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Musikkontext 11

Reihe herausgegeben von
Cornelia Szabó-Knotik und Manfred Permoser

RICHARD WAGNER UND WIEN
Antisemitische Radikalisierung
und das Entstehen des Wagnerismus

Herausgegeben von
Hannes Heer / Christian Glanz / Oliver Rathkolb

Redaktion
Sven Fritz / Hannes Heer / Christian Glanz

HOLLITZER

INHALTSVERZEICHNIS

Hannes Heer

„Eine Verheißung, keine Erfüllung.“

Richard Wagner und Wien. Ein Vorwort

Hannes Heer

Verschwörungstheorien und Vertreibungspläne

Die skandalöse Neuedition von Richard Wagners Pamphlet „Das Judenthum in der Musik“ 1869

Clemens Höslinger

Jüdisches und Antijüdisches in der Wiener Hofoper

Hans-Joachim Hinrichsen

Ästhetische Grundsätze oder persönliches Ressentiment?

Eduard Hanslick contra Richard Wagner

Richard Klein

Das Wahre an Eduard Hanslick

Wolfgang Fuhrmann

Der Kritiker und seine Schrift:

„Vom Musikalisch-Schönen“ als Vorlage für die Figur des Beckmesser?

Fritz Trümpi

Richard Wagner im Wiener Feuilleton des Liberalismus

Medienhistorische Überlegungen und ausgewählte Beispiele

Carolin Bahr

Richard Wagner und die frühen „Lohengrin“-Inszenierungen in Wien

Ein Beitrag zur „Originalität“ von Wagner-Aufführungen

Malou Löffelhardt

Wagner-Euphorie 1871–1914

Der „Wagner-Verein in Wien“ und der „Wiener Akademische Wagner-Verein“

Barbara Boisits

Wagnerianer, aber nicht „Wagnerit“

Der Fall Guido Adler

Oliver Rathkolb

Graz als „Epizentrum“ des Wagnerismus

Werner Hanak-Lettner

„Die Freiheit der Juden ist die Freiheit des Deutschtums“

Deutschnationale Juden in Wien

Michael Wladika

„Mit dem Schwure, den ,Neuen Richard Wagner-Verein zu Wien‘ … zu lenken und uns niemals und mit niemandem zu vermengen, der nicht Wagnerianer und Schönerianer ist, zeichnen wir in alter Lieb und Treu …“

Die verspätete Wagner-Rezeption der Schönerianer, der Neue Richard Wagner-Verein und Schönerers Pilgerfahrten nach Bayreuth

Sven Fritz

„Das deutsche Volk von Grund und Boden auf reformieren“

Houston Stewart Chamberlain und die Wiener Wagnervereine

Hannes Heer

„Die semitische Falle“

Cosima Wagner und Gustav Mahler

Gerhard Scheit

„Ich weiss nur einen Mimen … und der bin ich!“

Konfrontation mit Wagners Antisemitismus bei Gustav Mahler und Otto Weininger

Biografien

Hannes Heer

„EINE VERHEIßUNG, KEINE ERFÜLLUNG.“

RICHARD WAGNER UND WIEN. EIN VORWORT

Am 6. September 1879 hatte Cosima Wagner in ihrem Tagebuch einen Brief ihres Mannes an den Direktor der Wiener Hofoper erwähnt: „Gestern schrieb R.[ichard] an Herrn Jauner, der ihn gebeten hatte, zu den Aufführungen zu kommen, wie er nur glauben könne, daß er jemals Wien wieder beträte.“1 Bei den Aufführungen, zu denen Jauner den Komponisten vergeblich eingeladen hatte, handelte es sich um den „Ring des Nibelungen“, der in diesem Jahr erstmals als zusammenhängende Darbietung von der Wiener Hofoper aufgeführt wurde.2 Wagner war dieser endgültige Bruch mit Wien offensichtlich so wichtig, dass er ein Jahr später noch einmal auf das Thema zurückkam: Er kritisierte Cosima, weil sie dem Vorstand des Wiener „Akademischen Wagner-Vereins“ nicht mitgeteilt hatte, „daß er nie wieder nach Wien kommen würde.“3 Cosima hatte den genauen Inhalt von Wagners Antwortbrief an Jauner in ihrem Tagebuch nicht mitgeteilt, weil er in seiner rüden und aggressiven Diktion nicht zu dem hohen Ton passte, den sie bevorzugte: „Glauben Sie, daß die sechs Wochen im Winter 1875 als angenehme Erinnerung in meinem Gedächtnis leben?“ hatte Wagner dem Wiener Hofoperndirektor geschrieben. „Als ich am letzten Abend nach Ihrem üppigen Souper von Ihnen schied, wußte ich, daß ich nie wieder Wien betreten würde! Dort, wo ungestraft jeder Lumpenhund über einen Mann wie mich herfallen und seine Jauche über mich ergießen kann, dort habe ich – glücklicherweise! – nicht mehr mich blicken zu lassen. – Nie! Nie! – Grüßen Sie den Staatsrat Hanslick und Speidel und wie das Gesindel alles heißt; ihnen zürne ich nicht, denn ihr Metier scheint ihnen denn doch in Wien Geld einzubringen: somit scheint das Publikum doch sie lieber zu haben als mich.“4 Aber es waren nicht nur die in seiner Wahrnehmung permanenten und vernichtenden Angriffe der Wiener Presse, die, verkörpert in den Kritikern Eduard Hanslick und Ludwig Speidel, diesen Abschied erzwungen hatten. Es war auch die Erinnerung an eine andere, tiefere Verletzung, die er in Wien erlebt hatte und die jetzt im Alter wiederaufgetaucht war: „O wie ich immer einsam war, wenn ich an dieses Wien denke!“, notierte Cosima in ihrem Tagebuch am 1. November 1878 Wagners Erinnerung.5 Wenig später kam dieser selbst noch einmal auf diese „schlimmen Zeiten in Wien“ zurück: „Das alles war doch nicht notwendig.“6

Im Mai 1861 kam Wagner nach Wien, um über Sänger für seine in Karlsruhe geplante Uraufführung von „Tristan und Isolde“ zu verhandeln. Als er dort zum ersten Mal seinen „Lohengrin“ sah, weinte er vor Glück: „Orchester, Sänger, Chor – alles vortrefflich, unglaublich schön!“ schrieb er seiner damaligen Frau Minna.7 Und von der Vorstellung des „Fliegenden Holländers“ kurz darauf berichtete er: „Ein unglaublich herzliches, lebhaftes Volk, dazu Fürsten und Grafen in den Logen: alles rief und applaudierte mit.“8 Wenige Tage später betraute ihn die Direktion des k.u.k. Hoftheaters unter Matteo Salvi, statt ihm Sänger für Karlsruhe freizugeben, mit der Uraufführung von „Tristan und Isolde“ in Wien. „Tristan soll hier am 1. Oktober sein; am 15. August will ich hier eintreffen“, berichtete er Minna und jubelte: „Alles ist himmlisch dazu disponiert! Ich kann nirgends ähnliche Mittel finden.“9 Aber dieses Urteil sollte sich als krasse Fehleinschätzung erweisen. Das Projekt scheiterte nach zwei Jahren und 77 Proben an den Unzulänglichkeiten der Besetzung und der Unfähigkeit der Hofoperndirektion: „Tristan entsagt. Sehr einsam“, notierte Wagner im Juni 1863 in den Annalen, seinen stichwortartigen Aufzeichnungen.10

Es war sein neuer Gönner Ludwig II., der die Uraufführung von „Tristan und Isolde“ 1865 in München ermöglichte. Dort kamen auch „Die Meistersinger von Nürnberg“, deren Textfassung während des Tristan-Projekts in Wien entstanden war und auf die Wagner alle seine Hoffnungen gesetzt hatte, mit Hilfe des Königs 1868 zur Uraufführung. Aber der erhoffte Durchbruch schien auszubleiben, wie Hanslicks vernichtender Verriss in der Wiener „Neuen Freien Presse“ andeutete: „Nicht die Schöpfung eines echten Musikgenies haben wir kennengelernt, sondern die Arbeit eines geistreichen Grüblers, welcher – ein schillerndes Amalgam von Halbpoet und Halbmusiker – sich […] ein neues System geschaffen hat, […] das in seinen Grundsätzen irrig, in seiner konsequenten Durchführung unschön und unmusikalisch ist. Wir zählen die ‚Meistersinger‘“, so schloss der Rezensent, „zu den interessantesten musikalischen Ausnahms- oder Krankheitserscheinungen.“11 Wie einst Meyerbeer der Dämon seiner Pariser Jahre gewesen war, so schien Hanslick der böse Geist von Wagners Wiener Unternehmungen zu sein. Zu diesem schlimmen Omen passte die Rolle der Hofoper. Diese war eine der ersten gewesen, die sich eine für April 1869 zur Eröffnung des neuen Hauses geplante feierliche Erstaufführung gesichert hatte. Als aber diese Abmachung wegen Verzögerungen bei den Bauarbeiten nicht eingehalten werden konnte und die Hofoper auch noch das Recht auf eine Strichfassung forderte – eine Bedingung, die auch andere große Bühnen stellten – machte Wagner seiner Empörung Luft: „Am widerwärtigsten ist mir das ganze Wien von A bis Z“, schrieb er dem Dirigenten Hans Richter12 und brach vorläufig den Kontakt mit der Hofoper ab. Die zugesagte Aufführung der „Meistersinger“ fand im Februar 1870 dann doch noch statt und endete wegen massiver Störungen und Gegenreaktionen im Publikum mit einem Skandal.

Die Beziehungen Wagners zu Wien verbesserten sich erst wieder, nachdem im Jahr 1871 als Reaktion auf seinen öffentlichen Aufruf zur Unterstützung des Baues eines Festspielhauses in Bayreuth der erste „Wiener Wagner-Verein“ entstand, dem 1873 die Gründung eines weiteren, des „Wiener Akademischen Wagner-Vereins“ folgte. Beide Vereine organisierten zwei Konzerte zur Unterstützung des Bayreuth-Projekts, die im Frühjahr 1875 unter dem bejubelten Dirigat Wagners stattfanden. Zur gleichen Zeit versprach ihm der äußert einflussreiche Ministerialrat Leopold Freiherr von Hofmann seine Unterstützung, und der neue Hofoperndirektor Franz Jauner bot ihm die Neuinszenierung von „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ an. Wagner antwortete auf die verlockende Offerte, dass zwar sein „Widerwille“ gegen die bestehenden Operntheater in der Vergangenheit „bis zum heftigsten Grade gesteigert worden“ sei, er aber einen solchen Versuch in Wien wagen wolle, weil ihn der Gedanke reize, die Hofoper „zu einem wahrhaft mustergültigen“ Theater zu machen, um damit für seine Werke „eine dauernde Stütze [zu] gewinnen“. Sollte das nicht gelingen, „so verlasse ich mich allein auf meine Bayreuther Unternehmung und – begnüge mich mit deren Erfolge.“13 Die Neuinszenierungen endeten, wie Cosima während der Proben im November und Dezember 1875 berichtete14 und wie der oben zitierte Brief Wagners an Jauner 1879 bestätigte, mit einem völligen Desaster.Zwar kam es im März 1876 noch zu einem von Wagner dirigierten und vom Publikum umjubelten Benefizkonzert zugunsten des Hofopernchors, aber die von Cosima überlieferte Begeisterung über die Leistungen von Chor und Orchester währte nur kurz:15 Als der Hofoperndirektor Franz Jauner die Freigabe der Sängerin Amalie Materna für die Rolle der Brünnhilde bei der Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses im selben Jahr von der Zusage der Rechte für „Tristan“ und „Walküre“ abhängig machte und mit der Herstellung der Bühnenbilder schon vor der Uraufführung in Bayreuth beginnen wollte, reagierte Wagner empört – „alles dort morsch, treulos. Und so roh.“16 Er brach den Kontakt zur Hofoper ab.

Dieses Verlaufsprotokoll der Jahre 1861 bis 1876 demonstriert das enervierende Auf und Ab der Beziehung Wagners zu Wien in diesen Jahren. Max von Millenkovich, der unter dem Pseudonym Max Morold publizierende deutschnationale und später nationalsozialistische Schriftsteller, dessen 1930 erschienenes Buch „Wagners Kampf und Sieg“ wegen der zahlreichen erstmals gedruckten Briefe noch immer eine unverzichtbare Quelle für diese Beziehungsgeschichte ist, brachte die emotionale Liaison so auf den Punkt: „Für Wagner bedeutete Wien, wie für so viele, die nicht hier geboren sind, immer nur eine Verheißung, keine Erfüllung.“17 Aber diese unerwiderte Liebe war weder die Folge einer ethnischen Besonderheit, noch eines bösen Zaubers der Donaumetropole. Sie war vor allem das Produkt der narzisstischen Erwartungen und verzerrten Wahrnehmungen des genialen Komponisten und Festspielgründers. In Paris hatte Wagner drei Jahre vergebens auf seinen Durchbruch gehofft, in Dresden sieben Jahre lang erfolgreich als Hofkapellmeister gewirkt und in Wien, summiert man alle Aufenthalte, drei Jahre alles Mögliche in Gang zu setzen versucht. Nimmt man die ersten Begegnungen 1832 und 1848 dazu, dann hat Wagner keiner Stadt mehr Besuche abgestattet als Wien, nirgendwo sonst wurden seine romantischen Erstlingswerke so früh und in solcher Qualität aufgeführt und vor allem hier hatte er ein ihm ergebenes, in drei Wagner-Vereinen organisiertes Stammpublikum gefunden. Zusätzlich bot die 1875 erfolgte Anstellung von Wagners treuestem Vasallen, Hans Richter, als Kapellmeister der Hofoper die Garantie für die erstklassige Präsenz der Werke des Bayreuther „Meisters“ im Spielplan und machte Wien endgültig zur frühen Hauptstadt des europäischen Wagnerismus. Dass hier zugleich seine ärgsten Kritiker Eduard Hanslick, Ludwig Speidel, Daniel Spitzer und Max Kalbeck beheimatet waren, bedeutete keinen Widerspruch zu dieser Tatsache, sondern eher eine Bestätigung der Bedeutung dieses Ortes.

Es waren nicht, wie von Jens Malte Fischer behauptet, der Abbruch der „Tannhäuser“-Aufführungen in Paris 1861und die Vertreibung des Komponisten aus München 1865,18 sondern die Erfahrungen des Scheiterns in Wien – das abgebrochene Tristan Projekt, Hanslicks „Meistersinger“-Verriss und die Verschiebung der Aufführung durch die Hofoper – die Wagner 1869 zur Neuedition seiner 1850 publizierten Kampfschrift „Das Judentum in der Musik“ veranlassten. Die um einen neuen Text erweiterte Fassung bedeutete einen antisemitischen Radikalisierungsschub, weil Wagner darin eine übermächtige jüdische Verschwörung konstruierte, die es auf die „systematische Verleumdung und Verfolgung“ seiner Person abgesehen habe und nur durch die „gewaltsame Auswerfung“, d. h. die Vertreibung aller Juden abgewehrt werden könne.19 Diese Wahnvorstellung und die eigentlich vorhersehbare Erkenntnis, dass eine Repertoirebühne mit ihrem Stilmischmasch wie die Wiener Hofoper die erhoffte Funktion, der wichtigste Stützpunkt für die Aufführung seiner Werke außerhalb von Bayreuth zu werden, niemals erfüllen konnte, führten 1875/76 zum endgültigen Abbruch aller Beziehungen Wagners zu Wien.

Diese Beziehungsgeschichte hat der Autor dieses Beitrags in dem Katalog, den das Jüdische Museum Wien zur Ausstellung „Euphorie und Unbehagen. Das jüdische Wien und Richard Wagner“ 2013 publiziert hat, erstmals umfassend dargestellt.20 Der Katalog lieferte die erste wissenschaftliche Untersuchung zu Wagners Blick auf Wien und seine Prägung durch die dort gemachten Erfahrungen.21 Im selben Band hat Leon Botstein eine luzide Darstellung der Wirkung von Wagners Musik geliefert. Diese habe wegen ihres absolut neuartigen Narrativs aus „Sprache, Bildern und Ideen“ über die musikalisch Gebildeten hinaus damals auch ein Massenpublikum erreicht. Und die im Musikpublikum überproportional vertretenen Juden seien wegen des an Beethoven erinnernden revolutionären Charakters dieser Musik „Vorreiter der Wagner-Verehrung“ geworden. Dessen Judenhass habe man hingenommen, weil der Antisemitismus ohnehin allgegenwärtig gewesen sei und man an die vom „Meister“ selbst propagierte „erlösende Kraft von Kunst und Kultur“ geglaubt habe.22 Michael Haas hat an gleicher Stelle Eduard Hanslicks Reaktion auf Wagner und die ganz andere Rezeption von dessen Musik durch die „Expressionisten“ Gustav Mahler sowie Arnold Schönberg und dessen Schüler untersucht. Während Hanslick angesichts des in seinen Augen künstlerischen Zwergwuchses in der Nach-Beethoven-Ära das Erscheinen des Musikrevolutionärs Wagner zunächst begeistert begrüßt hatte, verweigerte er ihm spätestens seit „Tristan und Isolde“ die Gefolgschaft: Indem in dieser Oper der „Anker der Tonalität gelichtet“ worden sei, so beschreibt Haas Hanslicks Reaktion auf diesen Bruch, habe Wagner eine „Flutwelle der Formlosigkeit“ geschaffen und damit ein völlig unkontrolliertes Spiel der Gefühle ermöglicht. Das war für Hanslick, der mit seiner Programmschrift „Vom Musikalisch-Schönen“ und seiner Professur für Ästhetik und Musikgeschichte zum Begründer der modernen Musikwissenschaft werden sollte, ein Angriff auf den Kanon der Klassik und auf seine eigene „musikalische Prüderie“. Als Sprachrohr der „altdeutschen“ Musikauffassung habe er mit seinem Protegé Johannes Brahms „eine Art Koalition“ gegen die „Neudeutschen“ Franz Liszt und Wagner geschlossen und dadurch die Wiener Institutionen „unempfänglich für Neues werden“ lassen.23 Gustav Mahler dagegen, so die These von Haas, habe den „altdeutschen symphonischen Apparat mit der neudeutschen symphonischen Dichtung“ kombiniert – seine Symphonien seien daher nur noch durch einen losen Erzählstrang zusammengehaltene „symphonische Dichtungen im Sinne Liszts“ gewesen. Arnold Schönberg und seine Jünger Alexander Zemlinsky und Franz Schreker hätten dann „Wagners Ideen einen Schritt weiter“ entwickelt und sich gänzlich von der Tonalität abgewandt. Diese „Gegenbewegung“ sei „ausschließlich jüdisch und ihrem Wesen nach Wagnerianisch“ gewesen.24 Michael Ley hat schließlich den politischen Kontext von Wagners Werken und die Rolle, die diese für Hitlers Weltbild gespielt haben, beleuchtet. Dabei geht er von Max Webers These aus, dass moderne Gesellschaften als Reaktion auf die von der Aufklärung durchgesetzte Rationalität und Entzauberung der Welt einen Prozess der Resakralisierung in Gang gesetzt hätten, durch den neue säkulare Mythen und profane politische Religionen hervorgebracht worden seien. Richard Wagner als „genialer Seismograph seiner Zeit“ habe diese Tiefenströmung gespürt und den Mythen-Stoff seiner Musikdramen wie seinen politischen Auftrag daraus geschöpft – das Theater als einziger Ort kollektiver Verzauberung, der Künstler als Prophet einer neuen Kunst-Revolution und die Erlösung vor der zerstörerischen Moderne durch einen „arischen“ Christus. Dieser Welt war Hitler, nach eigenem Zeugnis, schon als Zwölfjähriger in Gestalt von Wagners Oper „Lohengrin“ begegnet und ihr seitdem verfallen. Mit 17 Jahren hatte er dessen Oper „Rienzi, der letzte der Tribunen“ gesehen und sich dabei als Inkarnation des Helden erlebt, der sein Volk von der Tyrannei des Adels zu befreien suchte und scheiterte. „In jener Stunde begann es“, soll Hitler nach Goebbels‘ Erinnerung 1939 Winifred Wagner gestanden haben.25

Diese Beiträge lieferten wichtige Erkenntnisse, hinterließen aber zugleich zahlreiche offene Fragen:

1. Ließ sich Wagners antisemitische Verschwörungstheorie von 1869 und sein privates Wahnsystem in die massenhaft verbreitete Verschwörungsliteratur des 19. Jahrhunderts einordnen? Und: Lag der Neuedition seines Pamphlets „Das Judentum in der Musik“ ein verändertes Juden-Bild zugrunde, das es erlauben würde, auch Wagners parallel zur Arbeit am „Parsifal“ entstandenen rassistischen Spätschriften zu entschlüsseln?

2. Es hatte sich gezeigt, dass die Geschichte der für die Verbreitung von Wagners Werk wie für den Kult um seine Person wichtigen Richard-Wagner-Vereine in Wien noch nicht geschrieben war. Dabei gab es in der Stadt insgesamt drei solcher Zusammenschlüsse, die alle eine andere Zielrichtung aufwiesen und dieser Widersprüchlichkeit auch ihr Entstehen verdankten. Bezüglich der Rolle des österreichischen Wagnerismus war aufgefallen, dass die erste Aufführung einer Wagner-Oper nicht in Wien, sondern 1854 in Graz stattgefunden hatte.

3. Hanslicks Rolle in den Auseinandersetzungen mit und um Wagner blieb jenseits des bekannten Tatbestandes einer lebenslangen Feindschaft weitgehend ungeklärt: War es der mit seiner Polemik ins Mark treffende Star-Kritiker oder der die Wiener Klassik verteidigende Ästhetik-Papst, der Wagner so reizte, dass ihm jede Lüge recht war, um Hanslick als den hinterhältigen Verursacher allen Unglücks zu überführen? Und was war die Quelle von Hanslicks Ablehnung? Schließlich: Welche Rolle spielte das Thema Richard Wagner in der Wiener Presse der 1860er und 1870er Jahre?

4. Gänzlich ausgespart worden war die Beziehung von Wagners Ehefrau Cosima zu Wien. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie zur Erbin seines Werks und dessen Pflege und stand daher in engem Kontakt mit zahlreichen staatlichen und privaten Institutionen der Stadt. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung der deutschnationalen Bewegung Georg von Schönerers für die Wagner-Rezeption ebenso wichtig wie die Rolle des seit 1889 in Wien lebenden Schriftstellers und Cosima-Vertrauten Houston Stewart Chamberlain. Auch der Anteil Gustav Mahlers an der Entstehung des Wagnerismus und der bizarre Kampf, den Cosima Wagner mit dem jüdischen „Wagnerianer“ Mahler bei der Erstaufführung von Siegfried Wagners Oper „Der Bärenhäuter“ ausgefochten hatte sind bisher nicht untersucht worden.

Die genannten Defizite waren der Auslöser für den Entschluss, eine wissenschaftliche Konferenz zur Auflösung dieser Leerstellen zu organisieren. Diese fand unter dem Titel „,Alles dort morsch, treulos. Und so roh.‘ Richard und Cosima Wagners Blick auf Wien“ vom 16. bis 18. Oktober 2014 in der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst statt. Das Zustandekommen ermöglichten vier wichtige Institutionen der Stadt Wien: das Jüdische Museum und deren Leiterin Danielle Spera wie der Chefkurator Werner Hanak-Lettner, das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien in Person von Oliver Rathkolb, das Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik der Musikuniversität Wien, jetzt Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung, in Person von Christian Glanz und die Staatsoper Wien, vertreten durch deren Direktor Dominique Meyer. Diesen Institutionen und deren Repräsentanten sei an dieser Stelle für ihre Weitsicht bei der Unterstützung der Konferenz und für ihre Geduld bei der Fertigstellung dieses Konferenz-Bandes herzlich gedankt. Dank gebührt auch allen Autorinnen und Autoren, die sich an der Konferenz beteiligt haben und am Entstehen dieses Bandes beteiligt waren. Die Druckkosten wurden vom Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien und vom Verein zur Wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte in Wien aufgebracht. Die Herausgeber bedanken sich für diese Unterstützung. Die Redaktion des Bandes, deren Hauptlast Sven Fritz und der Autor dieses Vorworts getragen haben, wurde durch eine Spende von Eva Rieger und der Mariann Steegmann Foundation ermöglicht, denen ebenfalls Dank gebührt. Dieser Dank gilt auch dem Hollitzer Verlag, der den Band in sein Programm aufgenommen hat.

Die Grundthese des vorliegenden Buches lautet: Wien hat eine eminente Rolle im Leben Richard Wagners gespielt, und der Einfluss der Stadt auf dessen Weltanschauung, dessen Werk wie dessen Verbreitung kann nicht groß genug eingeschätzt werden. Diesen Prozess der weltanschaulichen Formierung Wagners durch Wien untersucht der Beitrag von Hannes Heer. Das Konstrukt einer jüdischen Verschwörung gegen sein Werk, das Wagner in der Neuedition seines Pamphlets „Das Judentum in der Musik“ 1869 und in der im selben Jahr erschienenen Schrift „Über das Dirigieren“ entwarf, fügte sich ein in die damalige Literatur über radikale Geheimbünde und angebliche Pläne einer jüdischen Weltherrschaft. Wagners Bild vom Judentum reagierte auf die im Zusammenhang der industriellen Revolution gewachsene Bedeutung jüdischer Industrieller und Bankiers und auf das als Spätfolge der französischen Revolution und deren Emanzipationsgesetze entstandene jüdische Bürgertum. Aus dieser Schicht kamen auch die Dirigenten, die aufgrund ihrer speziellen Ausbildung die nur aus Praktikern bestehende ältere Dirigentengeneration verdrängt hatten und, wie „Musikbankiers“ agierend, als gut organisierte „Taktschlägerarmee“ das deutsche Musikwesen beherrschten. Diese fixe Idee von der bereits vollzogenen Machtergreifung der Juden erklärt auch die sich steigernden Gewaltrezepte, die Wagner seit der Aufnahme der Arbeit am „Parsifal“ 1877 entwickelte. Unter dem Einfluss des französischen Diplomaten Joseph Arthur Gobineau und dessen Schrift „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ sah er das deutsche Volk in einen Kampf um Leben und Tod gegen das als „Dämon des Verfalles“ und „Feind der Menschheit“ bezeichnete Judentum verwickelt und propagierte als „große Lösung“ den Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft. Clemens Höslinger ergänzt das Thema „Wagner und die Juden“ mit seiner mikrohistorischen Skizze der Wiener Theater- und Musikszene der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Es gab demnach keine antisemitische Agitation an den Hoftheatern wegen der eindeutigen Haltung des Kaisers und des starken Anteils jüdischer Künstler in den Ensembles. Auch das Opernpublikum bestand zu einem großen Teil aus Juden. Allerdings existierte ein vulgärer antijüdischer Reflex, den Höslinger „Gebrauchs-Antisemitismus“ nennt, weil er je nach Situation mobilisiert oder unterdrückt werden konnte. Aufgrund der in der Verfassung von 1867 garantierten Gleichstellung der Juden habe sich „eine elitäre Schicht des Judentums“ entwickelt, deren Gegenpol der aus den Reichsgebieten im Osten erfolge Zuzug verarmter und ungebildeter Juden gewesen sei. Deren Physiognomien, Sprache und Alltagsverhalten seien zum Gegenstand satirischer Zeitungen und böser Bühnenpossen geworden.

Hans-Joachim Hinrichsen fragt im Themenblock „Wagner und Hanslick“ nach dem jeweiligen Ausgangspunkt der Kritik der beiden Kontrahenten. Für Hanslick gehe es bei dem Konflikt um zwei sich widersprechende Konzepte – sein eigenes, in dem Traktat „Vom Musikalisch- Schönen“ formuliertes System, das die ästhetische Autonomie der Musik behaupte, und das „falsche“ musikalische Konzept Wagners, das in der bewussten Auflösung der klassischen Formen auch „das Ende der Musik“ bedeute. Während Hanslicks Wagner-Kritiken „eine der Intention nach sachliche (und nicht etwa persönliche) Basis haben“, sieht Hinrichsen bei Wagner einen „durch persönliche Ressentiments“ geprägten, „phobischen“ Blick auf seinen Haupt-Kritiker. Dieser sei nur erklärbar aus dem größeren Zusammenhang einer für Wagner realen jüdischen Weltverschwörung und konkreter aus dem Zustand „existentieller Angst“, die europaweite „Beethoven-Verhunzung“ durch eine von jüdischen „Musikbankiers“ dominierte Dirigentengeneration nicht verhindern zu können. Sein zweites Schweizer Exil verschärfte dieses Gefühl, weil er sich erneut „vom deutschen Musikleben“ abgeschnitten sah. Die Multiplikation von Hanslicks Kritik durch die Wiener Presse sei, so resümiert Hans-Joachim Hinrichsen für „Wagners Verfolgungswahn nur der Schlussstein“ gewesen. Für Hanslick, daran erinnert Richard Klein, sei Musik nur „beseelte Form“ gewesen – der „‚Geist‘ eines Werkes in der Form seiner Töne und Tonbeziehungen.“ Musik im strikten Sinne war nur Instrumentalmusik – Texte oder gar Bühnenaktionen gehörten für ihn zur „außermusikalischen Welt“. Damit habe er „an ästhetische Kernfragen“ gerührt, die von der Musikwissenschaft „bislang nicht genügend reflektiert“ worden seien. Hanslick habe sich damals mit seiner Theorie „Vom Musikalisch-Schönen“ nicht durchsetzen können, weil mit dem Historismus eine Geschichtsphilosophie dominant wurde, die, in deutlicher Wendung gegen die Aufklärung, alle gesellschaftlichen Prozesse und kulturellen Produkte nur noch unter dem Aspekt ihrer historisch-genetischen Individualität verstehen wollte. Klein besteht darauf, Hanslicks musik-ästhetischen Ansatz ernst zu nehmen – „seine Rede von den Formen, die allein der Inhalt von Musik seien, [war] keine schale Tautologie, sondern ein provokatives Rätsel.“ Der Professor für Ästhetik habe um die Probleme dieser Definition gewusst, aber auch, dass sie sich „mit den Mitteln ‚seiner‘ Wissenschaft nicht lösen [ließen].“ Wolfgang Fuhrmann verneint am Beginn seines Betrags die Frage, ob sich die Figur des Beckmesser als Personifikation des verhassten Judentums aus dessen 1850 verfassten Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ ableiten lasse: Der Stadtschreiber könne als Porträt eines pedantischen Musikkritikers wie als Muster für „den Juden“ interpretiert werden, aber er müsse dabei immer auch als ein „freilich karikaturistisch überspitzter Repräsentant der Meistersinger insgesamt“ begriffen werden. Gleichzeitig betont er, dass die „Meistersinger“, und damit auch die Figur des Beckmesser, dem „stärker rassistischen Antisemitismus“ der Neuedition des Judentum-Pamphlets viel näher standen als dem Ursprungstext von 1850. Hanslicks Traktat „Vom Musikalisch-Schönen“, betont Fuhrmann, sei nicht gegen Wagner gerichtet gewesen, und Wagner habe es, bei Kenntnis von dessen Grundthese, erst Ende 1868 wirklich gelesen. Hanslick verwendet, wie Fuhrmann vermutet, unter Benutzung der Formulierung des befreundeten Prager Musikkritikers August Wilhelm Ambros, für sein Ideal „reiner, absoluter Tonkunst“ das Bild des Kaleidoskops. Die gleiche Metapher hatte Wagner vier Jahre vorher in seinem Judenpamphlet im negativen Sinn benutzt –zur Charakterisierung von Mendelssohn- Bartholdys Musik, die den Zuhörer mit den „feinsten, glättesten und kunstfertigsten Figuren“ nur unterhalten wolle, anstatt ihn mit „Herz und Seele“ zu ergreifen.

Zwei Beiträge befassen sich mit dem Bild Wagners in der Wiener Presse in der Ära des politischen Liberalismus bzw. mit der in dieser Zeit an der Hofoper wie in der Öffentlichkeit heftig diskutierten Frage der Striche in den Partituren des „Meisters“. Fritz Trümpi erinnert, daran, dass Wagners Werke in Wien erst sehr spät zu sehen waren, weshalb die Auseinandersetzung mit ihm zunächst nur anhand seiner Schriften geführt worden sei. Erst mit den ersten Aufführungen – 1857 der „Tannhäuser“ am Thalia-Theater und 1858 „Lohengrin“ an der Hofoper – habe man sich auch über seine Musikdramen streiten können. Dabei sei die positive Wahrnehmung Wagners zunächst eine Minderheitsposition gewesen. Erst mit Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 habe die Sympathie für Richard Wagener und dessen Werk deutlich zugenommen. Nicht zuletzt durch das moderne Zeitungswesen sei der Wagnerismus „eine Art Massenbewegung innerhalb der künstlerischen und gesellschaftlichen Eliten“ geworden. Das Feuilleton habe dabei die Rolle des Tabubrechers übernommen. Carolin Bahr widmet sich – am Beispiel der Wiener Hofoper und der dortigen „Lohengrin“-Inszenierungen – dem Thema der „Originalität“ von Wagner-Aufführungen und dem Kampf, der darüber zwischen dem Komponisten auf der einen und dem Theater wie dem Publikum auf der anderen Seite entbrannte. Bahr erinnert, dass es weit bis ins 19. Jahrhundert hinein üblich gewesen sei, mit variablen Partitur-Vorlagen zu arbeiten, die sich an den aufführungspraktischen Gegebenheiten und nicht am Willen des Komponisten orientiert hätten. Auch Wagner habe sich in den sechs Jahren als Kapellmeister in Dresden dieser Realität angepasst. Erst seit seinem ersten Schweizer Exil, als er von jedem direkten Einfluss auf die Praxis der Aufführungen ausgeschlossen war, habe er rigoros jede von fremder Hand vorgenommene Veränderung seiner Partituren zu verhindern versucht. Bahr nennt drei Gründe für die Kürzungen – politische Zensur aus diplomatischen Gründen, Rücksicht auf die stimmlichen Grenzen des Solopersonals und der Versuch, die Überlänge der Stücke auf ein für das Publikum zumutbares Maß zu begrenzen. Vor allem gegen die fünf Stunden dauernde „Lohengrin-Haft“ habe die Wiener Presse immer wieder polemisiert. Wagner habe versucht, durch Anwesenheit bei den Proben oder als Dirigent mit strichlosen „Musteraufführungen“ Maßstäbe zu setzen. Aber erst durch die Bayreuther Festspiele und den dort betriebenen Kult des „Meisters“ seien dessen Opern unantastbare Kunstwerke geworden.

Malou Löffelhardt eröffnet das Kapitel über die Rolle Wiens als europäischer Vorort des Wagnerismus mit der Geschichte der beiden großen Wagner-Vereine. Der erste, 1871 gegründete „Wagner-Verein in Wien“, dem außer prominenten Musikern Begüterte aus Wirtschaft, Industrie und Hochadel, darunter viele Juden, angehörten, wollte in Reaktion auf Richard Wagners Aufruf nur den Bau des Bayreuther Festspielhauses finanziell unterstützen. Daher löste er sich nach der erfolgreichen Uraufführung der Ring-Tetralogie 1876 wieder auf. Die zweite Gründung, der 1872 konstituierte „Wiener Akademische Wagner-Verein“, rekrutierte sich aus „musikalisch Gebildeten“ und jungen Musikern, die neben der Unterstützung des Festspiel-Projekts „die Kenntnis und Würdigung“ von Wagners Ideen und Werken durch Vorträge, interne Musik-Abende und öffentliche Konzerte zu verbreiten suchten. Zu den Mitgliedern gehörten Monarchisten und Liberale, Sozialisten und Deutschnationale, Juden und Nichtjuden. „Das Gros der Vereinsmitglieder“, vermutet Löffelhardt, sei allerdings „mehr oder weniger“ deutschnational und antisemitisch gewesen. Einer Gruppe radikaler Mitglieder unter Führung des Politikers Georg von Schönerer war das zu wenig: Sie protestierten gegen die „Verjudung“ und den mangelnden Nationalstolz und stellten in einer Kampfabstimmung 1889 die Machtfrage. Die Unterlegenen konstituierten sich im folgenden Jahr als „Neuer Richard-Wagner-Verein“, der den Beitritt von Juden ausschloss, sich aber bereits 1898 wieder auflöste. Barbara Boisits Beitrag befasst sich mit dem jüdischen und bestens vernetzten Begründer der Musikwissenschaft an der Universität Wien, Guido Adler, der vom Wagner-Jünger und Mitbegründer des „Akademischen Wagner-Vereins“ zum kritischen Wagnerianer wurde. Sie führt den Wagner-Enthusiasmus von Adler und dessen Generation nicht nur auf die Wirkung der Musik und das Erlebnis der Begegnung mit dem „Meister“, sondern auch auf die Unzufriedenheit über die politische Lage Österreichs nach der militärischen Niederlage gegen Preußen 1866 zurück. Diese Kritik habe sich verbunden mit dem befreienden Impuls einer neuen „Kunst- und Weltauffassung“, zu deren Ideengebern auch Wagner gehört hatte. Zu diesem ging Adler allerdings zunehmend auf Distanz, wofür Boisits drei Gründe nennt: Mit dem Erlebnis der Uraufführung des „Ring“ als Nationalepos und dem Stolz, Angehöriger dieser „deutschen Nation“ zu sein, ging die bittere Einsicht einher, dass ihm als Jude diese „Zugehörigkeit“ mehr und mehr verweigert wurde. Als vom Historismus geprägter Wissenschaftler verwarf Adler den von Wagner propagierten Geniebegriff als Maßstab von Kunst und Künstler – für ihn war der „Meister“ nur „ein Glied in der Kette“ der Geschichte. Im persönlichen Gespräch mit Wagner 1882 sollte Adler erleben, wie heftig der Bayreuther „Meister“ eine solche Auffassung ablehnte. Schließlich habe Adler das unter Cosima entstandene „System“ Bayreuth von Beginn an abgelehnt. „Wagners Kunst steht über Bayreuth“, zitiert Barbara Boisits den bis zum Lebensende Wagnerianer gebliebenen Juden Guido Adler. Oliver Rathkolb befasst sich mit der Rolle von Graz, dem Epizentrum des österreichischen Wagnerismus. Die Hauptstadt des gemischtsprachigen Kronlandes Steiermark definierte sich früh als das „südöstliche Bollwerk“ der deutschen Kultur und wurde durch ihre Institutionen, Zeitungen und Vereine ab Mitte der 1880er Jahre zur „deutschnationalen Festung“. Nachdem sich der nur zur Finanzierung des Bayreuther Festspielhauses 1873 gegründete erste „Grazer Wagner-Verein“ nach der Uraufführung des „Ring“ 1876 wieder aufgelöst hatte, kam es 1883 zur Gründung des zweiten gleichnamigen Vereins. Dessen einflussreichste Persönlichkeiten waren Friedrich von Hausegger und Friedrich Hofmann. Hausegger, Privatdozent für Musikwissenschaft an der Grazer Universität, wurde mit seiner Schrift „Die Musik als Ausdruck“ zum Widersacher der Hanslick-Schule und Auslöser einer heftigen Kontroverse. Der Schlossherr und Architekt Hofmann war der Mittelpunkt des Vereins und eines Wagner-Salons. Beide waren fanatische Antisemiten. Rathkolb zitiert Hausegger, der das Judentum nicht nur als Gegner der eigenen Nation, sondern auch „der Entwicklung des Menschlichen“ überhaupt und als schreckliche „Bestie“ bezeichnete. Hofmann, der über gute Kontakte zu Houston Stewart Chamberlain verfügte, lud diesen 1893 und 1894 zu zwei Vortragsreihen nach Graz ein. Der Cosima-Vertraute nutzte diesen Kontakt als Experimentierfeld, machte aber im Briefwechsel mit der „Herrin“ keinen Hehl daraus, dass er die Grazer Vereinsmitglieder als Provinzler verachtete. Rathkolb beschränkt sich thematisch nicht auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, sondern er verfolgt die Beziehungen zwischen den Wagnerianern in Graz und Bayreuth bis in die Zeit des „Dritten Reiches“, als Graz die Ehrennamen der „Wagnerstadt‘ und der „Stadt der Volkserhebung‘“ trug.

Drei Beiträge widmen sich dem Verhältnis der deutschnational-antisemitischen Bewegung, die sich seit den 1870er Jahren und verstärkt nach dem Tod Richard Wagners in Österreich entwickelt hatte und Wagners Erben. Werner Hanak-Lettner demonstriert am Beispiel von vier prominenten deutschnationalen Juden deren unterschiedliche Handlungsmuster in einer immer feindlicher werdenden politischen Umgebung. Adolf Jellinek, zuletzt Prediger an einer Wiener Reform-Synagoge, verkörperte das Modell einer strikten Anpassung: Während der 1848er Revolution verkündete er, jeder Jude sei ein „geborener Soldat der Freiheit“ und zugleich ein Garant der „Freiheit des Deutschtums“. 1883 musste er eingestehen, dass nur noch der Kaiser den Juden Schutz bot. Adalbert Horawitz, Geschichtsdozent an der Wiener Universität und Mitglied des „Akademischen Wagner-Vereins“, repräsentierte den Typus totaler Unterwerfung. Im Jahrbuch des Vereins lobte er 1873 Richard Wagners antisemitisches Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ als „reinigenden Wetterschlag“, der die „jüdischen Charakterfehler“ offengelegt habe. Die Juden müssten ihren Hauptfehler –„den unsittlichen und unpoetischen Händlersinn“ – ablegen, die Deutschen aber sollten im Gegenzug „den Sinn für Bildung, […] die Sparsamkeit und Entsagungsgabe des Semiten“ anerkennen. Diesen hilflosen Versuch, durch Selbstaufgabe die Juden für das Deutschtum zu retten, kontrastiert Hanak-Lettner mit einem dritten Modell, das auf politisches Handeln setzte: Victor Adler, Arzt und ebenfalls Mitglied im „Akademischen Wagner-Verein“, und der Historiker Heinrich Friedjung schlossen sich Georg von Schönerer an und gehörten als Mitarbeiter am Parteiprogramm zu dessen engerem Kreis. Mit der Gründung des „Deutschnationalen Vereins“ 1882 und dessen Beitrittsverbot für Juden war Heinrich Friedjungs und Victor Adlers Versuch, auf der deutschnationalen Welle zu reiten, gescheitert. Michael Wladika skizziert die Entstehung der von Georg von Schönerer geführten deutschnationalen Bewegung und deren Auswirkung auf den österreichischen Wagnerismus. Die Schönerer- Bewegung war als Reaktion auf die Gründung des Deutschen Reiches 1871 entstanden und forderte die Zerstörung des österreichischen Vielvölkerstaates, um dann aus dessen „deutschen“ Teilen und dem Reich ein großes Deutschland zu schaffen. Die Distanzierung von dem als „undeutsch“ geltenden Judentum habe dabei, so Wladika, als „Beweis für ein vorbildliches Deutschtum“ gedient. Offen Partei für Richard Wagner ergriff Schönerer erstmals aus Anlass von dessen Tod: Ein von ihm mitinitiierter, im März 1883 durchgeführter und von 4000 meist studentischen Gästen besuchter „Richard-Wagner -Trauerkommers“ wurde von der Polizei abgebrochen und endete mit dem verbotenen deutschen Kriegslied „Die Wacht am Rhein“. Wie der verstorbene „Meister“ in seinen letzten Schriften verkündet hatte, erklärte jetzt auch Schönerer, dass er, „auf dem brutalen Rassenstandpunkt stehend“, jede „Vermischung mit den Juden“ ablehnte. Seit 1883 Mitglied des „Akademischen Wagner-Vereins“, besuchte er im August 1889 erstmals die Bayreuther Festspiele. Unter dem Eindruck der Aufführung der „Meistersinger“ sorgte er nach seiner Rückkehr dafür, dass die radikalen Antisemiten im „Akademischen Wagner-Verein“ diesen im Frühjahr 1890 verließen und, mit dem „Arier-Paragraphen“ in der Satzung, den „Neuen Richard Wagner-Verein“ gründeten. Sven Fritz befasst sich mit Houston Stewart Chamberlain und dessen Einfluss auf die Wiener Wagner-Vereine. Chamberlain und Wagners Witwe Cosima hatten 1888 in Dresden einen Freundschaftsbund geschlossen: Sie brauchte nach der Klärung der Nachfolge als Festspiel-Leiterin ergebene Helfer in ihrer Rolle als alleinige Deuterin von Wagners Bühnen-Werken und als Hohepriesterin des Kultes um den „Meister“. Und der englische Privatgelehrte und Wagner-Enthusiast, ein heimatloser Nobody aus bester Gesellschaft, suchte Anbindung, eine Aufgabe und öffentliche Anerkennung. Seit seiner Übersiedlung nach Wien 1889, wo er sofort dem dortigen „Akademischen Wagner-Verein“ beitrat, diente Chamberlain der Herrin in „Wahnfried“ als Informant über nützliche Personen bzw. Feinde und als Propagandist der Bayreuther Sache: Mit einer Wagner-Biographie gelang es ihm schon 1896, das Standardwerk für die antisemitisch-deutschnationale Leserschaft zu verfassen. Enttäuscht von der aus seiner Sicht zu gering ausgeprägten weltanschaulichen Ernsthaftigkeit im „Akademischen Wagner-Verein“, schloss sich Chamberlain 1892 dem antisemitischen, von Anhängern Schönerers gegründeten „Neuen Wagner-Verein“ an, in dem er, in Absprache mit Cosima Wagner, schnell zum Spiritus Rector aufstieg. Doch alle Versuche, durch die Vereinsarbeit eine weltanschaulich gefestigte Anhängerschaft in Wien zu generieren, schlugen fehl, so dass sich Chamberlain bald wieder aus dem Vereinsleben zurückzog und ganz seiner publizistischen Arbeit widmete – kurze Zeit später, im Jahr 1899, sollte er mit den „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ einen Bestseller und den einflussreichsten Beitrag zur Entstehung des modernen Rassismus veröffentlichen. Chamberlains Zeit in Wien, so argumentiert Fritz überzeugend, bildete seine politisch wie weltanschaulich „prägende Phase“, in der die Vereinstätigkeit das notwendige „Experimentierfeld“ lieferte.

Die beiden letzten Beiträge befassen sich mit der Beziehung von Gustav Mahler zu Richard und Cosima Wagner. Mahler hatte 1883 die Bayreuther Uraufführung des „Parsifal“ erlebt und die Begegnung mit Wagner als das „Größte, Schmerzlichste“ beschrieben, das er fortan „unentweiht“ durch sein Leben tragen werde. Bei den folgenden fünf Festspiel-Besuchen sah er, mit Ausnahme des „Fliegenden Holländer“, das gesamte dort aufgeführte Werk des „Meisters“ und traf dabei auch mehrmals mit Cosima zusammen. Deren Lieblingsdirigent, Felix Mottl, hatte den früh ausgesprochenen Bayreuther Bannspruch gegen Mahler so zitiert: Dieser sei „sehr begabt, aber, leider ein Jude.“ Das hieß, dass er nie einen Ruf als Dirigent zu den Festspielen erhalten werde. Hannes Heer erläutert in seinem Beitrag, welches Weltbild diesem Verdikt, „Jude“ zu sein, bei Cosima Wagner zugrunde lag und auf welches Vermächtnis ihres Mannes sie sich dabei stützte. Es waren drei Schriften, die zu ihrer Bibel geworden waren: In seinem ersten antisemitischen Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ hatte Wagner 1850 festgestellt, dass den Juden die europäische Zivilisation und Kultur fremd geblieben sei, weshalb sie auch „nur nachsprechen“ und keine eigenen Kunstwerke schaffen könnten. Seine 1878 verfasste Schrift „Was ist deutsch?“ verschärfte dieses Urteil: Auch jede Reproduktion deutscher Werke durch Juden könne nur ein „Zerrbild“ der deutschen Kultur liefern. Und je länger die Deutschen dieses Zerrbild für die Wirklichkeit hielten, desto mehr wachse die Gefahr, dass ihre eigenen schöpferischen Anlagen dabei abgetötet würden. Diese Bedrohung war der Gegenstand des 1881 unter dem Titel „Erkenne dich selbst“ verfassten Textes. Darin analysierte Wagner vom „Antagonismus der Rassen“ ausgehend die Lage des deutschen Volkes und machte dessen Rettung vor dem Untergang von der „Wiedergeburt eines wahrhaften Rassengefühles“ abhängig, das die Deutschen befähige, den Juden „ohne Scheu“ den Zutritt wie die Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu verweigern. Cosima übernahm diese Diagnose als Leitlinie für ihre Arbeit: Als Leiterin der Festspiele versuchte sie, mit Wagners Helden-Epen zu demonstrieren, dass „das germanische Ideal“ noch existierte und die Mitwirkung jüdischer Künstler daran verzichtbar war. Und im Alltag nutzte sie jeden sich bietenden Anlass, durch Denunziation, dreiste Lügen oder einen inszenierten Konflikt den Juden als Todfeind alles Deutschen privat wie öffentlich kenntlich zu machen. Cosimas Auseinandersetzung mit dem seit 1897 als Wiener Hofoperndirektor amtierenden Gustav Mahler aus Anlass der Aufführung von Siegfried Wagners erster Oper „Der Bärenhäuter“ 1899 in Wien liefert für diese Alltagsstrategie einen exemplarischen Beleg. Für die Erben Richard Wagners, das zeigt die von Hannes Heer rekonstruierte Fallstudie, war der Antisemitismus nicht nur eine ideologische Prägung, sondern diese konkretisierte sich im täglichen Kampf gegen das Judentum. Gerhard Scheit befasst sich mit dem Verhältnis Gustav Mahlers und Otto Weiningers zu Richard Wagner. Er leitet seinen Beitrag mit einem Zitat aus einem Brief Mahlers an einen jüdischen Freund ein, in dem der Briefschreiber bezüglich der „Rassen“-Hirngespinste der „arischen“ Wagnerianer dafür plädiert, „die wirklich störenden Äußerlichkeiten unseres Wesens ein wenig zu mildern. Dafür wollen wir dann sachlich umso weniger nachgeben.“ In der „Sache“ unnachgiebig zu sein, darunter habe Mahler, so die These von Scheit, die von ihm als Dirigent verlangte angemessene Interpretation von Wagners Werken und das Ziel, diesen Werken etwas „Selbstständiges“ entgegenzusetzen, verstanden: Seine Symphonien seien die Voraussetzung dafür gewesen, angesichts der „Judenkarikaturen“ in Wagners drei letzten Opern diesen gegenüber „die innere Befreiung zu gewinnen und zu bewahren“. Während Mahler sich nie über Wagners vor allem in dessen letzten Schriften vertretenen fanatischen Antisemitismus kritisch geäußert habe, sei er mit den von Wagner zur Charakterisierung von Beckmesser, Mime, Alberich oder Klingsor eingesetzten musikalischen Mitteln des bösen Spotts wie der exaltierten Parodie in seinen Symphonien kritisch umgegangen – durch theatralische „Verfremdungseffekte“, in denen „Wagners Verspottung verspottet“ worden sei. Die Auseinandersetzung, die der jüdische Schriftsteller und Wagnerianer Otto Weininger in seinem Buch „Geschlecht und Charakter“ mit Richard Wagner geführt hat, ist vor allem, das demonstriert Scheits Analyse, in Bezug auf das Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ von Bedeutung: Sie sei „eine antisemitische Schrift“ und zugleich „eine Schrift gegen den Antisemitismus“. Otto Weiningers Selbstmord in Beethovens Sterbehaus zeige, so Scheit, dass diesem kein Gustav Mahler vergleichbarer „Befreiungsschlag“ geglückt sei.

Wien tauchte nach Richard Wagners definitivem Abschied von der Stadt in den Gesprächen mit Cosima nur noch sporadisch und meist aus Anlass von Aufführungen seiner Opern im dortigen Hoftheater auf. Ab 1880 waren dann die Juden das Alles beherrschende Thema. Als er deren „Überhandnehmen“ mit seinem Wiener Freund, dem Fürsten Rudolph Liechtenstein, besprach, erregte er sich über dessen defätistischen Kommentar, dass daran „nichts zu ändern sei“.26 Im Februar 1881 notierte Cosima die Reaktion ihres Mannes auf einen Aufsatz über Wien und die Juden: „Wie schrecklich das sei, daß wir dieses jüdische, fremdartige Element unter uns hätten, und wie alles bei uns verloren sei.“27 Dann, am Ende des Jahres, beherrschte eine furchtbare Katastrophe für längere Zeit die Gespräche der Wagners in Wahnfried: Am 8. Dezember 1881 hatte ein Brand im Wiener Ringtheater, der kurz vor Beginn der Aufführung von Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ ausgebrochen war, 384 Zuschauer das Leben gekostet. Wagner hatte dazu angemerkt, dass ihn dieses Unglück verglichen mit einem schweren Unfall in einer Kohlengrube, „kaum [berühre]“, weil doch „das nichtsnutzigste Volk […] in einem solchen Operntheater [sitze]“.282930