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Für Sarah und Raphael

© 2017 Gottfried Koch

Autor: Gottfried Koch

Umschlaggestaltung: myMorawa

Lektorat: Thomas Happ

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

ISBN: 978-3-99070-152-2 (Paperback)

978-3-99070-153-9 (Hardcover)

978-3-99070-154-6 (E-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Teil I

Menschen kommen, Menschen gehen

Oscar Wilde

Menschen kommen, Menschen gehen
Drum brauchen wir’s, stets Neues zu sehen
Und all die Dinge, die um uns geschehen
Sind zu weit entfernt, um sie zu verstehen

Menschen kommen, Menschen gehen
Zu wenig Zeit, ihnen stets beizustehen
Statt ihre Seelen mit eigenen Augen zu sehen
Sehen wir irgendwann, wie die Winde sie verwehen

Menschen gehen, Menschen kommen
Herzen gehen auf in Flammen
Der Geist, halbtot, nichts außer Schrammen
Ein Schmerz bringt all die Leben zusammen

Menschen sind hier, Menschen sind dort
Irgendwann gehen sie alle fort
Und die, die noch länger hier verbleiben
Müssen die Tränen aus ihren Augen reiben

Ein Mensch mag gehen, doch ein anderer kommt
Er nimmt dessen Platz ein in unserem Verstand
Das hilft uns zu trauern und zu vergessen
Und zeigt uns all das, was wir nie besessen

Brigitta Barbara Franz-Josef Gottfried Koch

Franz-Josef Koch saß im Zustand eines zerstreuten vor sich Hinbrütens in der Küche des elterlichen Hauses, Frankfurter Chaussee 16 in Weilbach. In diesem Zustand verweilte Franz-Josef oft. Er machte sich dann seine Gedanken, träumte seine Bilder und hielt inne von der Welt da draußen oder er las in seiner Seele. Franz-Josef war ein ausgeglichener Mensch, weder traurig noch froh gestimmt. Er war einfach.

Das Haus der Familie Koch bestand aus zwei Zimmern im Erdgeschoss sowie drei kleinen Schlafräumen im ersten Stock. Früher war alles zu eng gewesen. Und zu feucht. Seit einigen Jahren war es im Haus leer geworden, die Feuchtigkeit hingegen geblieben. Nur noch Franz-Josef und seine Mutter Margaretha wohnten hier.

Einstmals lebten zehn Personen unter diesem alten Dach. Der Vater Franz, geboren am 11. Dezember 1801. Er starb am 22 Juli 1867. Die Mutter Margaretha, geboren am 1. Mai 1806, seit dem 18. Januar 1829 mit Franz verheiratet. Und dann waren da noch die acht Kinder. Peter, heute 41 Jahre, Peter-Josef, 38 Jahre und Georg, der im Juli 1863 mit nur 27 Jahren verstarb. Peter und Peter-Josef waren in Weilbach verehelicht und hatten selbst schon Kinder.

Zudem waren da noch vier Schwestern zu nennen. Margaretha, sie verstarb 1854 mit nur 16 Jahren, Catharina, 31 Jahre, Apollonia, 29 Jahre und Friederika, die im Januar 1845 nach nur drei Monaten verstarb. Franz-Josef selbst wurde am 15. Oktober 1842 geboren.

Im Haus hatte sich ein leichter Modergeruch in den Wänden festgesetzt. Es war schwül heiß. Ein Fenster konnte Franz-Josef nicht öffnen, da der Aufmarsch der Armee eine riesige Staubwolke aufwirbelte.

Am 19. Juli 1870 hatte der französische Kaiser Napoleon III. Preußen den Krieg erklärt. Nach außen wollte er damit seiner Anhängerschaft gefallen. Ausschlaggebend für diesen Krieg war jedoch Napoleons Imponiergehabe gegenüber seiner Gattin, der spanischen Gräfin Eugénie de Montijo. Schon die Hochzeitszeremonie im Januar 1853 war ein großes Imponiergehabe. Bis ins kleinste Detail war das Prunkfest eine Kopie der Feierlichkeiten von Napoleon Bonaparte, Napoleon I, mit dessen großer Liebe Josephine. Eugénie de Montijo glaubte, dass sie als Kaiserin neben ihrem Gatten Napoleon III von nun an genauso werde strahlen können, wie Josephine neben Bonaparte. Eugénie irrte sich.

Ihre Ehe war nicht glücklich. Eugénie litt unter den Affären ihres Gatten. Und dieser gab sich erst gar keine Mühe seine Seitensprünge zu verbergen. Im Gegenteil. Er zelebrierte seine Affären auf großen öffentlichen Bühnen. Seht alle her, das bin ich: stolz, furchtlos und potent wie ein gallischer Hahn. Leider waren die Betten seiner Mätressen die einzigen Schlachtfelder, auf denen er erfolgreich war. Wenn er es denn dort auch wirklich war. Wir wissen es nicht. Es gibt nur Informationen, die er selbst gestreut hat.

Seine frühere leidenschaftliche Liebe zu Eugénie war rasch erloschen. Eugénie war konservativ, autoritär und streng katholisch. Je mehr sich ihr Gatte außerehelich engagierte, umso mehr zog sie sich zurück. Zum Gebet. Für Eugénie war Otto von Bismarck ein rotes Tuch. Vieles verzieh sie ihrem Napoleon. Nicht aber ein mögliches Zurückweichen vor diesem ungehobelten Protestanten aus Berlin. Eugénie wollte den alten imperialen Ruhm der Grand Nation, so wie ihn Napoleon I errungen hatte, wiederhergestellt wissen. Nicht mehr, aber auch auf keinen Fall weniger war sie ihren stolzen spanischen Vorfahren schuldig. Und das war das Letzte was sie von Napoleon wollte. Dann würde sie schweigen und er könne sich vergnügen wo, mit wem und wie er wolle.

Napoleon III war mit seiner Kriegserklärung Otto von Bismarck in die Falle gegangen. Bismarck wollte den Krieg. Er war davon überzeugt, dass Preußen aus dieser Schlacht siegreich hervorgehen würde. Also provozierte er Frankreich mit einer möglichen Inthronisierung eines Hohenzollers auf den spanischen Thron. Es war klar, dass sich dadurch Frankreich an seiner Südwestflanke bedroht fühlen musste. Man zog zwar die Kandidatur von Erbprinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen zurück, reizte aber gleichzeitig mit der bewusst arrogant abgefassten „Emser Depesche“ den Nationalstolz der Franzosen so sehr, dass Napoleon gar nichts anderes übrigblieb, als in sein Verderben zu tappen.

Seit der Kriegserklärung zog eine endlose Kolonne von Pferdefuhrwerken, Reitergruppen sowie Kolonnen zu Fuß Richtung Westen an die deutsch-französische Grenze. Von Hattersheim und Hofheim kommend ging es auf der Frankfurter Chaussee, einer alten Lehmstraße, durch Weilbach über Wicker nach Mainz. Mainz war nicht nur preußische Festung, sondern auch ein Verkehrsknotenpunkt. Von hier aus ging es mit der Bahn oder auf dem Rhein mit Flussschiffen zum Elsass.

Da die Verladung in Mainz nicht schnell genug vonstattenging und dort ein großes Chaos herrschte, stauten sich die Einheiten in nördlicher Richtung kilometerweit zurück. Alle im Einzugsgebiet von Mainz liegenden Ortschaften mussten daher für einige Tage größere Truppenkontingente aufnehmen, sie beherbergen und verpflegen. Das war eine patriotische Selbstverständlichkeit. Eine Ehre. Die Mannschaften stellten Ansprüche, die Herren Offiziere erwarteten eine besonders bevorzugte Behandlung. Teilweise beherbergten diese kleinen Ortschaften mehr als doppelt so viele Soldaten wie sie Einwohner hatten.

Franz-Josef stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. Er dachte nicht an den Krieg, über den im Moment alle Welt spricht. Nein, warum sollte er seine Gedanken an Dinge verschwenden, deren Unsinnigkeit ganz offensichtlich war und für alle sichtbar auf der Hand lag? Franz-Josef war gegen Gewalt. Deshalb verachtete er das Militär.

Franz-Josef wurde nicht zum aktiven Militärdienst einberufen. Mit seinen 27 Jahren galt er als zu alt, außerdem verfügte er über keine militärische Ausbildung. Und vielleicht hatte sich auch seine Gesinnung herumgesprochen, so dass sie in seiner Akte vermerkt war. Wer konnte so einen gebrauchen? Falls der Krieg – wider Erwarten – nicht siegreich verlaufen und schnell beendet werden würde, dann könnte man auf ihn zurückgreifen. Franz-Josef wurde dem Landsturm als Reserve zugeteilt.

Nein, Franz-Josef dachte im Moment nicht über Politik, den Krieg oder das Militär nach. Franz-Josef sinnierte darüber, was er dem alten Pfarrer Ebelstein antworten sollte. Franz-Josef pflegte Ebelsteins Bart. Und während der Behandlung des Bartes führte Franz-Josef mit ihm tiefgründige Gespräche. Danach saßen sie noch häufig auf einer Bank im Park, um ihre Unterhaltungen weiterzuführen. Sie vergaßen dabei Raum, Zeit und Standesunterschied.

Pfarrer Ebelstein weilte als Kurgast in Bad Weilbach. Bevor er dort hin zur Kur kam, war er übel krank gewesen. Jetzt befand er sich auf dem Weg der Besserung. Der hochwürdigste Herr erfreute sich im Kreis der Kurgäste hohen Ansehens, weil er als ein frommer Gottesmann und überzeugter Asket galt. Seine Krankheit soll gar keine gewesen sein. Vielmehr sei er völlig ausgemergelt angekommen. Ebelstein schlief auf dem harten Boden und ernährte sich fast ausschließlich von Wasser und Brot.

Ebelstein und Franz-Josef unterhielten sich über Dampfmaschinen. Franz-Josef war begeistert von dieser neuen Technik. Die Taunuseisenbahn fuhr von Frankfurt nach Wiesbaden, im nahen Flörsheim machte sie Station. Viele Kurgäste benutzten die Eisbahn. Ohne sie wäre Bad Weilbach nicht so frequentiert gewesen. Der Herr Pfarrer sah das ganz anders. Für ihn stellte eine Dampfmaschine ein Werk des Teufels dar. Sie nahm dem Menschen Arbeit und Brot. Aber das war noch gar nicht einmal das Wesentliche; man musste sich doch fragen, ob der Mensch das Recht hatte, die Elemente Feuer und Wasser zusammenwirken zu lassen. Hatte sie nicht Gott ausdrücklich geschieden?

Hieße das alles nicht, dem menschlichen Chaos in der göttlichen Ordnung wieder Auftrieb zu geben? Konnte es also nicht doch sein, dass der Fortschritt, und dies wäre nicht das erste Mal, sich als ein Rückfall ins Durcheinander darstellte? Franz-Josef fand keine überzeugende Antwort auf Ebelsteins Zweifel. Er musste zwar zustimmen, dass die Eisenbahn den Transport über die Frankfurter Chaussee deutlich reduziert hatte und damit eine große Zahl an Tagelöhner immer weniger Arbeit fanden und er sah auch, dass im benachbarten Hattersheim der frühere Knotenpunkt für Postkutschen verschwunden war. Aber insgesamt, so dachte sich Franz-Josef, sei die Dampfmaschine halt doch gut. Na ja, wahrscheinlich sei sie gut.

Es traf sich gut, dass Gottfried Muth ans Küchenfenster klopfte und Franz-Josef aus seiner Tagträumerei riss. „Komm, es ist Zeit, wir müssen gehen.“ Gottfried und Franz-Josef waren Freunde und fast gleich alt. Sie verstanden sich ohne Worte, hörten sich zu und standen füreinander ein. Gemeinsam entdeckten sie jeden Tag Neues; in der Natur, in Gesprächen, im Weitererzählen von Dingen des Hörensagens. Sie brauchten nur sich und sie hatten auch nicht viel mehr. Franz-Josef war Weilbacher, in deren Augen aber ein abseitsstehender Sonderling. Gottfried war in Koblenz geboren, also kein Weilbacher und damit ein Fremder.

Franz-Josef war Barbier und Gärtner, Gottfried nur Gärtner. Ihr Gärtner-Sein verstanden sie als eine Art Pädagogik an der Natur. Sie bezogen sich dabei auf Rousseau. Pfarrer Fischbach hatte Franz-Josef einmal Rousseaus Werk „Emile oder über die Erziehung“ zu lesen gegeben. Stundenlang hatte sich Franz-Josef mit dem Text abgemüht. Das Lesen war nicht Franz-Josefs Stärke, somit hatte er sich viele Stunden mit dem Text abgemüht und Fischbach mit vielen Fragen bombardiert. Dieser war kein Freund von Rousseau, Franz-Josef wurde es, je länger er sich mit dessen Gedanken auseinandersetzte.

Grundgedanke von Rousseaus Pädagogik war es, den jungen Menschen „natürlich“ wachsen zu lassen. Deswegen musste man den Heranwachsenden von allen negativen kulturellen Einflüssen abschirmen. Ein erheblicher Teil der Erziehung sollte daher nach Rousseau in der freien Natur stattfinden, wo sich Lerngelegenheiten fanden, wenn man richtig hinschaute. Immer wieder war bei Rousseau die Rede von der „urwüchsigen“ Natur, die sich selbst überlassen, nur von negativen Einflüssen befreit, am besten, am natürlichsten, am authentischsten gedieh.

Gottfried und Franz-Josef übertrugen diese Gedanken auf ihre Arbeit als Gärtner. Ihr Arbeitsort war der Kurpark im etwa zwei Kilometer von Weilbach entfernten Bad Weilbach, wo sich ein bekannter Kur- und Heilbetrieb etabliert hatte. Die beiden Weilbacher Naturpädagogen standen mit ihren Ansichten im Widerspruch zu den vielen Parkarchitekten und deren Vorbildern in Form der künstlichen Gärten von Versailles oder des Kurparks im mondänen Wiesbaden. Auch in Bad Weilbach wollte man von ihren Ansichten nichts wissen. Drum behielten sie diese für sich. Aber sie handelten dennoch so, wie sie es für richtig hielten.

Auch das vom Vater erlernte Handwerk des Barbiers führte Franz-Josef nach den gleichen Grundsätzen aus. „Immer mit dem Strich und Wuchs kämmen und stutzen“, sagte er einmal.

Neben der Pflege der Haare hatte Franz-Josefs Vater seinerzeit auch die kleine Chirurgie, also das Ziehen von Zähnen, das Behandeln von Brüchen sowie das Aderlassen angeboten. Franz-Josefs Sache war dies nicht. Aber der Gesundheit fühlte auch er sich verpflichtet, und so verband er seine Tätigkeit als Gärtner mit der des Barbiers. Er setzte bei allem auf die Kraft der Natur, auf Tees und Salben aus Heilpflanzen oder auf Wickel, welche die Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren.

Franz-Josef und Gottfried arbeiteten schon seit mehr als zehn Jahren durch Vermittlung des Weilbacher Pfarrers Johann Georg Fischbach in Bad Weilbach. Fischbach war von Franz Josef beeindruckt gewesen. Schon als Jugendlicher hatte dieser den Pfarrgarten gepflegt. Einmal im Frühjahr, es mag im Jahr 1858 gewesen sein, ging der Herr Pfarrer mit Franz-Josef durch den Garten. Es sollte besprochen werden, was herausgerissen und was neu gepflanzt werden sollte.

Als sie an fünf kleinen Espen, auch Zitterpappeln genannt, vorbeikamen, blieb der Pfarrer stehen und sagte:

„Über die hier haben wir schon im letzten Jahr gesprochen.“

„Ja.“

„Haben wir diese da nicht schon damals herausreißen wollen?“

„Ja, das haben wir.“

Vier dieser kleinen Bäumchen wucherten üppig und hingen voller Blätter. Das fünfte dagegen war klein und zerzaust. Der Herr Pfarrer hatte es deshalb schon im letzten Jahr dem Feuer übergeben wollen. Franz-Josef hatte sich der kleinen Espe aber erbarmt und sie gut gedüngt. Leider ohne Erfolg, denn nun litt die kleine Espe zu allem Übel noch an der Krätze und verlor ihre Blätter gänzlich. Sie war in einem wesentlich erbärmlicheren Zustand als zuvor.

„Siehst du, sie gedeiht nicht. Wie ich gesagt habe“, sagte Pfarrer Fischbach.

„Aber euer Hochwürden, sie gedeiht doch. Für ihre Verhältnisse gedeiht sie sogar sehr gut. Sie ist nur kleiner im Wuchs und im Moment etwas kränklich. Es können nicht alle gleich groß und kräftig sein. Lasst es mich nochmals versuchen. Ich kümmere mich um sie.“

Pfarrer Fischbach erschrak. Sprach da Franz-Josef nicht die gleichen Worte wie Jesus im Gleichnis vom Feigenbaum, der keine Früchte trug und den sein Besitzer umhauen lassen wollte? Der Weingärtner erwiderte damals: Herr, lass ihn dieses Jahr noch stehen; ich will den Boden um ihn herum aufgraben und düngen. Vielleicht trägt er doch noch Früchte; wenn nicht, dann lass ihn umhauen. Und tatsächlich. Ein Jahr später wuchs die kleine Espe im nächsten Jahr über die vier anderen hinaus.

Dann einmal fragte Franz-Josef den Pfarrer: „Hochwürdigster Herr, Ihr habt studiert und seid gescheit. Ich bin nur ein einfacher Tagelöhner. Darf ich Euch etwas fragen?“

„Natürlich, wenn ich eine Antwort weiß, dann will ich sie dir gerne sagen.“

„Warum haben Pflanzen und Bäume keine Augen?“

„Hm, über was du dir Gedanken machst.“

„Ja, warum hat der Herr die Pflanzen und Bäume nicht sehend gemacht?“

„Ich denke, weil sei keine Augen brauchen. Sie stehen still und unbeweglich da und brauchen nichts zu sehen.“

„Still und unbeweglich sind sie nicht. Sie wiegen sich im Wind. Jede Minute. Aber das ist es nicht. Ich liege oft neben einem Baum und schaue des Herrn Firmament an. Am Tag sehe ich die Wolken und die Sonne, nachts die Sterne und den Mond. Man sieht Schatten, das schwache Schimmern von Licht. Alles ist endlos in Bewegung.“

„Ja, so kann man es sehen. Ich weiß nicht, warum die Pflanzen und Bäume keine Augen haben.“

„Vielleicht haben sie ja Augen.“

„Ach so?“

„Ja, vielleicht haben wir sie nur noch nicht gefunden. Oder vielleicht sehen die Bäume ganz anders als wir. Durch die Blüten im Frühjahr, die Blätter im Sommer und durch die Rinde im Winter.“

„Wer weiß, Franz-Josef“, antwortete der Herr Pfarrer. Er wollte sich die Sache durch den Kopf gehen lassen.

Eines Tages rief der Pfarrer Franz-Josef zu sich: „Ich habe mit Herrn Direktor Elber vom Kurhaus gesprochen und dich empfohlen. Du sollst dich bei ihm melden. Du kannst dort arbeiten. Herr Elber ist für das ganze Personal zuständig.“

„Vielen Dank hochwürdigster Herr Pfarrer. Da ist noch ein Problem. Ich habe da noch eine Bitte.“

„So, was?“

„Gottfried Muth, sie kennen ihn. Er braucht auch Arbeit. Er braucht dringender Arbeit als ich. Ich bin ja noch mit dem Vater als Rasierer unterwegs.“

„Ja und?“

„Nun, kann Gottfried auch mitkommen?“

„Das glaube ich nicht. Herr Elber braucht keinen weiteren Gärtner.“

„Ich könnte ja die ehrwürdigen Herren Kurgäste rasieren und Gottfried könnte sich um den Garten kümmern.“

„Ich denke, das wird nicht gehen.“

„Dann gehe ich auch nicht.“

Der Herr Pfarrer war sehr verwundert. Er redete nochmals mit Direktor Elber. Und es kam, wie Franz-Josef es vorgeschlagen hatte. Gottfried Muth und er arbeiteten fortan im noblen Kurbetrieb zu Bad Weilbach.

Dass in Weilbach ein Kurhaus stand, war einem Zufall zu verdanken. Auf der Suche nach Steinkohle durchstreifte 1783 ein Trupp von Tagelöhnern dieses kleine Wäldchen. Professor Johann Friedrich Pfeiffer, Direktor der kurfürstlichen Kommission zur Erfassung und Ausbeutung der Mineralschätze des Kurfürstentums Mainz, leitete die systematische Suchaktion. Selbst vor Ort, ließ er die versumpfte Schwefelquelle nachbohren. Als die Bohrleute am 22. August eine Kalkschicht durchstießen, schoss das Wasser mit einer solchen Macht aus dem Bohrloch, dass die Leute sich in Sicherheit brachten. Das Wasser stieg zwei Meter hoch und roch nach Schwefel. Die Männer bekreuzigten sich, weil sie meinten, sie hätten dem Teufel das Hirn angebohrt. Diese Nachricht verbreitete sich rasch und so wurde die Weilbacher Schwefelquelle, auch Faulborn genannt, bekannt.

Bereits im April 1804 wurde die Weilbacher Schwefelquelle gefasst und im August des gleichen Jahres der kurfürstliche Kammerzöllner von Strifensand angewiesen, den Vertrieb von Schwefelwasser zu organisieren. 364 Krüge wurden bereits im kommenden Jahr an die „armen Kranken nach Mainz“ geschickt. Den Weilbacher Bauern wurde Land abgekauft, um einen direkten Weg von Weilbach nach Bad Weilbach bauen zu können. Bereits 1805 erreichte der Versand von Schwefelwasser mehr als 35 000 Krüge.

Verschiedene Vermarktungsmöglichkeiten wurden geprüft und teilweise wieder verworfen. So soll 1806 jemand auf die Idee gekommen sein, das Weilbacher Schwefelwasser auch nach Holland zu exportieren, weil es angeblich ein gutes Mittel gegen Seekrankheit wäre. Auch wurde versucht, die „gesundheitsfördernde Wirkung“ von Wein und Wasser zu kombinieren, um damit den Absatz von beidem zu fördern.

Lange Zeit hatte der Herzog von Nassau kein Interesse neben Wiesbaden ein weiteres Kurbad zu etablieren. Der Erfolg des Weilbacher Heilwassers führte jedoch zu einem Umdenken. Seit der Höchster Unternehmer Horstmann den Versand des Wassers in die Hände genommen hatte, sprudelten sowohl Wasser wie auch die Gewinne. Horstmann vertrieb neben dem Weilbacher Wasser auch das Mineralwasser aus Niederselters, Fachingen und Schwalbach. Entscheidend für den Vorzug des Wassers aus Weilbach war, dass es einen der höchsten Schwefelgehalte in Deutschland aufwies. Und so wurde die Entwicklung eines Kurortes namens Bad Weilbach dann doch noch auf Geheiß des Herzogs von der herzoglichen General-Domänendirektion vorangetrieben.

1837 wurde mit dem Bau eines Kurhauses begonnen. Vermutlich stand dieser Neubau auch im Zusammenhang mit dem Bau der Taunus-Eisenbahn. Die neue Bahnlinie, der erfolgreiche Versand des Weilbacher Wassers sowie die Erfahrungen aus dem Kurbad Wiesbaden dürften den Ausschlag für diese mutige Investition gegeben haben. 1841 rangierte Bad Weilbach in der Rangliste der 15 bedeutendsten Kurorte Deutschlands mit 300 Besuchern auf dem vorletzten Platz. Angeführt wird die Liste von Wiesbaden mit knapp 30 000 Gästen, Baden-Baden mit 20 000 Gästen und Bad Ems mit 7 366 Besuchern.

Franz-Josef hatte sich die Fähigkeiten eines Barbiers selbst beigebracht. Er kümmerte sich um die Haarpracht der Männer und die Gesundheit des kleinen Mannes, der sich keinen teuren Mediziner leisten konnte. Das einfache Rasieren hatte er von seinem Vater Franz erlernt. Der hatte lediglich die Bartstoppeln abrasiert, die Haut wieder glatt massiert, das war es. Die Kunstfertigkeit des Vaters bestand darin, dass alles möglichst unblutig bewerkstelligt wurde. Franz Koch war da ein Meister seines Fachs. Er ging in Weilbach von Haus zu Haus. In einer kleinen Ledertasche trug er seine Utensilien mit sich. Ein Rasiermesser, einen Lederriemen zum Schärfen des Messers sowie einen Rasierpinsel zum Auftragen der Seife, damit die Barthaare sowie die Haut schön weich wurden.

Franz-Josef wollte mehr machen als er beim Vater sah. Er wollte nicht nur Rasierer sein. Was er genau anstrebte, wusste er selbst noch nicht. Der Weg war sein Ziel. Zunächst einmal wollte er sich mit Bärten befassen, genau wie sein Vater. Anders als dieser wollte sich Franz-Josef aber nicht alleine mit deren Kahlschlag zufriedengeben. Der Zeitgeist animierte ihn. Niemals zuvor in der Geschichte stand die Äußerlichkeit der Frisur und der Form des Bartes als Ausdruck für die Innerlichkeit eines Menschen und dessen Denken. So erlebte der gepflegte Bart einen rasanten modischen Aufschwung. Viele Zeitungen empfahlen Mittel, um den Bartwuchs zu beschleunigen.

Abenteurer und Entdecker zogen in dieser Zeit in die Welt. Sie kamen mit Fotos und Ideen aus neu entdeckten Ländern zurück. Und immer öfter hatten diese Männer einen Vollbart, der von Entbehrungen zeugte und die Massen faszinierte. Eine halbe Million Menschen strömten damals zu den Vorträgen des Bergsteigers Albert Smith, der ihnen vollbärtig die Besteigung des Mont Blanc ausmalte. Die Elite war tief beeindruckt. Die Redakteure des Tait’s Edinburgh Magazine erklärten sich sogleich zu „Vorkämpfern der langen Bärte“. „Warum rasieren?“, fragte Charles Dickens in der Wochenzeitschrift Household Words seine Leser und beantwortete die Frage gleich selbst – mit einem Manifest für den Bart. Das wirkte. Bald darauf zeigten die Karikaturen in der Zeitschrift Punch schaurig unrasierte Polizisten und bärtige Schaffner. Der Bart war überall in der Gesellschaft auf dem Vormarsch. Er sollte das Ideal von Wildnis und Männlichkeit repräsentieren.

Bei den Kurgästen und den Ärzten in Bad Weilbach stand neben der Männlichkeit hauptsächlich die „Würde“ des gestandenen Mannes im Vordergrund. Die Gäste zogen sich lange schwarze Gehröcke an und schritten, eine gute Zigarre in der Hand, im gemächlichen Gang die Kolonnaden entlang. Die Damenwelt war begeistert. Ein Arzt, der etwas auf sich hielt, legte sich einen Victor-Emanuel-Bart, eine Kombination aus Schnurrbart und Ziegen-bärtchen zu und setzte eine goldene Brille auf. Auch wenn es seine Augen gar nicht nötig hatten.

Bartformen gab es in einer schier unerschöpflichen Vielfalt. Da gab es die mehr oder weniger runden oder eckigen sowie lang gewachsene und kurz geschnittene Bärte. Schnurrbärte oder Schnauzbärte ließen sich mit allen Formen kombinieren. Franz-Josef kannte alle Varianten, die Bärte annehmen konnten und er wusste, welche Form zu wem passte. Ein Bart sollte sich harmonisch in die Physiognomie des Gesichts einfügen und zum gesamten Habitus seines Trägers passen. Der Habitus wiederum wird von vielen Faktoren beeinflusst. So etwa vom Bildungsstand und dem ausgeübten Beruf, von der sozialen Stellung, also ist der Träger Akademiker, Adliger, vermögend oder vielleicht alles zugleich? Wo wohnt er, wer ist sein Nachbar, denn ein gleichförmiger Bart ist bei einem Mann ebenso verpönt wie das gleiche Kleid zweier Freundinnen. Katholiken neigen zu anderen Bärten als sie die Protestanten bevorzugen.

Um den Bärten die gewünschte Form zu geben, Kämme, Scheren und Messer. Franz-Josef aber wollte mehr. Er hatte für spezielle Stahlscheren und Stahlmesser lange gespart. Monatelang war er auf der Suche nach den richtigen Instrumenten. Ihm war sogar der Stand des Mondes wichtig als der Stahl gegossen wurde. Einigen Messerschmieden schienen seine Wünsche gar zu ausgefallen. Zusätzlich entwickelte Franz-Josef hölzerne Rahmen, die er empfahl nachts zu tragen. Eine ganze Reihe von Kunden kauften diese Pressen, um sie auch zu Hause zu verwenden. Franz-Josef beauftragte den Weilbacher Schreinermeister Bayer, ihm solche Gestelle anzufertigen.

Mit den Holzrahmen alleine war es nicht getan. Franz-Josef empfahl auch eine ganze Reihe von Mitteln, um die Haare zu erhalten und zu verschönern. Am populärsten war ein Fläschchen mit einer besonders exotischen Tinktur: Makassar-Öl, einer Mischung aus Kokosöl, Palmöl sowie dem Extrakt des Ylang-Ylang-Baumes. Franz-Josef garantierte, eine tägliche Anwendung vorausgesetzt, starkes Haar und ein stimuliertes Wurzelwachstum. Und natürlich müsse man auch an die Wirkung glauben, betonte er; schließlich stehe das schon in der Bibel. Das Makassar-Öl war das teuerste in seinem Angebot.

Der ausgefallenste Wunsch, der an Franz-Josef herangetragen wurde, kam von einem Dachdeckermeister aus Limburg. Wegen seiner Gicht weilte er in Bad Weilbach zur Kur. Klein war er, rundlich, krumm und wohlhabend. Er liebte die Innereien auf dem Teller und den Alkohol in den Gläsern. Schon lange hatte er auf keinem Dach mehr gestanden, stattdessen kommandierte er seine Meister und Gesellen vom Boden aus. Dieser Limburger Dachdeckermeister gönnte sich eine Brille, die er zur Verbesserung seiner Sehkraft nicht benötigte.

Er wollte unbedingt, dass Franz-Josef ihm ein Backenbärtchen wie ein Luchs ins Gesicht zaubere. Franz-Josef wusste nicht genau über das Aussehen des Luchses und seines Backenbärtchens Bescheid. Also fragte er in Weilbach einen Jäger. Der kramte nach langem Suchen ein altes Buch heraus, in dem sich ein passendes Bild befand. Und tatsächlich, so ein Luchs hat zu beiden Seiten von Maul und Kinn eine seltsame Behaarung. Zwei weiße Haarzipfel sind dort die nach unten abstehen.

Franz-Josef wollte dem Dachdeckermeister das Luchsbärtchen ausreden, doch vergebens. „Nein. So ein Luchs ist schlau, er sieht hervorragend und er schleicht sich geräuschlos an seine Beute heran. Das gefällt mir.“ Also machte sich Franz-Josef an die Arbeit. Zunächst entwickelte er kleinere Bartpressen. Diese mussten über Nacht rechts und links angelegt werden. Ein größeres Problem war, dass die Barthaare des Limburgers, genau wie sein Haupthaar, pechschwarz waren. Der Backenbart des Luchses hingegen war grau. Und genau so musste es auch sein.

Franz-Josef probierte mehrere Tinkturen und mehrere Farblösungen. An Gottfried vollzog er die Praxistests. Auf einmal hatte dieser einen verschiedenfarbig karierten Bart. Die Badeärzte wollten Franz-Josef daher weitere Versuche verbieten. Aber der Limburger wandte sich entschieden dagegen. „Ich übernehme jegliche Verantwortung. Franz-Josef, mach weiter.“ Schließlich faden die beiden Freunde nach intensiven Beratungen mit dem Apotheker des Kurhauses eine Lösung: 10 Gramm Gallussäure, 30 Gramm Essigsäure und ebenfalls 30 Gramm einer Tinktur aus Eisen-III-chlorid. Die Gallussäure musste in der Tinktur auflöst und dann die Essigsäure dazugeben werden. Alles war gut zu verrühren und ausgiebig zu schütteln.

Bevor Franz-Josef dieses Mittel benutzte, wusch er das Haar mit Seife und trocknete es für gründlich für die beste Wirkung. Den Kamm tränkte er dann vollkommen in Farbe, bis alle Hohlräume voll waren. Dann kämmte er das Barthaar, von den Spitzen angefangen, bis zu dessen Wurzeln. Die Kunst bestand darin, die Gesichtshaut nicht mit der Farbe in Berührung zu bringen, denn die Wirkung auf die Haut war unkalkulierbar. Schließlich wurde das trockene Haar mit Öl eingerieben und gekämmt. Das Ergebnis war phantastisch und der Dachdeckermeister begeistert.

Der Limburger blieb mehrere Wochen zu Kur. Seine Gicht konnte nicht geheilt werden. Sein Luchsbärtchen wuchs hervorragend. Darüber war er glücklich. „Nun sehe ich nicht nur aus wie ein Luchs. Ja, ich bin ein Luchs.“ wiederholte er immer wieder. Und so zog er, nur mäßig enttäuscht über die Badeärzte, aber hochzufrieden über den Barbier in Bad Weilbach, wieder nach Limburg.

Einem Barbier vertrauen sich die Männer an. Tiefenpsychologische Analysen sollen gezeigt haben, dass Männer, denen der Bart geschnitten wird, unbewusst Kastrationsängste durchleiden. Und wer sich einem Barbier anvertraut, der überlässt ihm nicht nur seine Männlichkeit, sondern mit seinen Haaren auch seinen ganz persönlichen Schmuck. Form und Struktur des Bartes vermitteln der Umwelt einen Eindruck davon, wie modern, angepasst oder unangepasst, brav oder erotisch man sich zeigen will.

Franz-Josef beriet seine Kunden sehr individuell. Das fiel ihm leicht, denn er war interessiert und eloquent. Nicht selten wurde er so etwas wie ein Vertrauter, dem seine Kunden private Sorgen und Nöte anvertrauten. Oder sie prahlten mit amourösen Abenteuern. Neider meinten, Franz-Josef sei neugierig und geschwätzig. Aber das war er nicht. Er hörte zu, wusste und schwieg. Seine Kundschaft schätzen die Gespräche mit ihm sehr. Und honorierten ihn gut.

Schon lange drehten sich unter den männlichen Kurgästen die Gespräche um den zu erwartenden Krieg mit den Franzosen. Dieser schien für alle unausweichlich. Dafür waren weniger die aktuellen politischen Ereignisse ausschlaggebend, sondern die Tatsache, dass Frankreich als Erbfeind galt. Seit Jahrhunderten, schon zu Zeiten Ludwig des XIV, hatten die Franzosen aus Neid und Raubsucht nichts anderes im Sinn, als deutsches Kulturgut zu schänden und deutschen Besitz zu rauben.

Franz-Josef hörte bei diesen Gesprächen zu, beteiligte sich aber nicht daran. Er konnte weder mit einer Erbfeindschaft etwas anfangen, noch hegte er Groll gegenüber anderen Nationen. Er sah den einzelnen Menschen. Und diese waren, wo auch immer, meist gut und manchmal auch böse. Mit einer Erbfeindschaft hatte dies nichts zu tun.

Von der Tätigkeit eines Rasierers alleine konnte schon der Vater von Franz-Josef nicht leben. Deswegen verdiente er sich als Tagelöhner etwas hinzu, einer in Weilbach weitverbreiteten Beschäftigungsform. Tagelöhner hatten keinen eigenen Grund und Boden wie die Landwirte und keinen Beruf erlernt wie die in Zünften zusammengefassten Handwerker. Taglöhner verdingten sich als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, als sogenannte Sackträger oder Straßenarbeiter. Häufig waren sie nur tageweise beschäftigt. Mit Tagelohn verband sich über Jahrhunderte hinweg ein Arbeitsverhältnis, das lediglich ein Leben „von der Hand in den Mund“ ermöglichte. So ein Tagelöhner verdiente pro Tag etwas mehr als den Gegenwert eines Laibes Brot. Sie bildeten somit eine der untersten gesellschaftlichen Schichten. Vielfach mussten auch die Ehefrauen als Tagelöhnerinnen oder als Heimarbeiterinnen hinzuverdienen. Auch die Kinder der Taglöhner hatten keine Wahl als mitzuarbeiten und konnten daher nur selten regelmäßig die Schule besuchen. Nicht so bei den Kochs. Franz verdiente mit seinen beiden Beschäftigungen als Rasierer und Tagelöhner genug, um die Familie über Wasser halten zu können. Natürlich halfen alle mit.

Franz-Josef arbeitete deshalb schon früh auf den Feldern Weilbacher Bauern. Genauso wie die Bärte und deren Träger interessierten ihn die Pflanzen und ihre Wirkungen. Bald hatte Franz-Josef ein erstaunliches Wissen über Wechselwirkungen mit und in der Natur sowie über die Heilkräfte von Pflanzen zusammengetragen. In den Weilbacher Wirtshäusern gab er seine Erkenntnisse gerne und stolz weiter: „Wenn die Esche knospt, ist der Frost fort“, „Sät die Sommergerste, wenn das Leberkraut blüht“ oder „Erntet den Winterroggen, wenn der Teufelsabbiss blüht“.

Franz-Josef begann auch Ratschläge im Umgang mit Heilpflanzen zu geben. Dabei glaubte er an die verborgenen Kräfte der nicht im Rampenlicht stehenden, eher unscheinbaren Pflanzen. Dem Haselstrauch sprach er eine fiebersenkende und harntreibende Fähigkeit zu, vom Faulbaum erwartete er Hilfe bei Verstopfung und Hämorriden, die unteren Blätter der Wolfsmilch verwendete er als Abführmittel und die oberen als Brechmittel bei Magenbeschwerden oder dem Verdacht auf eine Lebensmittelvergiftung. Eine Krankheitsart, die damals nicht selten zum Tode führte.

Franz-Josef ging sogar so weit, den Schlaf zu beobachten. Dieser berühre das Reich der unbegrenzten Möglichkeiten. Er nannte es das Unwahrscheinliche. Der menschliche Organismus, auf dem nach seiner Meinung der Druck einer viele hundert Meter hohen Luftsäule lastete, ermüde am Abend, verfällt deswegen in Mattigkeit und ruhe sich aus. Doch in diesem schläfrigen Kopf, der weniger träge ist, als man denkt, öffnen sich andere Augen. Das Unbekannte tritt in Erscheinung.

Diese unbekannten, dunklen Dinge würden sich nun dem Menschen nähern, sich ihm entweder unmittelbar mitteilen oder als visionäre Vergrößerungen von fernen Abgründen auftreten. Der Schläfer sähe, mit völlig geschlossenen Augen, aber nicht völlig ohne Bewusstsein, diese seltsamen Phantasien vorbeihuschen: Tierwesen, wunderbare Vegetationen, furchterregende Erscheinungen, Masken, Fratzen, Mondlichter ohne Mond. Wer träumt, sähe in einer verwirrenden Dichte nichts anderes als das Nahen einer noch unsichtbaren Wirklichkeit oder das Wiederauferstehen einer vergessenen geglaubten Vergangenheit.