Wenn man von der kleinen Stadt, in deren einziger Straße sich im Sommer die Touristen drängeln und die im Winter so leer ist wie ein Eimer vor dem Melken, über das Wasser guckt, dann sieht man auf der Landzunge gegenüber das kleine, alte Haus.

»Mein Gott, was für eine einmalige Lage!«, sagen die Touristen. »Aber warum ist es so heruntergekommen?«

Denn das können sie erkennen, so breit ist der Meeresarm an dieser Stelle nicht.

»Es gehört der alten Inge«, sagen die Einheimischen. Mehr sagen sie nicht.

»Kann man es vielleicht kaufen?«, fragen die Touristen.

Aber die Einheimischen schütteln den Kopf. »Niemals!«, sagen sie. »Und außerdem ist es vielleicht nicht ganz so idyllisch, wie Sie denken. Es führt ja nicht mal eine Straße dorthin.«

Und das ist die Wahrheit. Zu Inges altem Haus kommt man nur mit dem Boot über das Wasser, aber bevor man das versucht, fragt man Inge besser, ob sie es erlaubt, sonst kann man eine böse Überraschung erleben.

Es versuchen aber auch nicht viele. Die Segelboote, die im Sommer zu Hunderten im Hafen der kleinen Stadt liegen, wollen alle möglichst schnell die letzten Seemeilen bis zur Ostsee fahren oder manchmal aus der anderen Richtung den Meeresarm hinauf bis zur alten Wikingerstadt. Die Landzunge interessiert die Segler nicht; manchmal versucht vielleicht einer, einen Blick durch die wuchernden Herbstanemonen und Margeriten und Stockrosen am Ufer zu erhaschen, aber wenn er dann dahinter nichts als ein paar Hühner entdeckt, die friedlich am Boden picken, dann seufzt er nur und guckt lieber wieder in Richtung Mündung und lässt das kleine Haus in Ruhe.

Dabei hätte er in diesem Sommer einiges mehr sehen können als Hühner. Aber zum Glück liegt das alles hinter den Herbstanemonen versteckt, und kein Mensch weiß davon.

Der Tag vor dem ersten Tag

1.

Dabei hat alles mit einer schlimmen Nachricht angefangen. Das ist ja manchmal so im Leben: Etwas Erschreckendes passiert, aber wenn man nach Jahren darauf zurückblickt, dann hat genau damit etwas Glückliches begonnen. Nur dass man das zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß. Und Martha weiß es natürlich auch nicht, oder Mikkel oder Mats.

Noch nicht einmal Papa weiß es, als er an diesem Nachmittag in die Wohnung gestürmt kommt mit einem Gesicht, wie sie es noch nie bei ihm gesehen haben.

»Mama hat einen Unfall gehabt!«, ruft er, und dann wirft er im Flur sein Jackett auf den Boden und verschwindet in Mamas Arbeitszimmer, aber die Tür lässt er offen.

»Was für einen Unfall?«, ruft Martha. »Wieso?«

»Sie ist doch in Amerika!«, sagt Mikkel, als ob es da keine Unfälle geben könnte.

Mats sagt gar nichts und guckt nur von Martha zu Mikkel und wieder zurück. Mats ist noch so klein, dass er bei schwierigen Dingen erst entscheidet, wie viel Angst er haben will, wenn er sieht, wie viel Angst Mikkel und Martha haben. »Oh Gott, Martha, ich weiß überhaupt nicht …!«, sagt Papa und kramt wild in den Unterlagen auf Mamas Schreibtisch. »Und was mach ich denn jetzt mit euch? Ich kann euch doch nicht alleine hierlassen!«

So hat Martha Papa noch nie erlebt. So panisch. So durcheinander.

»Ihr müsst zu eurer Oma fahren!«, sagt er, und Martha sieht, dass seine Hände zittern. »Mir fällt einfach so schnell nichts anderes ein! Ist das okay für euch, Martha, ist das okay? Leonie muss doch irgendwo die Adresse … verdammt!«

»Die Oma kenn ich nicht«, sagt Mats empört.

Und: »Was ist denn überhaupt passiert, Papa?«, ruft Martha.

Da begreift Papa vielleicht, dass er seine Kinder nicht so erschrecken darf. Man kann richtig sehen, wie er tief Luft holt, um sich zusammenzureißen.

»Mama hat in New York auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall gehabt«, sagt er. »Ihre Bank hat mich vorhin angerufen. Sie liegt im Krankenhaus. Ich habe schon einen Flug für mich gebucht.« Dann kramt er weiter und blättert in Notizbüchern, aber dass er nicht findet, was er sucht, kann jeder sehen. »Nichts! Na, das hätte mich auch gewundert!«

»Muss Mama sterben?«, fragt Mikkel. Zu seinem Geburtstag vor zwei Jahren hat er einen Hamster bekommen. Der Hamster liegt jetzt in einer schönen Schachtel, die sie extra im Papierladen gekauft haben, drei Stockwerke tiefer unten im Hof in einem Blumenbeet unter einem kleinen Holzkreuz. Kein Nachbar hatte etwas gegen das Grab.

»Quatsch!«, sagt Martha, obwohl sie doch nicht mehr weiß als Mikkel. Aber man kann schlimme Dinge bannen wie mit einem Zauberspruch, vielleicht. Man muss Gutes denken und Gutes hoffen und Gutes sagen, dann wird auch alles gut.

»Es geht ihr wohl nicht so toll«, murmelt Papa, und Martha merkt, wie besorgt er ist. Nicht immer helfen Zaubersprüche.

»Mein Flug geht heute Abend. Ich weiß nicht, wie lange ich bei Leonie bleiben muss. Und ich kann euch nicht allein zu Hause lassen. Schon gar nicht jetzt in den Ferien, wo alle verreist sind.«

Inzwischen sucht er in Mamas Adressbuch auf dem PC, da ist schon klar, wonach. Aber auch da gibt es keine Telefonnummer von Mamas Mutter.

»Aber wir kennen die Oma doch überhaupt nicht!«, sagt Martha jetzt auch. »Du kannst uns doch nicht …« Dann ist sie still.

»Weißt du denn eine andere Möglichkeit?«, ruft Papa. »Dann sag sie mir! Sag sie!«

Irgendwo in New York liegt Mama in einem Krankenhaus, und Papa weiß nicht, wie es ihr geht, und Papa hat Angst. Martha versteht plötzlich, dass es keinen Sinn macht, ihm zu widersprechen. Papa muss nach New York fliegen. Vielleicht ist es sogar ganz nett, diese Oma wiederzusehen, von der Mama und Papa seit vielen Jahren nicht mehr sprechen. Und es ist ja sicher nicht für lange. Bald kommt Papa zurück. Und Mama kommt bestimmt auch zurück. Es ist besser, wenn sie es Papa jetzt nicht noch schwerer machen.

»Annika kann uns doch morgen hinfahren«, sagt Martha tapfer. »Mach dir keine Sorgen, Papa. Annika kann jetzt gleich kommen und bei uns schlafen, und dann kann sie uns morgen zu Oma fahren. Das klappt schon!«

»Ja, wenn die alte Hexe überhaupt noch lebt!«, murmelt Papa und merkt gar nicht, wie Mikkel und Mats zusammenzucken. »Dass es hier aber auch keine Telefonnummer von ihr gibt, verdammt!«

»Ist sie in echt eine Hexe?«, fragt Mats. Nun hat er sich doch entschieden ängstlich zu sein.

»Ruf Annika an, Papa!«, sagt Martha. »Sie soll kommen! Annika macht das!«

Annika ist Mamas beste Freundin. Sie hat mit Mama studiert und ist mit Mama und den Kindern in Urlaub gefahren, und manchmal, wenn Papa auf Geschäftsreise ist oder noch im Büro oder in seinem Arbeitszimmer am Ende vom Flur, sitzt sie abends mit Mama im Wohnzimmer, mit einer Flasche Rotwein auf dem Tisch, und die beiden reden und reden. Bestimmt kommt Annika gleich. Und bestimmt bringt sie die Kinder dann auch zu dieser Oma.

»Kann nicht vielleicht Annika bei uns bleiben?«, fragt Mikkel, und sein Gesicht leuchtet auf. »Geht das nicht lieber?«

Aber natürlich weiß sogar Mikkel, dass Annika jeden Morgen zur Arbeit fahren muss. Da ist sie dann den ganzen Tag, und wer soll sich inzwischen um die Kinder küm-
mern?

Und dass Papa jetzt nicht noch lange überlegen kann, wer sich um Martha, Mikkel und Mats kümmern soll, ist auch schon klar. Papa muss zum Flughafen.

»Ja, das ist eine gute Idee, Martha!«, sagt er und streicht schon über sein Handy. »Annika kann das machen.«

»Ich finde Annika nett«, sagt Mats.

Der erste Tag

2.

Und natürlich ist Annika gekommen. Ganz schnell, noch bevor Papa zum Flughafen gefahren ist.

»Macht euch nicht verrückt!«, hat sie zu Martha und Mikkel gesagt. Mats hat in seinem Zimmer auf dem Fußboden gespielt. »Das kommt alles wieder in Ordnung. Leo ist doch tough! Jetzt bestellen wir erst mal eine Pizza.«

Dann haben sie Pizza gegessen, und Annika hat mit irgendwem telefoniert, der irgendwem sagen sollte, dass sie morgen nicht zur Arbeit kommen kann, sie würde sich auch noch direkt melden. Alles hat sich normal angefühlt. Sie sind ja auch sonst schon oft mit Annika allein zu Hause gewesen, wenn Mama und Papa zu irgendeinem Fest gegangen sind oder sonst wohin.

Am nächsten Morgen hat Annika gesagt, dass sie packen sollen.

»Nicht zu viel! Es ist ja nicht für die Ewigkeit«, hat sie gesagt. »Jede Wette seid ihr in ein paar Tagen schon wieder hier. Eine kleine Tasche, das reicht.«

Martha hat trotzdem ihren Rollkoffer gepackt. Man weiß nie, wem man vielleicht begegnet und was man vielleicht braucht. Und Mats hat Haldór Schröderson unter den Arm geklemmt, seinen Kuschelhund mit der roten Jacke, der längst so zerliebt ist, dass Martha sagt, er sieht aus wie eine Ratte; und Wilde Dreizehn hat er in die SpongeBob-Tasche gesteckt. Ein Tyrannosaurus hält das aus.

Aber als Annika die Tasche dann noch mal geöffnet hat, waren da keine Socken drin und keine Unterhosen und Wechsel-Jeans auch nicht. Zum Glück kann Annika die jetzt noch reinstopfen.

 

Die Fahrt dauert zwei Stunden. Papa hat Annika den Schlüssel für Mamas X5 dagelassen, weil er das sicherer fand, als wenn sie mit Annikas kleinem, altem Polo fahren. Außerdem sind da die Kindersitze drin.

Martha sitzt vorne.

»Ihr habt sie überhaupt nie gesehen, oder?«, fragt Annika und rangiert den Wagen aus der Parklücke. »Eure Oma?«

Martha schüttelt den Kopf. Dann nickt sie doch.

»Ein paar Mal, als ich ganz klein war«, sagt sie. »Mikkel war noch nicht geboren. Da haben wir sie manchmal besucht. Ich weiß nur, dass sie komisch war.«

»Ich hab sie nie kennengelernt«, sagt Annika. »Aber natürlich von ihr gehört. Oh Mann.« Dann sind sie schon fast auf der Autobahn.

Martha hat Angst gehabt, dass sie vielleicht den Weg nicht finden, aber natürlich kennt das Navi sich aus. Es führt sie über Straßen, die kleiner und kleiner werden, und dann kommt endlich das Ortsschild. Es steht ein wenig schief, als hätte irgendwann einmal jemand den Pfahl gestreift, auf der Heimfahrt von einem Fest vielleicht mit ein bisschen Bier und ein bisschen Schnaps im Bauch; und das Gelb auf dem Blech ist von Sonne und Regen vieler Jahrzehnte verblichen.

Aber den Schriftzug kann man immer noch lesen. »Sommerby«, sagt Annika. »Schöner Name. Na, nun sind wir gleich da.«

Martha merkt erstaunt, dass sie sich erinnert. An die Häuser mit den Reetdächern, die in unregelmäßigen Abständen entlang der gewundenen Dorfstraße stehen. An die Gärten davor mit Mädchenauge und Margeriten und knorrigen Obstbäumen. Dabei ist es doch so lange her!

In ihr drin ist plötzlich ein erwartungsvolles Gefühl. Beinahe glücklich, was doch ganz und gar verrückt ist. »Gleich kommt die Kirche, und dann müssen wir, glaube ich, links«, sagt sie.

Ihr Handy summt.

Heil gelandet!, hat Papa geschrieben. Melde mich wieder!

»Da rein?«, fragt Annika.

Martha nickt. Die Straße wird noch schmaler, wieder ein paar Häuser, wieder blühende Gärten. An einem Zaun ist plötzlich alles zu Ende.

Annika starrt auf ihr Navi. »Ja, was denn jetzt?«, fragt sie verblüfft. »Nichts mit ›Sie haben Ihr Ziel erreicht‹? Da ist ja nur noch Acker!«

Martha sieht auf das Navi und auf den Zaun. »Ich weiß auch nicht«, murmelt sie. »Ich glaube, das war nicht so. Dann müssen wir vielleicht über die Weide. Es ist dahinten. Wo die Bäume sind. Dazwischen liegt es.«

Jetzt starrt Annika auf die Weide. »Kein Weg?«, fragt sie und schaltet den Motor aus. »Das kann die Oma doch nicht ernst meinen!«

»Keine Ahnung«, sagt Martha unglücklich. »Es ist ja nicht weit.«

Dann holen sie Marthas Rollkoffer aus dem Kofferraum und Mikkels Rucksack und die SpongeBob-Tasche von Mats.

»Ich steig zuerst über den Zaun, und ihr reicht mir die Taschen«, sagt Annika. Jetzt klingt ihre Stimme entschlossen. »Dann kommt ihr nach. Ich fass es ja nicht.«

»Da sind Kühe«, sagt Mikkel. Er steht auf der untersten Zaunlatte. Vielleicht überlegt er, ob er wirklich den kleinen Sprung nach unten auf die Weide tun will. Wer weiß, ob die Kühe nicht gefährlich sind.

»Das sind quasi Frauen«, sagt Martha. Nicht dass sie wirklich beruhigt wäre. Was weiß sie von Kühen? Aber wenn sie zu dieser Oma wollen, dann gibt es keine andere Möglichkeit. »Das sind keine Bullen. Die Männer sind Bullen. Bullen sind gefährlich. Kühe nicht.«

Am anderen Ende der Weide haben die Kühe sie jetzt auch bemerkt. Zehn, zwölf schwarzbunte Tiere. Sie starren den Kindern entgegen, dann macht die erste Kuh einen nachdenklichen Schritt in ihre Richtung.

»Ich kenn mich mit Kühen nicht so aus«, sagt Annika, »aber wenn sie Euter haben, sind sie garantiert weiblich. Und die da haben alle ein Euter. Also auf geht’s!« Und ohne sich noch einmal zu den Kindern umzudrehen, macht sie sich energisch auf den Weg in Richtung Baum-
gruppe.

»Ist Euter nicht gefährlich?«, fragt Mats unruhig und quetscht Schröderson unter den linken Arm. Mit rechts trägt er seine Tasche. Jetzt hat er keine Hand frei, um sich bei Martha festzuhalten.

»Die haben keine Hörner!«, sagt Mikkel. Als Einziger klingt er eher ein bisschen erwartungsfroh als ängstlich. Er ruckelt seinen Rucksack zurecht und springt von der Zaunlatte ins Gras. »Komm, Mats.«

Dann folgen sie Annika über die Wiese, und von der anderen Seite aus sehen die Kühe ihnen zu. Ihre Trägheit hat über ihre Neugierde gesiegt.

»Nicht in Kuhkacke treten!«, ruft Martha, aber da passen Mikkel und Mats schon selbst auf. Einmal stolpert Mats über einen Maulwurfshügel und fällt hin, aber er wischt sich nur ärgerlich die Knie ab und geht entschlossen weiter. Keiner sagt ein Wort.

Die ganze Zeit blähen sich rechts, nur wenige Schritte von ihnen entfernt, weiß und sommerlich unzählige Segel auf dem Wasser auf ihrer Fahrt in die Ostsee, und dahinter erkennt Martha den Mastenwald im Hafen der kleinen Stadt gegenüber. Und vor ihnen wartet Annika am Rand der Baumgruppe vor einer Pforte, die schief in ihren Angeln hängt.

»Na, alle da?«, fragt Annika. »Haben die Kühe euch nicht gefressen?«

Es ist ein merkwürdiges Gefühl jetzt, so nah am Haus, das ein Puppenhaus sein könnte oder vielleicht ein Haus in einem von diesen Filmen mit den freundlichen Knetfiguren: Niedrige weiß gestrichene Mauern, von Fachwerk gehalten und mit kleinen Fenstern unter einem bemoosten Reetdach, so tief heruntergezogen, dass Martha sich kaum vorstellen kann, wie ein Erwachsener darunterpassen soll. Und kein einziges Geräusch, nichts rührt sich. Alles fühlt sich auf einmal unendlich einsam an, dabei gleiten doch neben ihnen immer noch die Segelboote vorbei, und wenn sie genau hinhören, können sie sogar aus der kleinen Stadt das Lachen und Rufen der Feriengäste hören, das der Wind über das Wasser zu ihnen trägt. Aber hier ist alles still.

»Vielleicht ist sie gar nicht zu Hause?«, flüstert Martha.

Annika schüttelt den Kopf. »Das werden wir gleich wissen!«, sagt sie. »Hallo, ist da jemand?« Und sie öffnet die Pforte.

3.

»Halt!«, ruft eine Stimme, die Martha zu ihrem Erstaunen wiedererkennt, obwohl es doch so lange her ist. Eine tiefe, rauchige Frauenstimme. »Das hier ist Privateigentum. Haben Sie das Schild nicht gesehen?«

Und dann kommt die Oma hinter einem Holunderstrauch hervor, eine alte Frau in Gummistiefeln und abgewetztem Pullover über einer fleckigen Jeans, und unter dem rechten Arm klemmt lässig ein Luftgewehr. »Verlassen Sie sofort mein Grundstück.«

»Hilfe!«, schreit Mats und lässt seine Tasche fallen. Aber Schröderson hält er ganz fest, als er sich umdreht und anfängt, über die Wiese zurückzurennen. »Die schießt uns tot!«

»Mats!«, brüllt Martha. »Komm zurück! Die Kühe!«

»Mats?«, fragt die alte Frau und lässt langsam das Gewehr sinken. Auch eben schon hat der Lauf eher ins Gras neben den Kindern gezeigt als auf die Kinder, aber jetzt zeigt er nur noch auf den Boden. »Was wollen Sie hier?«

Das sagt sie zu Annika. Annika ist schließlich die einzige Erwachsene in der Gruppe. Trotzdem denkt Martha, dass sie jetzt eigentlich antworten müsste. Hallo, Oma!, müsste sie sagen. Erkennst du mich nicht? Ich bin’s doch, Martha, deine Enkeltochter! Und das hier sind Mikkel, den kennst du noch nicht, und der Kleine, der da eben weggerannt ist, als ob der Teufel hinter ihm her wäre, ist Mats, den hast du natürlich auch noch nie gesehen. Und wir sind gekommen, weil Mama einen Unfall hatte und in New York im Krankenhaus liegt und wir nicht wissen, wo wir sonst hinkönnen. Freust du dich?«

Und dann würde die Oma sie in den Arm nehmen und Martha! rufen und vielleicht Tränen der Wiedersehensfreude in den Augen haben. Man kennt das aus Filmen.

Aber Martha sagt gar nichts und die Oma auch nicht. Alles ist falsch.

»Wenn Sie das Gewehr jetzt vielleicht unten lassen könnten?«, sagt Annika stattdessen und guckt ein bisschen skeptisch. Vielleicht fragt sie sich gerade, ob sie einer Frau, die Fremde mit dem Gewehr begrüßt, tatsächlich die Kinder ihrer Freundin anvertrauen kann. Vielleicht ist sie wirklich ein bisschen verrückt? »Ich bin Leonies Freundin Annika, und das sind Ihre Enkelkinder. Und vielleicht können wir kurz reinkommen?«

»Kurz« ist natürlich Unfug. Annika hat ja nicht vor, die Kinder wieder mitzunehmen. Aber das will sie vielleicht nicht gleich sagen, hier so zwischen den Bäumen an der Pforte.

Die alte Frau sieht sie misstrauisch an, dann winkt sie mit dem Gewehr Richtung Haus. »Wenn es nötig ist«, sagt sie.

»Mats!«, brüllt Martha. »Komm zurück! Alles in Ordnung!«

4.

Dann sitzt Annika neben der Eingangstür auf einer Holzbank, die längst wieder einmal hätte gestrichen werden müssen, und Martha lehnt an einem Baum, von dem sie glaubt, dass er ein Apfelbaum ist, und Mikkel und Mats drehen ihre Köpfe und gucken den Hühnern beim Picken zu. Die Oma hat das Gewehr mit dem Schaft auf den Boden gestützt und wartet. Inzwischen hat sie bestimmt Marthas Rollkoffer entdeckt. Und Mikkels Rucksack.

»Also?«, sagt sie.

»Ja, wie gesagt, ich bin Leonies Freundin Annika«, sagt Annika. Von ihrem Platz am Baum kann Martha über den ein bisschen unordentlichen Rasen gucken, auf die rosa und blauen Hortensien und die Stockrosen, die überschwänglich in allen Farben von zartem Gelb bis Purpur blühen; und dahinter über das sonnenglitzernde Wasser auf den Hafen der kleinen Stadt. Eigentlich wäre es so schön, dass es fast wehtun müsste. Wenn da nicht diese Alte mit dem Gewehr wäre.

»Ihre Tochter hat gestern in New York einen Unfall gehabt«, sagt Annika. »Und Nils ist sofort hingeflogen. Ihr Schwiegersohn.«

»Ich weiß, wer Nils ist«, sagt die Oma. Aber Martha erkennt eine Unruhe in ihrem Gesicht. »Und? Ist es schlimm?«

Was kümmert es dich denn, ob es schlimm ist!, denkt Martha. Du meldest dich doch nie bei deiner Tochter. Du schickst ihr doch nicht mal eine Karte zu Weihnachten. Dir ist es doch bestimmt ganz egal, ob sie vielleicht so schlimm verletzt ist, dass sie stirbt.

Dann zuckt Martha zusammen. Nicht nur, weil sie »sterben« nicht denken darf, nicht »sterben« und auch nicht die vielen anderen schrecklichen Dinge, die sie sich nicht vorstellen will. Sondern weil sie plötzlich begreift, warum es der Oma wichtig ist, wie es Mama geht.

Die Oma will sie hier nicht haben! Die Oma versteht, dass Annika gleich aufstehen und zurückfahren wird. Und dass sie die Kinder gebracht hat, damit die Oma auf ihre Enkelkinder aufpasst, solange ihre Tochter das nicht kann. Die Oma hat Angst, dass sie die Kinder bei sich aufnehmen muss.

»Wir wissen noch nicht viel«, sagt Annika. »Nils wird sich sicher bald melden. Aber im Augenblick ist leider niemand da, der sich um die Kinder kümmern könnte. In den Sommerferien sind fast alle auf Reisen, und da dachten Nils und ich …«

Die alte Frau schnaubt.

»Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie gehört haben, wie es ihr geht!«, sagt sie. »Sofort.«

Annika nickt. »Natürlich«, sagt sie. »Wenn Sie mir Ihre Nummer geben?«

Dann warten sie alle auf eine Antwort. Mats hat inzwischen auch Schröderson auf den Boden fallen lassen und sich an die Hühner herangeschlichen. Als er ganz vorsichtig in die Hände klatscht, stieben sie wild gackernd auseinander.

»Erschreck mir nicht meine Hühner!«, ruft die Oma böse. »Dann legen sie nicht!«

Aber Mats ist selbst erschrocken. »Die haben voll Angst vor mir, Martha!«, ruft er. Vielleicht ist er sogar stolz? Sonst haben nicht viele Angst vor dem kleinen Mats. Sonst ist es immer Mats, der Angst vor den anderen hat.

»Ja, wie gesagt«, sagt Annika. Sie wartet.

»Ich bin schließlich die Großmutter, was?«, sagt die Oma, als sie sieht, dass die Hühner sich wieder beruhigt haben. »Jetzt auf einmal bin ich wieder die Großmutter.«

Sie sieht Annika böse an. Aber Annika kann ja nichts dafür.

»Komm, Annika, wir fahren wieder zurück!«, sagt Martha und greift entschlossen nach dem Griff ihres Rollkoffers. Es ist egal, was diese Oma gleich noch sagt. Bei einer Oma, die sie nicht haben will, will Martha nicht bleiben. Dann kümmert sie sich eben selbst um Mikkel und Mats. Und vielleicht kann Annika doch bei ihnen einziehen, bis Papa zurück ist. Papa und Mama. Sie kriegen das schon hin.

»Du hast große Ähnlichkeit mit deiner Mutter in dem Alter«, sagt die Oma, und man könnte fast glauben, dass ihre Augen ein bisschen lächeln. Es ist unhöflich, einen Menschen so durchdringend anzusehen, wie die Oma Martha jetzt ansieht. »Die beiden da nicht.« Und sie dreht den Kopf zu Mikkel und Mats. »Die kommen mehr nach dem Vater. Wollen wir hoffen, dass das nur das Äußere betrifft.«

Jetzt ist Annika aufgestanden. Vielleicht findet sie, dass sie sich nicht auch noch Beleidigungen anhören müssen, wenn diese alte Hexe die Kinder sowieso nicht haben will.

»Komm, Martha!«, sagt sie. »Ihr auch, Mikkel und Mats. Vergiss Schröderson nicht, Matsi.«

Aber da passiert etwas Unerwartetes.

»Nein!«, sagt Mats. Nicht laut, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Inzwischen hat er die Katze entdeckt, die auf einem Sonnenfleck auf dem großen runden Stein auf dem Rasen liegt und ihre Pfote abschleckt. »Ich will bei den Tieren bleiben! Du kannst uns ja heute Abend holen.« Und er schleicht sich an die Katze heran, wie er sich eben an die Hühner herangeschlichen hat. Aber dieses Mal klatscht er nicht in die Hände, und die Katze sieht ihm gelangweilt entgegen und hört nicht auf, sich zu putzen.

»Komm, Mats!«, sagt jetzt auch Martha, mit dem Griff des Rollkoffers in der Hand. Mats versteht ja gar nicht, was er da sagt! Sobald Annika weg ist, wird er anfangen zu weinen. Und Martha wird ihn trösten müssen. Und dabei weiß sie überhaupt nicht, ob sie das hinkriegt. Martha könnte jetzt selbst ein bisschen Trost gebrauchen.

Die alte Frau schüttelt resigniert den Kopf. »Schon alles gut!«, sagt sie zu Annika. Es sieht aus, als ob sie einen Seufzer unterdrückt. »Es sind schließlich meine Enkel, was? Aber geben Sie Bescheid, sobald Sie etwas von meiner Tochter gehört haben. Sofort.«

Dann dreht sie sich um und verschwindet im Haus. Mit einem kleinen Stück Papier kommt sie zurück.

»Martha?«, fragt Annika, als sie die Telefonnummer an sich nimmt.

Martha zögert einen Moment, dann nickt sie. »Deswegen sind wir schließlich hergefahren, oder?«, flüstert sie. »Wenn was ist, melde ich mich. Ich hab dich ja eingespeichert.«

Annika zögert. »Aber als wir uns entschieden haben, dass ihr herkommen solltet, wussten wir nicht …«, sagt sie leise.

Dass meine Oma eine alte Hexe ist?, denkt Martha. Aber Papa wusste es, er kannte sie schließlich. Und wenn er uns trotzdem hergeschickt hat, dann heißt das, dass es okay ist. Es ist ja nicht für lange.

»Ich kann dich doch immer anrufen!«, sagt sie.

Annika nimmt sie in den Arm. »Du bist so tapfer, Martha!«, sagt sie. »Aber tu das auch wirklich! Ich lass alles stehen und liegen und komme her und hole euch ab!«

Martha nickt. »Papa ist bestimmt sowieso bald zurück!«, sagt sie. »Mit Mama.«

Dann sieht sie Annika hinterher, wie sie auf dem Weg zum Zaun Maulwurfshügeln und Kuhfladen ausweicht. Mats hat schon Schröderson aufgehoben und wartet an der Haustür. Und Mikkel sieht so unglücklich aus, dass Martha weiß, sie muss sich zusammennehmen.

»Tschüs, Annika!«, ruft Martha und winkt. »Los, Mikkel und Mats! Sagt Annika Tschüs!«

Dann gehen sie zum ersten Mal durch die niedrige Tür ins Haus am schönsten Ort der Welt: Und so beginnt der wunderbarste Sommer.

5.

Nur dass die Kinder davon natürlich noch nichts wissen. Nicht, dass dies der schönste Ort der Welt ist, und erst recht nicht, dass der Sommer wunderbar werden wird.

»Oh!«, sagt Martha, als sie aus dem gleißend sonnigen Sommertag in die dämmerige Küche tritt. Gleich von draußen in die Küche, ganz ohne Flur. »Oh.«

Die Decke ist aus Holz und so niedrig, dass Papas Kollege Anders, von dem Mats immer flüstert, dass er vielleicht ein geheimer Riese ist, sich ganz sicher den Kopf anstoßen würde, jedenfalls da, wo die Balken sind. Solche Decken muss man weiß anstreichen, das weiß Martha von Friedrich und Isolde, die haben in ihrem Sommerhaus auch so eine. Sonst kriegt man ja im Leben keine Helligkeit in die niedrigen Räume, hat Isoldes Mutter ihr erklärt.

Aber in diese Küche würde man vielleicht sogar mit einer weißen Decke keine Helligkeit kriegen, so winzig ist das einzige Fenster. Und draußen gleich davor wuchert eine Weide und lässt kaum Licht herein.

»Das ist aber duster bei dir, du!«, sagt Mats vorwurfsvoll und zögert einen Augenblick, bevor er hinter Martha die Küche betritt. Hexenhäuser sind so dunkel, das weiß er. Oder Räuberhäuser. »Rapuster, rapuster, im Wald da ist es duster!«

»Da wohnt ein alter Schuster, ich weiß«, sagt die Oma und knipst das Licht an. »Hier nicht. Ich zeig euch, wo ihr schlafen könnt.«

Dann öffnet sie eine Tür, und dahinter gibt es doch einen Flur, genauso dunkel und niedrig wie die Küche. »Ihr kriegt Matratzen auf dem Dachboden.«

Martha überlegt, ob sie das gut oder schlecht findet. Mit Friedrich und Isolde in ihrem weiß gestrichenen Ferien-
haus würde sie Matratzen auf dem Dachboden gut finden.

»Da ist aber gar keine Treppe!«, sagt Mats vorwurfsvoll. Er hat wohl beschlossen, dass er vor dieser Oma jetzt keine Angst mehr haben will. Jedenfalls mit ihr reden kann er mal. Wenn er schon bei ihr bleiben muss. »Da kann man ja gar nicht hoch!«

»Kann man nicht?«, sagt die Oma und greift nach der Stange mit Haken, die hinter einer alten Truhe in der Ecke lehnt. Dann hakt sie die Stange in einen Ring, der aus der Flurdecke ragt, und als sie daran zieht, ist die Decke an dieser Stelle gar keine Decke, sondern eine Klappe, die langsam aufgeht und eine Öffnung freigibt, unter der sich wie in Zeitlupe eine Treppe nach unten entfaltet. Oder eine Leiter. Eine Mischung aus einer Treppe und einer Leiter.

Inzwischen ist auch Mikkel zu ihnen in den Flur gekommen. »Das ist ja cool!«, sagt er und starrt auf die Treppenleiter, die jetzt mit ihrer untersten Stufe auf dem Boden angekommen ist. »Eine Geheimtreppe!«

»Bitte sehr!«, sagt die Oma und gibt den Kindern ein Zeichen, dass sie nach oben steigen sollen.

Martha überlegt, was passiert, wenn die Hexe hinter ihnen die Treppe wieder hochklappt und sich die Klappe schließt. Dann sind sie auf dem Dachboden gefangen. Und wenn sie schreien, hört sie durch das dicke Reetdach draußen bestimmt niemand. Sowieso sind alle anderen Menschen weit weg auf der anderen Seite des Wassers. Wenn es ein Fenster gibt, könnte man natürlich springen.

Aber Mikkel ist schon beinahe oben, und Mats klettert so dicht hinter ihm, dass er Mikkels Rucksack fast ins Gesicht kriegt. »Cool!«, ruft Mikkel wieder. »Aber richtig cool!«

Da steigt Martha auch hoch.

Der Dachboden sieht aus wie ein großes Zelt aus Reet. Der Boden ist aus Brettern gezimmert, und darüber spannt sich das Dach bis zum First. Und Fenster für eine Flucht sieht Martha auch: An allen vier Seiten gibt es eine Gaube, als hätte hier irgendwann jemand vorgehabt, unter dem Dach Zimmer einzubauen. Wenn man ein bisschen genauer hinguckt, sieht man, dass alles blitzsauber ist. In einer Ecke stehen Kisten und alte Möbel: ein Sessel mit altmodischem Bezug und ein merkwürdiger Fernseher und ziemlich viele in Folie eingeschweißte Deckelgläser, übereinandergestapelt wie ein Turm, und noch tausend andere Sachen.

»Sucht euch einen Platz zum Schlafen aus!«, sagt die Oma. Sie steht direkt hinter Martha auf der Treppe. »Da legen wir dann die Matratzen hin.«

»Das ist aber schön hier, du!«, sagt Mats und stellt sich direkt unter eins der Fenster. Die Sonne fällt durch die staubigen Scheiben und malt einen leuchtenden Streifen auf den Holzfußboden. »So ein schönes Dach! Hier schlaf ich.«

Die Oma nickt. »Hilf mir mal!«, sagt sie.

Und in der Ecke mit den alten Möbeln gibt es tatsächlich auch einen Stapel aus Matratzen. Genau ansehen darf man sie lieber nicht.

»Ich bin ja stark!«, sagt Mats und hilft, eine Matratze unter ein Fenster zu ziehen. »Schröderson findet es gut hier.«

»Schröderson?«, fragt die Oma und zieht die Brauen hoch.

»Das ist sein Hund!«, sagt Mikkel. »Den hat Mama mitgebracht, als sie für die Bank in Island war. Das ist ein isländischer Name.«

»Das sollte mich wundern!«, sagt die Oma. »Richtet euch ein. Ich bring euch Bettzeug hoch. Guckt ruhig, was ihr von den Sachen in der Ecke brauchen könnt. Aber macht mir die Gläser nicht kaputt.«

6.

Und dann beginnt der erste Abend, und ganz sicher kann keiner von ihnen sich da vorstellen, dass sie eines Tages weinen werden, wenn sie zurückfahren sollen. Auch Mikkel und Martha haben sich einen Platz für ihre Matratzen gesucht, und die Oma hat ihnen Decken und Kissen und Laken gebracht. Martha hat neben ihre Matratze noch den alten Sessel gestellt, darüber kann sie dann abends ihre Kleider hängen, und überhaupt sieht es so plötzlich viel gemütlicher aus. Ihr Koffer steht aufrecht auf der anderen Seite wie eine viel zu niedrige Wand zwischen ihrer Matratze und der von Mikkel, da weiß sie, wo ihr Platz aufhört und der von Mikkel anfängt. Wenn sie schon keine richtigen Zimmer haben.

Martha zieht ihr Handy aus der Tasche und macht ein Foto. Ob Isolde auch gerade in ihrem Sommerhaus ist oder noch immer auf den Malediven, weiß sie nicht, aber die WhatsApp wird sie schon erreichen. Martha klettert rückwärts die Leiter nach unten und geht über den Flur zur Küche.

»Hallo?«, sagt sie, als sie vorsichtig die Küchentür öffnet. Wenn Martha die Oma besser kennen würde, hätte sie natürlich »Oma?« gesagt. Aber so klingt das irgendwie falsch.

Die Oma steht mit dem Rücken zur Tür neben dem Herd, auf dem das Wasser in einem großen Topf vor sich hin köchelt, und steckt prüfend eine Gabel in eine Kartoffel. »Gleich gar«, sagt sie, ohne sich umzudrehen. »Noch zwei, drei Minuten.«

»Ich brauch bitte mal das Passwort«, sagt Martha und wartet höflich. »Ich kann es mir auch selbst vom Router abschreiben.«

Jetzt dreht die Oma sich doch zu ihr um. »Was?«, fragt sie.

»Ich möchte meiner Freundin eine WhatsApp schicken!«, sagt Martha. »Da brauch ich dein WLAN

Die Oma runzelt die Stirn. »Da bist du hier falsch, mein Mädchen!«, sagt sie. »Falls ich richtig verstanden habe, was du meinst. Das gibt es hier nicht, WLAN und Router und Passwort. Tut mir leid.«

»Kein WLAN?«, fragt Martha erschrocken und überlegt, was das bedeutet. Für alles muss sie jetzt ihr Datenvolumen nutzen. Und wenn das aufgebraucht ist, wird sie gar nicht mehr ins Internet kommen. »Wie gehst du denn ins Netz?«

»Ich geh keinem ins Netz!«, sagt die Oma und lacht ein Lachen, das Martha nicht versteht. »Bin ich nie und hab ich auch jetzt nicht vor. Du musst mal ohne auskommen, mein Mädchen.«

Martha schluckt. »Aber ich hab keine Flatrate«, sagt sie.

Die Oma sieht sie nachdenklich an. »So«, sagt sie. Vielleicht weiß sie nicht mal, was eine Flatrate ist? So, wie sie lebt. Im Mittelalter.

Martha dreht sich weg vom Herd. Sie muss Isolde dringend schreiben, was passiert ist. Und wo sie jetzt sind. Auf dem Display sieht sie, dass sie keine neuen Nachrichten hat. Nicht mal von Papa. War Papa noch gar nicht bei Mama im Krankenhaus? Warum schreibt er nicht, wie es ihr geht?

Martha wird es plötzlich ganz kalt. Natürlich war Papa inzwischen bei Mama, da ist er doch bestimmt als Erstes hingegangen. Und wenn er seinen Kindern jetzt nicht schreibt, wie es Mama geht … Martha schluckt. Dann ruft sie Papas Nummer auf.

Und jetzt erst sieht sie es! Oben auf dem Display, wo sonst immer fünf Balken die Stärke der Verbindung zeigen, steht es deutlich und unmissverständlich: Kein Netz.

»Hier gibt es ja gar kein Netz!«, ruft Martha.

Die Oma lacht wieder. »Hab ich dir doch gesagt!«, sagt sie. Sie versteht wirklich gar nichts.

Martha läuft nach draußen. Kein WLAN! Und auch kein Netz! Irgendwo muss es ein Netz geben. Das Wasser ist doch nicht so breit, und auf der anderen Seite liegt die kleine Stadt. Vielleicht vorne am Steg? Man kann doch nicht ohne Netz leben, nicht mal hier!

Der Steg sieht aus, als hätte sich lange niemand mehr um ihn gekümmert. Ein Brett ist zur Hälfte herausgebrochen. Trotzdem liegt ein Boot daran vertäut, ein altes Boot aus Holz, und der Motor am Heck ist sorgfältig aus dem Wasser genommen und hochgeklappt. Freundliche kleine Wellen schwappen gegen den Rumpf.

Martha läuft bis zur vordersten Spitze. Sie streckt den Arm mit dem Handy der kleinen Stadt entgegen, so weit es geht. Kein Netz. Kein Netz, nirgendwo.

Wie soll sie sich denn jetzt mit Papa schreiben? Mit Isolde? Wie soll sie Fotos verschicken, und was ist mit Snapchat und Instagram?

»Martha!«, ruft Mats. Er steht in der Pforte und schwenkt seine Arme. »Du sollst kommen!«

Martha sieht noch einmal über das Wasser, dann dreht sie sich um und geht langsam zum Haus zurück. Morgen wird sie nach einer Stelle suchen, an der sie Empfang hat. Vielleicht gleich hinter der Weide, in Sommerby. Und heute Abend ruft sie Papa dann eben erst mal vom Festnetz an, um zu hören, was mit Mama ist. Das wird teuer für die Oma.

7.

»Du sollst kommen!«, sagt Mats wieder, als Martha an ihm vorbei durch die Pforte geht. Als wäre sie nicht längst da. »Kartoffeln pellen.«

»Bitte was?«, fragt Martha verblüfft.

In der Küche hat die Oma den Topf vom Herd genommen und eine große Schüssel danebengestellt. »Die beiden Herren hatten offenbar noch nie ein Messer in der Hand!«, sagt sie. »Na, das muss sich ändern. Erst mal kannst du mir ja helfen«, und sie nickt in Richtung Topf.

Martha sieht, dass ein Messer und eine Gabel auf dem alten Küchentisch liegen. Zeitungspapier ist für die Schalen ausgebreitet.

»Ich hab das auch noch nie gemacht!«, sagt sie.

Die Oma lässt ihr Messer sinken. »Wer macht das denn bei euch?«, fragt sie. »Na, leg trotzdem los. Das muss man nicht studieren.«

Martha greift nach dem Messer. Als sie mit den Fingern eine Kartoffel aus dem Wasser nehmen will, schreit sie auf. »Heiß!«, ruft sie.

Die Oma lacht. Sie ist herzlos. »Guck an, guck an!«, sagt sie. »Nimm besser die Gabel!«

Martha angelt mit der Gabel eine Kartoffel aus dem Topf. »Ich hab hier nirgendwo Empfang!«, sagt sie. Die Pelle lässt sich leicht in großen Streifen abziehen. Es ist überhaupt nicht schwierig. »Nicht mal vorne am Steg! Papa versucht bestimmt die ganze Zeit, mich zu erreichen! Ich ruf ihn nachher mal vom Festnetz an.«

Die Oma hört auf, ihre Kartoffel zu pellen. »Festnetz, soso«, sagt sie. »Du meinst, Telefon, was? Das gibt es hier nicht.«

»Was?«, ruft Martha. Das ist ja noch nicht mal Mittelalter! Das ist Steinzeit!

»Die wollten dreitausend Euro von mir«, sagt die Oma. »Zu abgelegen. Kostenlos ist nur bis zur Grundstücksgrenze.«

Martha lässt ihre Kartoffel in die Schüssel fallen. Sie ist weich und bricht auseinander. »Aber du hast Annika doch deine Nummer gegeben!«, ruft sie.

Die Oma pellt jetzt weiter, bei ihr geht es blitzschnell. »Nicht meine Nummer!«, sagt sie. »Das war die von Hannes, dem Kaufmann drüben in der Stadt. Der sagt mir Bescheid.« Dann spießt sie schon die nächste Kartoffel auf.

Martha starrt sie an. »Dann kann Annika uns ja gar nicht erreichen!«, ruft sie. »Wenn was mit Mama ist!«

Die Oma guckt sie ein bisschen nachdenklich an. »Hannes kommt rüber«, sagt sie. »Wenn was Wichtiges ist. Das macht der schon.« Aber sie sieht plötzlich doch so aus, als hätte sie jetzt gerade verstanden, dass ein Telefon manchmal wichtig sein kann.