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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-315-0
»Verehrter Schwiegervater, ich möchte ja gern noch ein wenig mit dir plaudern, aber der Dienst ruft.« Dr. Alexander Mertens erhob sich vom Frühstückstisch, an dem er gemeinsam mit seiner Frau Astrid und deren Vater, Dr. Hendrik Lindau, Chefarzt der Klinik am See, das Frühstück eingenommen hatte. »Ich muß mich schleunigst um den Jungen kümmern, der gestern abend eingeliefert wurde.«
»Hast du schon eine Diagnose?« fragte Dr. Lindau interessiert.
»Sie steht noch nicht hundertprozentig fest, aber ich fürchte, daß der Kleine eine Hirnhautentzündung hat«, antwortete der Kinderarzt. »Ich will nachher gleich zusammen mit Frau Dr. Westphal eine diagnosebestimmende Untersuchung vornehmen.«
»Tu das, denn es ist ja wichtig, herauszufinden, ob die Ursache Viren oder Bakterien sind«, meinte Dr. Lindau. »Ich würde dir außerdem raten, daß…«
»Paps, nun ist es aber genug«, wurde Dr. Lindau von seiner Tochter Astrid unterbrochen. Um die Lippen der Kinderärztin huschte ein Lächeln. »Du scheinst vergessen zu haben, daß du bereits seit einer Stunde im Urlaub bist und mit der Klinik und den Patienten nichts mehr im Sinn haben sollst. Jedenfalls gilt das für die kommenden zwei Wochen.«
»Ja, ja, ist schon gut, Mädchen«, gab Dr. Lindau schmunzelnd zurück. »Aber ich kann nicht über meinen Schatten springen«, fuhr er fort. »Ich bin eben Arzt und werde das immer sein und mich immer als solcher fühlen – auch außerhalb der Klinik.«
»Meinetwegen, Paps«, entgegnete Astrid. »Nur – jetzt solltest du aber für die kommenden Tage etwas mehr an dich, an deine Gesundheit und an deine Erholung denken. Genieße die Urlaubstage!«
Dr. Lindau seufzte verhalten. »Ich muß dir gestehen, Astrid, daß es mir gar nicht so leicht fällt, jetzt zum Gardasee zu fahren und dort zu faulenzen«, erwiderte er. »Am liebsten würde ich mit Alexander in die Klinik fahren.«
»Das fehlte gerade noch«, entrüstete sich Astrid. »Es hat mich genug Mühe gekostet, dich dazu zu bringen, einmal Urlaub zu machen, den du wirklich nötig hast.«
»Da muß ich Astrid voll und ganz beipflichten«, warf Alexander Mertens ein und lächelte.
Astrid und ihr Vater hörten ihn wenig später vom Doktorhaus abfahren.
»Tja, ich werde mich jetzt auch zur Abfahrt fertigmachen«, ergriff Dr. Lindau das Wort, als er mit seiner Tochter allein war. »Zuerst will ich mich aber von meinem Enkel verabschieden. Wo ist er eigentlich?« fragte er.
»Stefan schläft sicher noch«, erwiderte Astrid. »Komm, wir sehen mal nach!«
Dr. Lindau folgte seiner Tochter in das kleine Kinderzimmer, das direkt neben dem Schlafzimmer des jungen Paares war.
Astrid hatte recht – der kleine pausbäckige Junge schlief tatsächlich noch. »Ich werde ihn wecken, denn er muß ohnehin gleich sein Essen bekommen«, sagte sie und machte Anstalten, ihr Kind aus dem Bettchen zu holen.
»Nein, nein«, wehrte Dr. Lindau ab. »Laß ihn schlafen, bis er von allein aufwacht.« Still betrachtete er seinen Enkel und wandte sich dann ab. »Er wird einmal ein Prachtkerl werden«, sagte er wenig später zu seiner Tochter, als er im Flur mit ihr stand und sich nun auch von ihr verabschiedete. »Vielleicht wird er auch Arzt«, murmelte er.
»Vielleicht«, meinte Astrid. »Warten wir es ab.« Zärtlich umarmte sie ihren Vater. »Schreib einmal, Paps«, flüsterte sie.
*
Obwohl Dr. Lindau gerade erst vierundzwanzig Stunden von der Klinik am See fort war und am Gardasee seinen Urlaub begonnen hatte, machte sich in der Klinik unter den Ärzten und unter dem übrigen Personal eine merkwürdige Stimmung breit. Allen fehlte etwas – der Chefarzt nämlich. Obwohl der Dienstbetrieb reibungslos und ohne jegliche Komplikationen weiterging, vermißten viele doch den Chefarzt, der sonst überall gegenwärtig war, der eben irgendwie zum festen Bestandteil dieser Klinik geworden war. Es war natürlich nicht etwa so, daß Dr. Lindau als unersetzbar angesehen wurde – am allerwenigsten nahm er selbst dieses Privileg für sich in Anspruch –, aber es fehlte eben seine An- und Aussprache zu und mit den Ärzten, mit den Schwestern, und nicht zuletzt auch die freundlichen, aufmunternden und tröstenden Worte, die er stets für die Patientinnen übrig hatte. Es war gewiß nicht so, daß sich die einliegenden Frauen mit den übrigen Ärzten nicht verstanden. Nein, das war es nicht. Im Grunde genommen standen sie alle in gutem Ansehen – ob das nun Dr. Hoff war oder Dr. Reichel, Dr. Bernau, Dr. Köhler und auch Frau Dr. Westphal, die während der Abwesenheit des Chefarztes das Kommando führte. Doch alle waren sich darin einig, daß Dr. Lindau eben die Seele der Klinik war, der mit Ruhe, Verständnis und sicherem Gefühl die Geschicke der Klinik und der darin liegenden Patienten leitete.
Einen gab es aber, der geradezu unter der Abwesenheit Dr. Lindaus litt – Marga Stäuber, die Sekretärin und rechte Hand des Chefarztes gewissermaßen. Sie tröstete sich aber damit, daß ihr Doktor ja in zwölf Tagen zurück sein würde. Das gab sie auch unumwunden der Ärztin zu verstehen, als diese am zweiten Tag nach Dr. Lindaus Abwesenheit sich um die Wartezimmerpatienten – es waren diesmal nur zwei – kümmerte.
»Sie mögen den Chefarzt wohl sehr, Frau Stäuber?« fragte die derzeitige Klinikleiterin und lächelte. Sie stand vor dem Schreibtisch der Sekretärin. Im Wartezimmer war niemand mehr, und sie wollte sich wieder hinauf zur Station begeben.
»Das kann man laut sagen«, gab Marga Stäuber im Brustton der Überzeugung zurück. Eine leichte Verlegenheitsröte überzog ihr rundliches Gesicht. »Ich kann Sie aber auch ganz gut leiden, Frau Doktor«, fügte sie mit verhaltener Stimme hinzu.
Die Ärztin schmunzelte. »Das beruhigt mich ja«, meinte sie. »Ich stimme Thnen aber gern zu – unser Chefarzt ist wirklich nicht leicht zu ersetzen.«
»Da haben Sie recht, Frau Doktor«, pflichtete Marga Stäuber der sympathischen Ärztin lebhaft bei. »Weder als Arzt noch als Mensch. Er ist einfach einmalig.«
»Da sind wir uns einig, Frau Stäuber.« Die Ärztin sah zur Uhr. »Ich muß jetzt rauf«, sagte sie. »Wenn etwas ist, wissen Sie ja, wo ich zu erreichen…« Sie unterbrach sich, weil sich in diesem Augenblick das Telefon auf dem Schreibtisch der Sekretärin meldete und Margar Stäuber abhob.
»Ja, bitte? Klinik am See…«
Die Sekretärin lauschte einige Sekunden und winkte dann der Ärztin, die gerade den Raum verlassen wollte. Sie deckte den Hörer mit der Hand zu und rief ihr verhalten zu: »Frau Hofstätter möchte gern morgen einen Termin haben, Frau Doktor.«
Anja Westphal drehte sich um. »Morgen nicht«, erklärte sie. »Wir haben doch bekanntgegeben, daß während der Abwesenheit von Dr. Lindau nur zweimal in der Woche eine Konsultation stattfindet – es sei denn, es handelt sich um einen akuten Fall. Sagen Sie also, daß die Dame erst in drei Tagen kommen kann.« Fragend sah sie die Sekretärin an. »Oder ist es etwas Dringendes?« wollte sie wissen.
Die Sekretärin zuckte mit den Schultern. »Das hat sie nicht gesagt«, erklärte sie.
»Also dann – in drei Tagen«, gab die Ärztin zurück.
»Frau Doktor…« Wieder deckte Marga Stäuber den Hörer mit der Hand ab. »Es handelt sich um die Frau unseres neuen Bürgermeisters«, rief sie. »Ich meine, daß wir da schon eine Ausnahme machen sollten.«
In die Augen der Ärztin trat ein interessierter und gleichermaßen wachsamer Ausdruck. »Die Frau des Bürgermeisters also«, murmelte sie und überlegte kurz. Nun ja, dachte sie, mit dem Bürgermeister beziehungsweise mit dessen Frau sollte man sich im Interesse der Klinik eigentlich möglichst gut stellen. Immerhin war die Klinik am See, die zwar den Status eines Privatbetriebes besaß, auf die eine oder andere Weise vom Wohlwollen des Bürgermeisters ein wenig abhängig. »Also meinetwegen«, kam es dann über Anja Westphals Lippen, »sagen Sie Frau Hofstätter, daß Sie morgen um… um… elf Uhr kommen kann.« Sie nickte der Sekretärin freundlich zu und verschwand.
»Morgen um elf Uhr, Frau Hofstätter«, teilte Marga Stäuber der Bürgermeistersfrau mit. »Frau Dr. Westphal erwartet Sie. Schönen Tag noch«, wünschte sie und legte mit einem kurzen Gruß den Hörer auf.
*
Etwas besorgt blickte Bürgermeister Hofstätter seine attraktive Frau an. Wie immer, registrierte er mit einem gewissen Stolz, daß seine Angela mit ihrem faltenlosen glatten Gesicht keineswegs einer Frau ähnelte, die schon auf die Mitte der Vierzig zuging. Sie war zwar etwas mollig, aber gerade das mochte er so an ihr. Insgeheim freute er sich auch darüber, daß sie seit vier Monaten, als er zum neuen Bürgermeister von Auefelden gewählt worden war, ein richtig damenhaftes Benehmen an den Tag legte. Sicher – manchen gefiel das nicht so sehr, aber darum kümmerte er sich nicht.
Für ihn zählte eigentlich nur, daß Angela als erste Dame des Ortes, als sogenannte First-Lady von Auefelden respektiert wurde und sich mit Fug und Recht zur achtbaren und gehobeneren Gesellschaftsschicht des Ortes zählen durfte. Immerhin war sie die Frau des Bürgermeisters. Er selbst war ja auch die nunmehr höchste Respektsperson von Auefelden. Er wußte auch, daß er geachtet wurde, und zwar nicht nur seiner Stellung wegen, sondern wegen seiner bisherigen Verdienste im Interesse der Gemeinde. Durch seine Energie und sein dynamisches Wirken hatte er Auefelden in der kurzen bisherigen Amtszeit bereits einige Vorteile verschafft, die sich günstig in der Stadtkasse auswirkten. Eben hatte er wieder ein Projekt in die Wege geleitet, das der Gemeinde nicht unerhebliche Vorteile finanzieller Art bringen würde. Die Verhandlungen darüber mit dem Bauunternehmer Strasser aus München waren so gut wie abgeschlossen.
Bei all seinen Aktivitäten jedoch dachte er immer auch an seine Frau, die er liebte und für die er stets nur das beste im Sinn hatte. Deshalb war er jetzt auch etwas besorgt, nachdem Angela ihm mitgeteilt hatte, daß sie am nächsten Tag zu einer Untersuchung in die Klinik am See müßte. »Weshalb?« wurde er neugierig. »Was fehlt dir denn, und was für eine Untersuchung soll das werden?«
»Weil ich seit einiger Zeit Schmerzen habe«, gab Angela Hofstätter zurück. »Unterleibsschmerzen.«
»Inwiefern?« hakte der Bürgermeister nach. »Bekommst du etwa gar ein Baby?«
»Unsinn«, wehrte die dunkelblonde Frau ab. »Du weißt genau, daß ich keine Kinder bekommen kann.«
»Weshalb also die Schmerzen?«
»Das möchte ich ja morgen untersuchen lassen«, erwiderte Angela Hofstätter.
»Hm.« Das war alles, was Thomas Hofstätter dazu sagte. Er wollte zwar noch etwas hinzufügen, versagte es sich jedoch, weil in diesem Augenblick die Sekretärin einen Besucher meldete.
»Herr Strasser aus München ist hier…«
»O ja, den habe ich schon erwartet«, wurde der Bürgermeister lebhaft. »Bitten Sie Herrn Strasser in ein paar Sekunden herein«, sagte er und wandte sich an seine Frau. »Entschuldige bitte, aber jetzt mußt du gehen – am besten durch jene Tür.« Er deutete nach dem Nebenausgang seines Amtszimmers, in dem ihn Angela vor Minuten aufgesucht hatte. »Ich habe eine Besprechung wegen eines großen Projektes.«
»Schon verstanden, Thomas.« Angela Hofstätter lächelte ihrem Mann zu und entfernte sich, während fast zur selben Sekunde der von der Sekretärin angemeldete Besucher aus München durch eine andere Tür das Zimmer betrat.
Die Begrüßung zwischen dem Bürgermeister und dem bullig wirkenden Bauunternehmer mit dem Bürstenhaarschnitt war kurz, aber geradezu herzlich. Kein Wunder, wenn man wußte, daß sich beide einen guten Gewinn von dem schon vor Wochen besprochenen und nun vertragsreifen Projekt versprachen. Der Bürgermeister hatte sofort das gute Geschäft gewittert, auf das er von Andreas Strasser seinerzeit angesprochen worden war. Es ging um ein größeres, im Gemeindebesitz befindliches Gelände auf der Südseite des Sees – ein Stück lichter Kiefernwald gehörte auch dazu – auf dem der Bauunternehmer eine Art Sommer-Ferienzentrum errichten wollte, mit Campingplatz, einigen kleinen Sommerhäusern, einem Bootssteg mit Bootsverleih und einem noch auszubauenden Stück Badestrand.
Thomas Hofstätter war sofort begeistert eingestiegen, als er von Andreas Strasser das Angebot gehört hatte.
Es war auch nicht schwierig gewesen, die Gemeinderatsmitglieder von dem Verkauf des bewußten Geländes zu überzeugen. Und das nicht nur wegen des großzügigen Angebots, sondern auch wegen der finanziellen und wirtschaftlichen Vorteile für Auefelden. Die entsprechenden Verträge waren ausgefertigt und brauchten nur noch unterschrieben und ratifiziert zu werden.
»Nun, Herr Bürgermeister, wie sieht es aus?« kam Andreas Strasser auch sofort zur Sache. Er hatte eine polternde Stimme, die Autorität signalisierte.
»Bestens, Herr Strasser«, antwortete der Bürgermeister. »Die Verträge müssen nur noch vom Gemeinderat gegengezeichnet werden. In ein paar Tagen ist es soweit, und Sie können ebenfalls unterschreiben und die Finanzen in unsere Kasse fließen lassen.« Über seine Lippen kam ein zufriedenes Lachen.
»Vortrefflich«, entgegnete Andreas Strasser. »Dann kann ich ja schon die Vermessungen vornehmen lassen.«
»Dem steht nichts im Weg«, versicherte der Bürgermeister.
Der Bauunternehmer nickte. »Hm, da wäre allerdings noch etwas«, stieß er hervor und sah den Bürgermeister mit wachsamen Augen an. »Sie glauben nicht, daß die Klinik da unten am See, deren Areal ja direkt an das von mir erworbene Gelände anstößt, irgendwelche Schwierigkeiten macht?« fragte er.
»Aber ich bitte Sie, Herr Strasser«, erwiderte der Bürgermeister und tat entrüstet. »Das Gelände ist Eigentum der Gemeinde, und nur die hat das Verfügungsrecht darüber. Machen Sie sich also keine Sorgen. Die Sache läuft.«
»Das will ich hoffen«, meinte Andreas Strasser. »Immerhin stecke ich eine erhebliche Summe in dieses Projekt.« Daß diese Summe zwar nicht ihm gehörte, sondern seiner Frau, die das Bauunternehmen von ihrem Vater geerbt hatte, behielt er natürlich für sich.
Die beiden Geschäftsfreunde besprachen noch einige wenige Details, ehe sie sich wieder trennten. »Ich werde also morgen oder übermorgen die Vermessungen vornehmen lassen«, meinte Andreas Strasser abschließend. »Ein paar Tage später komme ich dann auch her. Ach ja…«, setzte er hinzu, »… ich nehme doch an, daß ich in Auefelden ein Quartier bekomme.«
»Da kann ich Ihnen den GOLDENEN OCHSEN empfehlen«, riet der Bürgermeister. »Sie werden wahrscheinlich mit Ihrer Gattin kommen, nehme ich an.«
»Ja, ich komme mit einer Frau«, bestätigte der Bauunternehmer ein wenig undeutlich. Er dachte dabei nicht an seine eigene Frau, sondern an die schwarzhaarige Gisela, die ihm seit mehr als einem halben Jahr schon das Leben angenehmer gestaltete.
Dem Bürgermeister fiel es gar nicht auf, daß Andreas Strasser nicht von meiner Frau, sondern nur von einer gesprochen hatte.