Graubündischen« erinnert? Schwer zu sagen. Ich weiß nicht genug über diese Zauberei. Man begegnet ihr ja nicht so oft. Höchstens noch in Werner Herzogs Buch »Vom Gehen im Eis«, das Tagebuch seines Gangs von München nach Paris, mit dem er die kranke Lotte Eisner vom Sterben abhielt. An einer Stelle spuken ihm die beiden deutschen Wörter »rüstig« und »Hirse« im Kopf herum und er versucht vergeblich, sie miteinander zu kombinieren. Und: »Schlehdorn drängt sich mir auf, ich meine als Wort: Schlehdorn. Da liegt aber stattdessen eine Felge vom Fahrrad, ganz ohne Schlauch, es sind rote Herzen daran entlanggemalt.« Schließlich besucht den Wanderer Herzog sogar das kunterbunt sinnvernebelnde Wort vom »Sankt-Nimmerleinstag«. Man kann es kaum laut aussprechen ohne ein seltsames inneres Glucksen.

Und dann ist da der herrliche Dialog zwischen Claude und Frau Sandberg in »Finsterworld« über jene merkwürdigen Silbenkombinationen, die in deutschen Volksliedern wohnen und jeden, der sie singt, sofort infizieren. »Dieses FIDERALLALA«, sagt Claude. »Irgendwie ekelt es mich, wenn ich es ausspreche, und gleichzeitig kann ich es nicht lassen, es zu sagen: Fiderallala.« Frau Sandberg nennt als analoges Beispiel das wahrhaft irre »Sim sa la bim, bam ba, sa la du, sa la dim« aus dem Lied über die Vogelhochzeit. Heimelig und zugleich abstoßend kommen diese Silben den beiden vor, und ein kleiner Teil ihrer Identität dürfte, so wie die der meisten deutschsprachigen Menschen, tatsächlich aus ihnen gebaut sein. Man sieht ähnliche Effekte heimelig-schmerzvoller Namen auch deutlich in der Wahl deutscher Medikamentennamen. »Panitumumab«. »Trasgex«. »Xarelto«. »Efalizumab«. »Alefazept«. Sie stehen nicht auf derselben Stufe wie die Sprüche aus den Volksliedern, eher wirken sie wie leicht danebengegangene Versuche, eine alte Zauberkraft für die Zwecke der Heilwirkung zu rekrutieren. Kurt Tucholsky ging, wie er uns in einem Aufsatz versichert, in jeder neuen Stadt am liebsten sofort in eine Apotheke. Ich mache das auch so. Andere besuchen Gasthäuser oder Museen. Aber in Apotheken trifft man auf die angenehmen Silbenkombinationen, sie wachsen und gedeihen darin wie in einem öffentlichen Garten. Früher wurden Medikamente einfach nach ihrer gewünschten Wirkung oder ihrem Erfinder oder irgendwelchen Orten oder ihren Inhaltsstoffen benannt. Das ergab dann Namen wie etwa Aspirin, sozusagen das Grundmuster eines Medikamentennamens, still, einfach, wohlklingend, nicht zu verspielt, mit lateinischer Wurzel. Doch nach und nach schlich sich über diese offen gelassene Hintertür die Wortmagie zurück in unsere Sprache. Der Grundvorrat der Silben ist ziemlich exakt derselbe wie jener für Helden in Fantasyromanen. »Cellar door« war für J. R.R. Tolkien die schönste Wendung in der englischen Sprache. Sie produziere, so Tolkien, automatisch einen idealen Heldennamen: »Selador«. Es könnte auch der Name eines Medikaments sein. Xanor ist der Name eines Beruhigungsmittels (und sein Wirkstoff ist der Zauberspruch »Alprazolam«), aber es könnte auch leicht der Name eines mythischen Herrschers sein. Bestimmt existieren Kreativ-Abteilungen in Pharmaunternehmen, die einander tagelang Lautgedichte vortragen; wie gern möchte man da einmal dabei sein.

Wenn sich interessierte Wesen in einigen Jahrhunderten fragen, wie es wohl gewesen sein mag, deutschsprachig zu sein, dann wird das Werk von Christian Kracht darüber Auskunft geben können. Bei einem Besuch in Dublin wohnte ich in einem hübschen kleinen Hotel, in dessen Innenhof sich zu meinem Glück jeden Abend ein Haufen Elstern zu ratschenden Konferenzen versammelte. In der Stadt traf ich mich mit Christian Kracht und wir gingen in einen Pub. Ich war sehr glücklich ihn zu sehen. Als ich ihm von der seltsamen Plansprache Bliss erzählen und ihm dazu einige der Symbole auf dem iPhone zeigen wollte, holte er seine Lesebrille heraus und sie fiel ihm auf den Boden zwischen die Barhocker. Aber als wir nachschauten, lag da nur ein Feuerzeug. Dabei hatten wir beide deutlich eine fallende Brille gehört, den Klang ihres auf die Bodenbretter treffenden Rahmens. Zum Test warf Christian das Feuerzeug noch einmal auf den Boden und es klang tatsächlich völlig anders. Wir suchten alles ab, ich leuchtete mit dem iPhone in jeden Winkel, man half uns, aber die Brille blieb natürlich verschwunden. Es gibt solche Raumlöcher; wer weiß, was genau sie sind. Wir waren beide etwas verstört durch das Erlebnis und einigten uns darauf, dass ich die Bliss-Symbolsprache, mit der man bis in die 1970er Jahre Kinder mit Zerebralparese, die in ihren ersten Lebensjahren ihren Stimmapparat nicht verwenden können, weltweit unterrichtet hatte, lieber nicht mehr erwähnen sollte. In Dublin waren stets alle Wetterarten gleichzeitig vorhanden, als würde ein Kind auf Knöpfen herumspielen, Hagel folgte auf Sonnenschein, dann kam eisiger Wind auf, dann wieder warmer Frühling für einige Minuten, Verwandlung, und Wolkenbruch. Man erkennt, so wurde mir vor meiner Reise erklärt, die Einheimischen in Dublin stets daran, dass sie bei Regen nicht nass werden. Sie schreiten einfach dahin, entspannt, im Pullover, ohne Hut, während die Touristen wenige Meter neben ihnen mit ihren verrückt gewordenen Schirmen kämpfen oder, trotz bunter Regenmäntel völlig durchnässt, in Hausgängen abwarten. Christian Kracht ist, so zumindest kommt es mir vor, überall auf Erden eine Art Einheimischer, also wurde er auch nicht nass. Und als ich mich von ihm verabschiedete, fiel diese Schutzblase weg und ich war nach wenigen Minuten regendurchweicht und fror entsetzlich. Erst im Innenhof des Hotels, wo beruhigenderweise wieder die Elstern herumstanden, wurde mir wieder etwas wärmer. Ich bemerkte nun auch, dass mein Hotel sich gegenüber einer Hausfassade befand, hinter der überhaupt nichts war, ja, man sah durch die Fenster in die leere Luft, vermutlich war das Haus dahinter vor Kurzem abgerissen worden. Hin und wieder tauchten die sich im Flug wunderschön auffaltenden Elstern durch eines der zimmerlosen, nur freie Wolken beherbergenden Fenster der Fassade.

Moritz Baßler / Heinz Drügh

Eine Frage des Modus
Zu Christian Krachts gegenwärtiger Ästhetik

1

Dass auch Literatur gegenwärtig unter den Bedingungen des Marktes und der Massenmedien entsteht und verbreitet wird, ist keine brandneue Einsicht. Ein Bewusstsein dieser Tatsache auf Produzentenseite muss, so ließe sich folgern, nicht automatisch eine Gefährdung autonomer Ästhetik darstellen, sondern könnte womöglich ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Herausbildung gegenwärtiger Poetiken sein. Allerdings dominiert, sobald diese betriebliche Dimension aus dem Verborgenen tritt, auf literaturkritischer Seite nach wie vor reflexhafte Abschätzigkeit. Das zeigen etwa die Reaktionen auf das Karl-Ove-Knausgård-Zitat auf dem Cover von Christian Krachts Roman »Die Toten« (2016). Der norwegische Erfolgsautor rühmt Krachts »literarisches Unterfangen« nicht nur gattungsgemäß als »brillant«, sondern behauptet darüber hinaus, wir dürften »von jetzt an« im literaturkritischen Diskurs eine neue Kategorie begrüßen, nämlich das »Krachtianische«. Die adjektivische Verwendung des Autorennamens hat dabei mehr als bloß »klassifikatorische« Funktion, sie will auch mehr anzeigen als eine markante »stilistische Einheit«1; sie überhöht – nach dem Vorbild des Epithetons ›kafkaesk‹ – Kracht zu einer solitären Größe mit einer Strahlkraft weit über die Literatur hinaus.

Nun sind solche Blurbs auf Buchcovern, auch dies weiß man eigentlich, mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln. Sie werden, wie man hört, nicht selten vom Verlag, mitunter vom Autor selbst verfasst; Kracht und andere Autoren im Pop-Umfeld haben außerdem immer schon mit dem Genre gespielt. Was im vorliegenden Fall besondere Kritik auf sich gezogen hat, ist die Tatsache, dass ein norwegischer Autor, der des Deutschen nicht mächtig ist, ein soeben erst erschienenes deutschsprachiges Buch rühmt (wobei Knausgård Krachts norwegischer Verleger ist und als solcher vermutlich im Besitz einer Rohübersetzung). Wie dem auch sei: Es ist offensichtlich, dass hier ein internationaler Star zum Zweck der Vermarktung eingespannt wird. Da es sich dabei freilich um den gegenwärtigen Marktführer in Sachen literaturbetrieblicher Selbstinszenierung handelt, dürften die Investigativstars des literarischen Betriebs, die sich hier echauffieren – Kracht schafft es doch immer wieder! – brav in die Falle des Arrangements getappt sein.

Wollte man ernsthaft über das Epitheton »krachtianisch« nachdenken, so wäre als dessen erstes Merkmal ein spezifisches Spiel mit literaturbetrieblichen Gegebenheiten anzusetzen. Ein solches Spiel zieht sich durch Krachts Arbeit von der »Tempo« über die frühe Pop-Phase – mit der Peek&Cloppenburg-Werbung (gemeinsam mit Benjamin von Stuckrad-Barre) und einem Interview mit der »Zeit« inklusive Schnöselfoto und der Bildunterschrift »Ich bin ja sehr reich« – bis hin zum jüngsten Gespräch, in dem Kracht demselben Blatt Auskunft über seine Vorliebe für Transzendenz erteilt: »Wenn er, Kracht, in einer Kirche niederknie, verlasse er sie als besserer Mensch.«2

Krachts literarische Ästhetik, so soll im Folgenden argumentiert werden, erhält ihre besondere Gegenwärtigkeit dadurch, dass sie weder auf etablierte literarästhetische Positionen vertraut noch sich in einem autonomieästhetischen Raum einkapselt, sondern auf aufschlussreiche wie originelle Weise kontemporäre Positionen des Ästhetischen unter Markt- und Medienbedingungen verhandelt.

2

Primär handelt es sich dabei um eine Frage des Modus. Innerhalb wie außerhalb seiner literarischen Texte ist es die Modalität krachtianischer Rede, die die Kritiker immer wieder in die Irre geleitet hat. Nun ging es, so ließe sich argumentieren, in aestheticis geradezu konstitutiv immer schon um die Verhandlung prekärer Modalitäten der Rede, der Referenz und des Urteils, solche, die sich nicht auf das Wahre und Gute reduzieren lassen (sonst hätte Kant seine dritte »Kritik« gar nicht schreiben müssen). Umso fragwürdiger erscheint es, dass eine gegenwärtige Literaturkritik auf diesem Ohr ganz taub zu sein scheint, als sei der Modus literarischer Rede seit Jahrhunderten stabil und ausgemacht und alles, was ihm nicht direkt entspricht, allenfalls noch als Ironie zu klassifizieren. Als klassische Ironie aber, das heißt als Äußerung des Gegenteils eines eigentlich Gemeinten, ist Krachts Prosa, sooft diese Art der Betrachtung auch versucht wurde, schlicht unterbestimmt, und dies von Beginn an.

In der Dezemberausgabe 1991 der »Tempo« zeichnet der damals völlig unbekannte Autor für eine Rezension zu Uwe Timms Roman »Kopfjäger« verantwortlich, die in vielfacher Hinsicht vorwegnimmt, um was es bis heute geht. Der Text ist in Anredeform verfasst, wie man sie aus den ›Briefen an die Leser‹ in der Satirezeitschrift »Titanic« kennt. Adressiert wird Timm selbst: »Sie scheinen ein guter Sozialdemokrat zu sein. Dennoch tragen Sie über Ihrer Frontheimkehrerbrille die Haare mit dem Messer geschnitten, und Sie sind mit dieser Frisur der Zeit weit voraus.«3 Die Vermischung von Äußerlichkeiten der Autorfigur und seinem Werk irritiert dabei nicht nur als solche, sondern auch in ihrem Changieren zwischen potenziell beleidigender Satire à la »Titanic« und bewundernder Affirmation: »(…) wenn es jemals möglich war, von den Schuhen eines Schriftstellers auf dessen schöpferische Qualitäten zu schließen, dann bei Ihnen. Sie haben Stil.«4 Das Verhältnis zur Warenförmigkeit ist dabei in einem Vergleich präsent, der den Text rahmt: Die anderen Kritiker, so heißt es, hielten Timm für einen »Mercedes-Benz. Zuverlässig. Bodenständig. Deutsch.«5 Damit aber werde seine Sonderstellung unter den Autoren verfehlt, die darin bestehe, dass er »eine Geschichte« erzähle, und zwar »nicht für die Kritiker, sondern für die Leser«: »Treten Sie die Kritiker aus ihrer Lethargie, Herr Timm.«6 Die Pointe besteht darin, dass gerade die Urteile der hochkulturellen Organe (»Zeit«, »SZ«, »Weltwoche«, »FAZ«) im Bereich des Warenförmigen und damit, nach Adorno, in der Erwartung des Immergleichen verortet werden, während Timms Marktgängigkeit (»für die Leser«7) demgegenüber als neu und besonders gefeiert wird. Was im etablierten Diskurs als Ironie, also abfällig zu verstehen wäre, behauptet in Krachts Text trotz allem das Positive, wenn auch womöglich an Timm vorbei. Im Stile des New Journalism werden dabei jedenfalls die Kategorien gängiger Literaturrezensionen entautomatisiert (Titel: »Wie die Schuhe, so der Dichter«). Kracht kommt nicht zu einem anderen Urteil, sondern sucht nach einem anderen Modus des Urteilens.

Statt an den klassischen könnte man hier adäquater an den romantischen Begriff von Ironie8 denken, an eine Form der Rede, die stets weiß, dass ihre Ambitionen nur unter Vorbehalt geäußert und unter konkreten Bedingungen wohl nie erreicht werden können. Nicht umsonst ist Friedrich Schlegel der erste deutschsprachige Ästhetiker, der die Moderne und ihr »rastloses unersättliches Streben nach dem Neuen« als Generator alternativer ästhetischer Kategorien wie des ›Interessanten‹, ›Frappanten‹, ›Piquanten‹ oder ›Choquanten‹ begreift, Kategorien, die er stets ambivalent sieht: einerseits als Indizien für eine »Krise des Geschmacks«, andererseits aber auch als Formen, die ein »größeres Quantum von intellektuellem Gehalt oder ästhetischer Energie« enthalten.9 Schon hier geht es also nicht einfach um die Verabschiedung des autonomieästhetischen Paradigmas, sondern um die Übersetz- beziehungsweise Brauchbarkeit der damit verbundenen Kategorien, um eine angemessene sinnliche wie gedankliche Komplexität und Verfeinerung durchaus existenzieller Kunsterfahrungen unter den Bedingungen der Moderne: »so, als könne (man) sich die Pein der Welt und ihre Grausamkeit für kurze Zeit borgen und sie umkehren, sie in etwas anderes, etwas Gutes verwandeln«10, wie es in Krachts jüngstem Roman »Die Toten« heißt.

In neuerer Zeit hat den anschlussfähigsten Vorschlag für eine komplexe ästhetische Kategorie, wie sie hier gesucht wird, wohl Susan Sontag in ihren »Notes On ›Camp‹« (1964) vorgelegt, deren Bedeutung für Kracht schon verschiedentlich hervorgehoben wurde.11 Camp bezeichnet einen ästhetischen Modus »not in terms of beauty, but in terms of the degree of artifice, of stylization«.12 Dieser Ästhetizismus verdankt sich gerade nicht der Abkehr von der gegenwärtigen Kultur des Marktes und der Medien, vielmehr geht es ausdrücklich um künstlerische Handlungs- und Lebensformen, die unter den Bedingungen kapitalistischer Überflussgesellschaften gebildet und erprobt werden, um die Frage: »how to be a dandy in the age of mass culture«.13 Massenkultur lässt sich – so Sontag – nicht einfach durch den Sprung in eine vermeintlich autonome Kunstsphäre abstreifen.

An diese Position knüpft auch die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai an. Ihr zufolge hat die allgegenwärtige »interpenetration of economy and culture« zwei Konsequenzen: »First, a weakening of art’s capacity to serve as an image of nonalienated labor, as it had done ever since the inception of aesthetic discourse in the eighteenth century; second, a destabilization of art’s more specifically modernist, twentieth-century mission of producing perceptual shocks.«14 Kunst kann demnach nicht länger als liebgewonnene Exitstrategie aus den Zumutungen und Entfremdungserfahrungen spätkapitalistischer Kultur fungieren, auch besitzt sie keinen Alleinvertretungsanspruch für starke Wahrnehmungen. Ob Kunst sich selbst autonomieästhetisch begreift oder innerhalb der Massenkultur verortet, stets produziert sie Reflexionsschleifen, durch die sie in einen Modus der Vorbehaltlichkeit gerät. Camp, so schon Sontags Devise, »sees everything in quotation marks. It’s not a lamp, but a ›lamp‹; not a woman, but a ›woman‹«.15 Etwas ist, hat man den neuen Modus einmal erfasst, nicht mehr einfach schön, sondern »schön«, nicht krass, sondern »krass«, und auch »the serious« gerät unweigerlich mit in den Strudel – ohne deshalb schon automatisch in ihm unterzugehen: »One can be serious about the frivolous, frivolous about the serious.«16 Man könnte fragen, ob nicht bereits Thomas Manns Stil, der für Kracht ein wesentlicher Orientierungspunkt ist (und den man ebenfalls mit dem Ironie-Begriff zu zähmen versucht hat), mit einer solchen Beschreibung gut getroffen wäre.

3

Rezeptionsseitig besteht also die Herausforderung darin, Krachts Sätze ihrem spezifischen Modus gemäß zu lesen. Dies gilt keineswegs nur für die frühere Pop-Phase, sondern auch für die späteren Romane – auch hier darf die Adelung als Hochliteratur (Mercedes-Benz) nicht zur Verkennung ihrer Besonderheiten führen. Betrachten wir zwei Sätze aus »Die Toten«: Emil Nägeli, Schweizer Filmkünstler und Hauptfigur des Romans, hat, soeben in Japan angekommen, mit dem Emissär einer japanischen Filmgesellschaft einen Zug von Kōbe nach Tokio bestiegen: »Gemeinsam läßt man sich, osuwari kudasai, in die wolkigen Sitze eines überaus eleganten Abteils niedersinken, räuspert sich, putzt sich die jeweiligen Brillen (Nägeli haucht mit leicht geschürzten Lippen ein die Doppelgläser dunstig überziehendes o) und rückt die Krawatten zurecht, der Japaner glättet mit Zeigefinger und Daumen seinen kleinen, leicht obszön wirkenden Schnauzbart, nun, tsssktsssk, eine Konversation will nicht recht aufkommen; ihm ist, als warte sein Gegenüber in einiger, nur mühsam kaschierter Anspannung darauf, er, Nägeli, der in der gegenwärtigen Abteilhierarchie weitaus höher gestellt ist, möge doch bitte das Gespräch leiten und sozusagen den richtigen Ton angeben (der stumme Gedankenklang der Silbe tō erfüllt ihn indes mit unaussprechlicher, dunkler Verheißung). Dieser unterdrückt mit der Hand vor dem Mund ein die Speiseröhre hinaufdrängendes Gaswölklein – das mag wohl der rohe Fisch sein, die braune Soße dazu, der grüne Meerrettich.«17

Der hypotaktische Verschlingungsstil, der seit »Imperium« (2012) die »granitenen Hauptsätze«18 in Krachts Prosa abgelöst hat, wirkt auf den ersten Blick leicht anachronistisch. Was sollte an einem Roman gegenwärtig sein, der die Helden »mit der Eisenbahn« reisen lässt statt mit dem Zug und sie in »wolkigen Sitzen« platziert wie im Orient- und nicht wie im Regional-Express (oder wenigstens im ICE, mit dem noch der Held von »Faserland« unterwegs war), der statt von Rülpsern von »hinaufdrängenden Gaswölklein« spricht? Allein dieser Diminutiv »-lein« statt »-chen« mit seiner Mischung aus Infantilität und Verschrobenheit! Gegenwärtige Ästhetik? Wird nicht viel dafür getan, das Gegenteil zu suggerieren, so etwas wie einen souverän-zeitlosen Prosastil? Gustav Seibt hat in seiner Rezension zu »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« das zugehörige Reaktionsmuster vorgeführt: Kracht schreibe »das schönste Deutsch, das derzeit zu lesen ist«, das ebenso »leichtfüßige und verrückte Buch« lese man »aus purer Freude an der Wirkung von Sätzen, Rhythmen und Adjektiven«, und deshalb sei Krachts Text auch »kein deutscher Gegenwartsroman«.19

Gegen eine ›straighte‹ Rezeption ohne modale Anführungszeichen spricht freilich bereits das auffälligste Merkmal des Textes, seine Heteroglossie. In kursivem Schriftsatz wird man ohne weitere Erläuterung mit der Formulierung »osuwari kudasai« konfrontiert, was der durchschnittliche Westeuropäer vielleicht noch als japanisch zu identifizieren, ferner aber genauso wenig zu verstehen in der Lage sein dürfte wie Knausgård den ganzen Roman. Auskunft gibt das Lexikon: »Osuwari kudasai« bedeutet im Japanischen eine besonders höfliche Aufforderung, Platz zu nehmen. »Die Toten« sind voll von solcher nicht nur sprachlichen, sondern auch objektförmigen ›Japonaiserie‹. Man trifft auf »Gingkobäume, an alte Felsbrücken geschmiegt, so perfekt arrangiert, als seien sie dort von einem Kunstmaler inszeniert worden«20, auf »schneeig gesalzene edamame«, einen »hauchscharfen tantō«21; Europäer heißen abschätzig »gaijin«.22 Die Aufnahme der vielen Japonismen erhöht die Vielstimmigkeit von Krachts Text in ähnlicher Weise wie die Markennamen in »Faserland« (1995), die komplementär zum kalkulierten Exotismus der »Toten« »mit dem binnenexotischen Reiz von bisher nicht literarisierten Vokabeln und Texturen unserer eigenen Kultur«23 eingesetzt werden. Was durch ein solches Verfahren verabschiedet wird, ist »das literarische Ideal, erste Worte zu sprechen«.24 Stattdessen wird man von »Wellen der Redevielfalt umspült«.25 Wie aber schon in Bezug auf »Faserland« nicht zu Unrecht auch von Markenfetischismus die Rede war, wird hier zugleich das autoritär-identitäre Moment markiert, das in der traditionellen japanischen Ästhetik schlummert; etwa wenn Kono, der japanische Fahrer, der seinen Chef Charlie Chaplin »zu einem richtigen kleinen japanischen Nationalisten«26 indoktriniert hat, über den »lächerlichen kleinkarierten Nippes« aus China als dem Hort der »Liederlichkeit« spottet, »während das imperiale Japan« eine auf Perfektionierung zielende, von »sauberen Linien und klarer Effizienz«27 geprägte Ästhetik vertrete.

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