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Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 72/5 | 2017

Erscheinungsweise: zweimonatlich

Medieninhaberin: Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV) ZVR-Zahl 983517709 | www.emv.or.at | UID: ATU66086558

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von

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Liebe Leserinnen und Leser,

Offenbach und Wien – das war spätestens ab dem Erscheinen von Orpheus in der Unterwelt eine intensive und lustvolle, aber keineswegs konfliktfreie Beziehung. Große Teile des vom Scheitel bis zu den tanzfreudigen Sohlen auf Unterhaltung eingestimmten Publikums gerieten durch die nach Wien exportierten Errungenschaften der Bouffes Parisiens aus dem Häuschen. Die Zeitungskritik blieb bei voller Anerkennung der »zündenden Wirkung« des neuen Operetten-Typs zwiespältig. Dabei wurde mit dem Namen des Komponisten, Dirigenten und Theaterunternehmers eine Gemeinschaftsleistung konnotiert, zu der neben den SängerdarstellerInnen insbesondere auch mehr als fünf Dutzend Librettisten beitrugen. Der Anteil von Autoren wie Charles Nuitter, Hector Crémieux, Henri Meilhac und insbesondere Ludovic Halévy sollte nicht verkannt werden. Freilich wurden sowohl die satirisch-sozialkritische Grundierung wie die frivolen Fermente fast ausschließlich Jacques Offenbach gutgeschrieben bzw. angekreidet. Er wurde in den Olymp erhoben bzw. zur Hölle gewünscht.

Der Thementeil dieses Heftes zeichnet dies im Rückblick auf die zeitgenössische Presse nach – anhand zahlreicher bislang unveröffentlichter Zeitungsausschnitte. Er würdigt das Engagement von Karl Treumann für Offenbach in Wien und untersucht das weit weniger bekannte des Mitstreiters Franz von Suppé. Hier erstmals publizierte Forschungsergebnisse zu Offenbach als Komponist von Liedern des unterschiedlichsten Typs kratzen am Mythos des im Second Empire konsequent »subversiven« Künstlers. Rekonstruiert wird die unglücklich verlaufene Rezeption der 1864 für Wien geschriebenen Rheinnixen, deren pazifistischer Appell mit den Mitteln der großen Oper partout nicht wahrgenommen wurde. Steht das Verhältnis von Offenbach und Wien zur Diskussion, darf die Würdigung der weitreichenden leidenschaftlichen Vermittlungsarbeit von Karl Kraus nicht fehlen. Schließlich setzen sich drei jüngere Bühnenbildner mit der Frage auseinander, wie es um die Aktualität der Werke Offenbachs steht.

Die »Firma Offenbach« (re)präsentierte in enger Symbiose von Frivolität und politischer Satire die markanteste Opposition gegen die repressiven Verhältnisse und den Militarismus des zweiten französischen Kaiserreichs. Ein Text von Egon Friedell aus dem Jahr 1930, der dieses Heft einleitet, ruft in Erinnerung, wie auch die Publizisten und Künstler mit »empfindlichen Gefängnisstrafen und Geldbußen« eingeschüchtert wurden. Das kommt auch uns aktuell höchst bekannt vor. Im Russland des Vladimir P. geht es zwar nicht ganz so übel zu wie im Sultanat Erdogan. Aber der begnadete regimekritische Regisseur Kirill Serebrennikov wurde weggesperrt – unter dem Vorwand, sein Moskauer Theater habe finanzielle Unregelmäßigkeiten begangen. Die ÖMZ schließt sich den international erhobenen Forderungen nach der bedingungslosen Freilassung Serebrennikovs an. // Die Redaktion

INHALT

OFFENBACH IN WIEN

Das Zeitalter Offenbachs // Egon Friedell

Wie Jacques Offenbach in Wien bekannt wurde Die frühe französische Operette im Spiegel der Wiener Presse // Johannes Prominczel

Jakob und Jacques Lieder zwischen den Fronten // Maria Behrendt

Franz von Suppé Mitstreiter Offenbachs in Wien // Konstanze Fladischer

Grenzüberschreitungen Jacques Offenbachs romantische Oper Die Rheinnixen // Frank Harders-Wuthenow

Pressespiegel zur Uraufführung von Die Rheinnixen

Waffe und Heilmittel Aspekte der Offenbach-Rezeption von Karl Kraus // Judith Kemp

Offenbachs Bilderwelt und die heutige Lebenswirklichkeit Drei Bühnenbildner nähern sich virulenten Problemen // Frieder Reininghaus

»Das Ringtheater am Schottenringe existiert nicht mehr!« Der Brand des Wiener Ringtheaters // Johannes Prominczel

NACHRUFE

Paul Angerer // Christian Heindl

Jutta Höpfel // Marion Diederichs-Lafite

Peter Oswald // Frieder Reininghaus

Rudolf Tutz // Gabriele Busch-Salmen

NEUE MUSIK IM FOKUS

Der Komponist als Demiurg Christof Ressi im Porträt // Monika Voithofer

RESPONSE

Die Krise als Chance?! Strategien zur Überwindung des Manierismus in der zeitgenössischen Kunstmusik // Hakan Ulus

EXTRA

Tödliches Ende Zu Georg Friedrich Haas’ anachronistischen Harmonien // Gesine Schröder

BERICHTE

FESTIVALS IN ÖSTERREICH

Styriarte // Ulrike Aringer-Grau

Schubertiade in Hohenems // Judith Kemp

Strobls Hemma beim Carinthischen Sommer // Willi Rainer

Bregenzer Festspiele // Anna Mika

Salzburger Festspiele // Frieder Reininghaus und Joachim Lange

Herbstgold in Eisenstadt // Regine Müller

Ars Electronica Festival Linz // Judith Kemp

Sommertheater // Johannes Prominczel

FESTIVALS IM AUSLAND

Festival d’Aix-en-Provence // Frieder Reininghaus

Ruhrtriennale // Frieder Reininghaus und Regine Müller

Lucerne Festival im Sommer // Katharina Thalmann

SAISONAUFTAKT IN WIEN

Mozarts Zauberflöte am Theater an der Wien // Johannes Prominczel

REZENSIONEN

Bücher, CDs

DAS ANDERE LEXIKON

Frivolität // Frieder Reininghaus und Johannes Prominczel

NEWS

Neueste Nachrichten

ZU GUTER LETZT

Wunder am Wörthersee // Frieder Reininghaus

Vorschau

THEMA

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Cancan-Tänzerinnen auf einem Plakat von Henri de Toulouse-Lautrec, 1895, wikimedia.org

Das Zeitalter Offenbachs

In seinem Essay zu Les Contes d’Hoffmann (1930) blickt der Wiener Publizist Egon Friedell (1878–1938) auf das Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Ein Ausschnitt. Egon Friedell

Fast genau in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gelangte die Hegemonie Europas an Frankreich zurück: durch einen sehr geschickten Mann, der ganz unvermutet, obschon wohlvorbereitet, aus der Kulisse trat. Seine Wahl zum Präsidenten [im Dezember 1848] verdankte er der Angst der besitzenden Klassen vor sozialem Umsturz, die auf eine demokratische Militärdiktatur hindrängte, dem Klerus, zu dem er kluge Beziehungen unterhielt, und dem Napoleonkultus […]. Ein Jahr später errang er die Würde eines Kaisers der Franzosen, wobei er sich auf die gut inszenierte Komödie eines »Plebiszits« stützte. […] In Wahrheit war es die Allianz des Säbels mit dem Geldsack. Frankreich war »durch Gaunerei und Kartätschen gerettet«, wie Victor Hugo in einem schnaubenden Verdammungsgedicht höhnte. Die bürgerlichen Parteien erblickten, woraus sie durchaus kein Hehl machten, im Kaisertum bloß das kleinere Übel.

Kaiser der Franzosen – Napoleon III.

Napoleon III. ist sehr oft mit seinem Oheim verglichen worden, obgleich er mit ihm fast gar keine Ähnlichkeit hatte, höchstens in seiner Verachtung aller »Ideologie«. Otto von Bismarck hat ihn mit einem seiner geistvollen Bonmots »une incapacité méconnue«, ein verkanntes Untalent genannt. […] Durch seine Technik des fortwährenden Improvisierens blendender Projekte von zweifelhafter Sekurität, virtuosen Löcherzustopfens auf ephemere Dauer und verblüffenden Umbuchens des latenten Bankerotts in scheinbare Hochkonjunktur, worin er ebenfalls an die Figur des Glücksritters und Börsenspielers erinnert, erweckte er den Eindruck geheimnisvoller tiefangelegter Berechnung. […]

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Napoleon III. auf einem Ölgemälde von Alexandre Cabanel, um 1865. Bild: wikimedia.org

Was Napoleon III. im Gegensatz zu Bismarck und Camillo Graf Cavour [dem ›Motor‹ der italienischen Einigung] fehlte, war die gerade Linie; er ließ sie auch in der inneren Politik vermissen. Einerseits suchte er seiner Herrschaft den Schein eines demokratischen Regimes zu geben und stützte sie in der Tat auf das Heer, die Masse und die niedere Geistlichkeit, andererseits unterdrückte er durch scharfe Gesetze die soziale Bewegung, durch strenge Überwachung der Presse, der Theater, des Vereinswesens die freie Meinung und durch brutale Wahlbeeinflussung die konstitutionellen Volksrechte. […]

In die unhaltbarsten Widersprüche verwickelte sich der Kaiser durch seinen Klerikalismus […]. Der Schutz, den er dem Kirchenstaat angedeihen ließ, kreuzte sich mit seiner italienischen Unionspolitik [Unterstützung der italienischen nationalen Vereinigung], und durch die Macht, die er der Kirche über Schule und Universität, Literatur und Privatleben einräumte, brachte er sich in Gegensatz zum Liberalismus der allmächtigen Bourgeoisie, die doch das wahre Fundament seiner Herrschaft bildete. In der Tat hat die moderne Plutokratie niemals einen glänzenderen und großartigeren Ausdruck gefunden als unter dem second empire. Napoleon verdient noch weit mehr den Titel eines Börsenfürsten als [der von 1830 bis 1848 regierende Vorgänger, der »Bürgerkönig«] Louis Philippe. Finanzielle Skandalprozesse waren eine alltägliche Sensation unter feiner Regierung. Schon 1852 wurde von den Brüdern Péreire, zwei portugiesischen Juden, die erste moderne Großbank gegründet, der Crédit mobilier, von dem man sagte, er sei die größte Spielhölle Europas. Er machte wilde Spekulationen in allem: Eisenbahnen, Hotels, Kolonien, Bergwerken, Theatern, und nach fünfzehn Jahren gänzlichen Bankerott. Alles in allem genommen, war das Gesellschaftsleben unter Napoleon noch korrupter, zynischer und materialistischer als unter dem Bürgerkönig; es ist eine Art Rokoko des dritten Standes.

Gemäß dem von Napoleon ausgegebenen Stichwort, Frankreich müsste »à la tête de la civilisation« marschieren, schuf zunächst der Seine-Präfekt Haußmann durch großartig angelegte Straßenzüge, Plätze, Gärten, Umbau ganzer Bezirke, prachtvolle Repräsentationshäuser ein neues Paris, als getreues Abbild des zweiten Kaiserreichs; fassadenhaft, künstlich und parvenühaft. 1855 wurde die erste Pariser Weltausstellung veranstaltet, als »revanche pour Londres«, wo vier Jahre vorher auf Anregung des Prinzgemahls Albert die überhaupt erste stattgefunden hatte, noch heute in Erinnerung durch Paxtons Kristallpalast, den ersten Versuch einer Glas-Eisen-Konstruktion. […]

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Groteske Modeerscheinung des 19. Jahrhunderts: Der Reifrock auf einer französischen Fotografie um 1860. Bild: stereoscope.canalblog.com

Die Mode der Halbwelt

Die beiden Göttinnen, zu denen das Zeitalter betete, waren die Frau und die Börse. Und der Geist des Geschäfts vermischt sich mit dem Geist der Geschlechtlichkeit: das Geldverdienen wird Gegenstand einer fast sinnlichen Inbrunst und die Liebe eine Geldangelegenheit. Zur Zeit der französischen Romantik war das erotische Ideal die Grisette, die sich verschenkt; jetzt ist es die Lorette, die sich verkauft. An die Stelle des genre roccaille (»Gesindels«) trat das genre canaille (»Schurken«), ein frecher Einschlag in Kleidung und Sprache, der es fast unmöglich machte, die sogenannten anständigen Frauen von den Dirnen zu unterscheiden. Man bevorzugt grell kontrastierte, schreiende Farben, auch für die Frisur: feuerrote Haare sind sehr beliebt. Im Rokoko war es bon ton, sich als Schäferin zu gerieren, im Zeitalter des Cancans und der Schönen Helena wurde es chic, Halbwelt zu kopieren. Der Modetypus ist die grande dame, die die Kokotte spielt. Die bevorzugten Stoffe waren, außer Seide und ihren zum Teil neuen Appretierungen wie Taft, Moiré, Gaze, allerhand luftige, zarte, duftige Gewebe wie Krepp, Tüll, Mull, Tarlatan, Organdy: die Bourgeoisie spielt Fee. 1856 tauchte der Reifrock in einer neuen, von der Kaiserin erfundenen Form auf, die die Rosshaarwülste durch eingelegte Stahlfedern ersetzte und ihn dadurch sehr leicht machte. Zu Anfang der sechziger Jahre war er so enorm weit, dass die Witzblätter behaupteten, die Pariser Straßenerweiterung sei seinetwegen durchgeführt worden. Dieses groteske Kleidungsstück diente im zweiten Empire ebensowenig wie im Rokoko der Verhüllung, vielmehr war es Sache einer ausgebildeten Technik, durch geschickte Wendungen die Dessous zu zeigen; der Cancan erfüllte diesen Zweck in ausschweifender Weise. Nur geschieht hier, was man dort mit graziöser Schlüpfrigkeit tut, mit massiver Fleischlichkeit. […]

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Hervé, der Begründer der opéra bouffe, um 1870. Bild: wikimedia.org

»Wahnsinn der Beine«

Galopp und Cancan, die beiden wildesten Tänze, die es gibt, gelangten, schon früher erfunden, erst jetzt zur vollen Herrschaft und letzten Extremität, während von Wien aus der Walzer durch Lanner und Johann Strauß Vater und Sohn seinen Siegeszug antrat. Über den Cancan schrieb die Pariser Tänzerin Rigolboche, die zu ihrer Zeit eine Weltberühmtheit war: »Man muss in einem bestimmten Augenblick und ohne zu wissen, warum, düster, melancholisch und trübsinnig sein, um mit einem Male wahnsinnig zu werden, zu rasen und zu toben, ja, man muss im Notfalle all dies zu gleicher Zeit tun. Man muss, mit einem Wort, rigolbochieren. Der Cancan ist der Wahnsinn der Beine«. Die Menschheit ist von einer wahren Tanzwut ergriffen; auch auf der Bühne dominiert das Ballett, durch schreiende Ausstattungskünste und verwirrenden Massenaufwand zur »Féerie« gesteigert, und drängt sich als breites Zwischenspiel in die Oper. Die ureigentümliche Schöpfung des Zeitalters aber ist die Operette. Dies war ursprünglich die Bezeichnung für das Singspiel des achtzehnten Jahrhunderts: man sprach, im Gegensatz zur grand opéra, von »kleinen Opern«, die in Form und Inhalt anspruchsloser, sich von dieser vor allem durch den Wechsel von Gesang und Dialog unterschieden: es waren im wesentlichen Lustspiele mit Musikeinlagen. Das neue Genre, deren Begründer Hervé ist [Louis Auguste Florimond Ronger, 1825–1892 ], nannte sich opéra bouffe, während es vom Publikum den charakteristischen Namen »musiquette« erhielt.

Zaubermeister der Operette

Sein großer Zaubermeister ist Jacques Offenbach, der zuerst mit Einaktern hervortrat (auch das Singspiel war ursprünglich einaktig). 1858 erschien Orphée aux enfers, 1864 La belle Hélène, 1866 Barbe-Bleue, La vie parisienne, 1867 La grande-duchesse de Gérolstein. In diesen Werken, erlesenen Bijous einer komplizierten Luxuskunst, ist, ähnlich wie dies Antoine Watteau für das Paris des Rokoko vollbracht hat, der Duft der ville lumière zu einer starken haltbaren Essenz destilliert, die aber um vieles beißender, salziger, stechender geriet. Sie sind Persiflagen der Antike, des Mittelalters, der Gegenwart, aber eigentlich immer nur der Gegenwart, und im Gegensatz zur Wiener Operette, die erst eine Generation später ihre Herrschaft antrat, gänzlich unkitschig, amoralisch, unsentimental, ohne alle kleinbürgerliche Melodramatik, vielmehr von einer rasanten Skepsis und exhibitionistischen Sensualität, ja geradezu nihilistisch. Dass Offenbach, unbekümmert um psychologische Logik und künstlerische Dynamik, eigentlich nur »Einlagen« bringt, wie ihm oft vorgeworfen worden ist, war ebenfalls nur der Ausfluss eines höchsten, nämlich ästhetischen Zynismus, einer Freigeisterei und Selbstparodie, die sogar die Gesetze der eigenen Kunst verlacht. Dass er aber auch ein tiefes und zartes Herz besaß, würde allein schon die Barkarole seines letzten Werkes beweisen, der Contes d’Hoffmann, in denen die deutsche Romantik der Vorlage, durch die Raffinade der Pariser Décadence verkünstelt und veredelt, ein wundersam ergreifendes Lied anstimmt. Hier klagt der Radikalismus des modernen Weltstädters um die verschwundene Liebe: die Frau ist Puppe oder Dirne; die wahrhaft liebt, eine Todgeweihte. […]

Damals war das Bürgertum als Klasse der Zukunft im sittlichen und geistigen Aufstieg, jetzt ist es eine fette schillernde räuberische Sumpforchidee, an der Veredlungs- und Rettungsversuche höchst deplaziert wirken. //

Dieser Text entstand für das Programmheft einer Max Reinhardt-Inszenierung von Contes d’Hoffmann an der Berliner Staatsoper 1930. Er rekurriert teilweise auf die Offenbach-Lesungen, die Karl Kraus veranstaltete (siehe S. 41ff.), und sollte als Initialzündung der 1937 im Pariser Exil entstandenen richtungsweisenden Monographie Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit von Siegfried Kracauer (1889–1966) gelesen werden. Für diesen Abdruck wurden der Text gekürzt, die französischen Zitate übersetzt und die Orthographie modernisiert. – Am 16. März 1938 statteten zwei SA-Männer Friedells Wiener Wohnung in der Gentzgasse 7, 3. Stock, im 18. Bezirk einen ›Besuch‹ ab. Während sie mit der Haushälterin sprachen, sprang Friedell aus einem der Fenster. Er soll zuvor die Passanten gewarnt haben mit dem Ruf: »Treten Sie zur Seite!«.

THEMA

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Bild aus: Hadamowsky/Otte, Die Wiener Operette, Wien 1947

Wie Jacques Offenbach in Wien bekannt wurde

Die frühe französische Operette im Spiegel der Wiener Presse

Offenbachs erste Aufführungen in Wien ließen nicht vermuten, dass sich die Stadt zu einem Operettenmekka entwickeln sollte. Nicht die Originale, sondern neu instrumentierte und auf Deutsch übersetzte Einakter entfachten jedoch die Liebe der Wiener zum Werk des Komponisten. Johannes Prominczel

Zwei Brände bilden den Rahmen der Offenbachrezeption im Wien des 19. Jahrhunderts. Gleichsam den vorläufigen Schlusspunkt setzte bekanntlich der Ringtheaterbrand im Dezember 1881, ausgebrochen wenige Minuten vor einer Aufführung von Hoffmanns Erzählungen. Weniger bekannt ist, dass auch der Brand des deutschen Theaters in Pest am 2. Februar 1847 im weitesten Sinne Wiens Offenbach-Rezeption beeinflusste. Nach dem Unglück suchten die Ensemblemitglieder neue Anstellungen. Gleich einige kamen in Wien unter, darunter auch der aus Hamburg stammende Karl Treumann.

Treumann avancierte am Theater an der Wien rasch zum Publikumsliebling. Nach einigen Jahren wechselte er an das Carltheater in die Leopoldstadt, eine der größeren Wiener Vorstadtbühnen. Dort trat er an der Seite von Johann Nepomuk Nestroy auf, der nach dem Tod von Carl Carl 1854 die Direktion übernahm. Bald sollte Treumann als begeisterter Connaisseur der Operetten Offenbachs dem Werk des Komponisten in Wien gleichsam den Weg ebnen.

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Der gebürtige Hamburger Karl Treumann übersetzte Offenbachs Einakter und ließ sie in Wien aufführen. Bild: Litographie von Josef Kriehuber, 1853

Offenbach im Original

Ab 1848 übernahm das Wiener Volkstheater neue Impulse aus Paris. Neben dem Theater an der Wien stand vor allem das Carltheater den französischen Vaudeville-Einflüssen aufgeschlossen gegenüber.

Bei einem Gastspiel, das Pierre Levassor, ein Komiker des Pariser Theaters Palais Royal, im März und April 1856 im Carltheater gab, kam das Publikum erstmals in Kontakt mit Musik von Jacques Offenbach. Auf dem Programm standen unter anderem Le Violoneux (17.4.1856) und Les deux Aveugles (19.4.1856). Die Presse reagierte verhalten. »Das französische Intermezzo im Carltheater hat im Ganzen mehr die Neugierde als die Theilnahme des Publikums erregt«, schrieb man in den Blättern für Musik, Theater und Kunst (22.4.1856) und kritisierte ebenso die langweilige, moralisch-tendenziöse Färbung der einen wie auch die Trivialität anderer Vaudevilles. Grund für die schlechte Aufnahme des Gastspiels könnten auch mangelnde Sprachkenntnisse des Publikums gewesen sein. Nicht jeder sprach so gut Französisch wie Nestroy, von dessen Stücken zahlreiche auf französischen Vorlagen beruhen.

Offenbachs Einakter werden in der Besprechung des Gastspiels von Levassor gar nicht erst erwähnt und das, obwohl er den Musikinteressierten auch in Wien damals wohl bereits ein Begriff gewesen sein dürfte. Sein Name findet sich ab etwa 1855 gelegentlich in den Zeitungen und Zeitschriften. Ebenfalls in den Blättern für Musik, Theater und Kunst (3.8.1855) wird beispielsweise das von Offenbach gegründete und geleitete Theater Bouffes Parisiens erwähnt, das sich von der Pariser Kritik »auf’s allerwärmste empfohlen […] keiner besonderen Theilnahme des Publikums« erfreue. Interessanterweise wird Offenbach in dem Artikel noch ausschließlich als Cellist bezeichnet.

Raubproduktionen

Karl Treumann eignete sich bald nach Levassors Gastspiel Teile von dessen Repertoire an, übersetzte sie und feierte damit beachtliche Erfolge. Gleichzeitig versuchte er gemeinsam mit Nestroy, Jacques Offenbach mit seiner Truppe für ein Gastspiel zu gewinnen, was jedoch an überhöhten Gagenforderungen scheiterte. Zudem hoffte Offenbach auf ein späteres Gastspiel und erteilte daher keine Erlaubnis, seine Werke in Wien aufzuführen. Doch davon ließ sich Treumann nicht einschüchtern. Er leitete eine Aufführung kurzerhand ohne die Einwilligung des Komponisten in die Wege. Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Treumann selbst. Und da dem Theater nur der Klavierauszug vorlag, musste die Instrumentierung durch den Kapellmeister des Carltheaters Karl Binder ergänzt werden. Binder hatte sich längst als Arrangeur größerer Bühnenwerke an die Gegebenheiten der Wiener Vorstadttheater einen Namen gemacht, über 200 Bearbeitungen und Parodien entstammen seiner Feder, darunter auch von Tannhäuser und Lohengrin, weshalb ihm Richard Wagner eine Krawattennadel übersandt haben soll.

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Die Opéra comique Fantasio widmete Offenbach seinem Freund, dem Kritiker Eduard Hanslick. Bild: Titelbild des Klavierauszugs, 1872

Am 16. Oktober 1858 führte man mit der Hochzeit bei Laternenschein (original: Le Mariage aux Lanternes) erstmals ein Werk Offenbachs in der Fassung Treumann/Binder im Carltheater in deutscher Sprache auf. »Offenbach schrieb hierzu eine gefällige Musik, deren idyllisch weichen und melodiösen Motive selbst schon in der Ouverture, den deutschen Musiker verrathen, der bei französischen Meistern in die Schule gegangen, der sich daher weniger um eigentliche Durchführung, als um pikante Züge und charakteristische Instrumentalbilder bekümmert. […] Bau und Melodie sind […] von überraschender Wirkung.« (Humorist, 17.10.1858). Tatsächlich dürfte die Vorstellung ausgesprochen erfolgreich gewesen sein, die Darsteller fanden »reichlichen Beifall und wiederholten Hervorruf« und das Quartett musste sogar wiederholt werden (Fremdenblatt, 17.10.1858). In der Presse (17.10.1858) ist gar von »einigen brillanten musikalischen Nummern« die Rede. Man prophezeit, dass das Stück noch oft gegeben wird, und fordert, »das Carltheater sollte mehrere Offenbach’sche Operetten seinem Repertoire einverleiben.« – Ein Rat, den sich Treumann offenbar zu Herzen nahm. 1858/59 folgten fünf weitere Einakter – in rund 120 Aufführungen –, 1860 mit Orpheus in der Unterwelt schließlich das erste abendfüllende Werk, wiederum übersetzt von Treumann, instrumentiert von Binder. Auch wenn die Operetten ohne Wissen Offenbachs aufgeführt wurden, Etikettenschwindel konnte man den beiden nicht vorwerfen, denn in den Annoncen sind sie als Bearbeiter stets angeführt. Binders Arrangements wie auch die Operetten an sich werden von der Presse einhellig gelobt, so ist etwa in der Neuen Wiener Musikzeitung (5.1.1860) zu Der Ehemann vor der Thüre zu lesen: »Der Erfolg war ein sehr günstiger. Die lebendigen, pikanten Offenbach’schen Melodien, von Hrn. Kapellmeister Karl Binder geschickt und wirksam instrumentirt, übten eine zündende Wirkung. Schon die Ouverture erfreute sich allgemeinen, lebhaften Beifalls.«

Kritik und Publikumsreaktion

Kritische Äußerungen richten sich in der Regel an den französischen Operettenstil bzw. allgemein an die Unterhaltungsmusik (Der Zwischen-Akt, 1.5.1859): »Um 1 fl 5 kr Oe[sterreichischer] W[ährung] bekommt man 6 Schüseln [sic!] Purée-Suppe à la Offenbach mit Instrumentations-Schnitten à la Binder, zwar geschmacklos, aber dafür aufgewärmt. […] Diese Kost ist zwar derb, und schwer zu verdauen, aber die Direktion hat seit Jahren die Mägen für derartige Gerichte empfänglich gemacht.«

Bemerkenswert ist, dass die Offenbachmanie bereits um 1860 begann, also in einer Zeit, als Offenbach in Wien abgesehen von einigen Gastspielen französischer Schauspieler, die sich in der Regel auf den Sommer beschränkten, ausschließlich in Bearbeitungen Binders zu hören war.

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Karl Treumann in der Rolle des Vertigo in Das Mädchen von Elisonzo. Bild aus: Hadamowsky/Otte, Die Wiener Operette, Wien 1947

Die Popularität von Offenbachs Musik spiegelt sich nicht zuletzt in Bearbeitungen anderer Komponisten wider. Karl Binder komponierte etwa eine Quadrille nach Melodien von Das Mädchen von Elisonzo, die man zwischen zwei Einaktern anderer Komponisten im Carltheater aufführte und der »lebhaft applaudiert wurde« (Fremdenblatt, 25.9.1859). Auch Johann Strauß partizipierte mit seiner Orpheus-Quadrille, die bereits wenige Wochen nach der Premiere von Orpheus in der Unterwelt im Druck erschien, am Offenbach-Hype.