Robert Menasse

Don Juan de la Mancha

oder
Die Erziehung der Lust

Suhrkamp

1.

Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb, mich danach masturbierte und schließlich wünschte, dass ich sie – um es mit ihren Worten zu sagen – in den Arsch ficke. Es gebe dafür, also für die Kombination von Chili und Analverkehr, im Altgriechischen ein eigenes Verbum, sagte sie. In Wahrheit nicht für Analverkehr mit Chili, sondern mit Meerrettich, sie sagte: »Recte Meerrettich«, jedenfalls im Grunde für diese Technik. Sie sagte das altgriechische Verbum, sie schrie es, ich schrie auch, und wenn das, was ich schrie, ein Wort war, dann war es älter als Altgriechisch. Ich hatte Wasser in den Augen. Ich glaube nicht, dass ich in einem brennenden Haus größere Panik empfunden hätte.

Der Zölibat, das war leider wirklich mein Gedanke in diesem Moment, und ich sprach ihn dann auch aus, erspart zwei Arten von Erfahrung, die mit dem anderen Geschlecht unumgänglich sind: die Langeweile und den Schmerz, also das gleichsam auf das baldige Jenseits hoffende Keuchen in den Armen einer biederen oder aber, schlimmer noch, einer nicht biederen Frau. Ich sagte: Entweder hohe Minne oder gute Minne zum bösen Spiel.

»Du mit deinen Kalauern!«, sagte Christa, als ich ein Sitzbad mit einem Sud aus Salbei und Kamille vorbereitete.

Sie ging, ohne sich zu duschen. Sie war in Eile, musste zu ihrer Vorlesung. Sie war Dozentin für alte Sprachen. Ich saß in der Badewanne, fror und brannte. Nie wieder wollte ich mich in ihre Hände begeben, in die Hände einer Frau. Andererseits: Ich wusste nicht, was ich, abgesehen von dem, was ich tun musste, sonst tun sollte.

2.

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man kaum noch Sex hat, nur weil man keine Lust mehr auf Sex hat. Im Gegenteil: ich hatte nie ein so exzessives Sexualleben wie jetzt, wo Sex mich langweilt.

Das hat zwei Gründe: Erstens bin ich nicht mehr nervös. Warum sollte ich in einer Situation nervös sein, die mich langweilt? Die Nervosität beeinträchtigt die Virilität viel mehr, als die Langeweile es könnte. Die Nervosität im Bett ist menschlich, das gedankenlose Reagieren auf Reize aber ist tierisch. Der Zynismus wiederum ist menschlich. Deshalb steigt das Tier am Ende doch wieder als Mensch aus dem Bett. Zweitens aber ist die Lustlosigkeit zu wenig Grund, um an Sex desinteressiert zu werden. Im Gegenteil. Es gibt wahrscheinlich keinen Antrieb, der so gewaltig ist wie der, der in einem Mann zu glühen beginnt, wenn er die Lust verloren hat in einer Gesellschaft, die nicht einmal einen Liter Mineralwasser verkaufen kann, ohne diese Ware erotisch zu besetzen. Man kann zwar die Lust verlieren, aber man kann sie nicht vergessen. Lust ist überhaupt das Einzige, das man nicht vergessen kann. Wir wissen von Alzheimerpatienten, dass sie, völlig im Nebel ihrer Biographie versunken, spontane Erektionen bekommen. Der Trieb, die Lust zu spüren, ist bereits stärker geworden als der Trieb, sie zu befriedigen. Vielleicht liegt die Befriedigung nur darin: sie spüren zu können. Ich will sie endlich einmal so heftig, so gewaltig spüren, dass ich die Bedeutung, die sie für alle anderen hat, zumindest plausibel finden kann.

Hier ist ein Exkurs nötig. Es sind immer Exkurse nötig, daher also zunächst ein Exkurs über Exkurse: Liebessüchtige Menschen wissen, dass die absolute Mehrheit aller Tagesverrichtungen nichts mit Liebe zu tun hat, ihr nicht einmal in die Nähe kommt. Alltag, Leben überhaupt, stellt sich daher als eine unendliche Abfolge von Exkursen dar, die von der Liebe wegführen, von denen man aber hofft, dass sie sich letztlich als die einzig gangbaren Umwege herausstellen, die zur Liebe hinführen. Deshalb sind Liebessüchtige Spezialisten für Exkurse, für sie ist der Exkurs Form und Haltung des Lebens. Karrieristen sind auf Kurs, Liebende auf Exkurs.

Nun also der erste Exkurs: Als ich jung war, war das Glück alt. In der Werbung gab es nur Alte. Alle möglichen Formen des Glücks wurden von graumelierten oder weißhaarigen Männern in der Reife ihrer Jahre beglaubigt, saubere Wäsche, aromatische Kaffees, heiterer Alkoholismus – »Das ist einen Asbach Uralt wert!«, sagte im Fernsehen der Schnaps trinkende Opa, der so vorbildlich glücklich war. Wie weit entfernt mir als Kind damals das Glück erscheinen musste! Mir fehlten sehr viele Jahre, um Zutritt zum Glück zu bekommen. Als ich endlich vorrückte zur Möglichkeit, Teilhaber des Glücks zu sein, waren alle Glücklichen, die das Glücklichsein in der Werbung ausstellten, dreißig Jahre jünger. An der sauberen Wäsche erfreuten sich plötzlich Zwanzigjährige, die ihre Shirts in Fitness-Studios durchgeschwitzt hatten, selbst der Alkohol gehörte jetzt den Jungen, Studenten oder Friseurlehrlingen, die nach einem Schluck Bacardi-Rum sofort ausgelassen auf einem Palmenstrand tanzten. Wie weit zurückliegend und versäumt mir heute das Glück erscheinen muss! Es ist übertrieben, von Menschen meines Alters als von einer lost generation zu sprechen. Aber lost in commercials, das lässt sich objektiv nachweisen.

Es gab in unserer Lebenszeit keine andere Glücksversprechungsmaschine mehr, die so wirksam war wie die Werbung. Das Versprechen, Konsumverzicht zu üben, war seinerzeit keine Revanche dafür, dass wir in ihr nicht vorkamen, sondern nur der moralische Baldachin über der kargen Welt der Stipendien.

3.

Körperlich fühle ich mich älter, als ich bin. Seelisch aber bin ich unreifer, als ich in meinem Alter sein sollte. Dieser Satz ist Unsinn. Sagt Hannah. Ich müsste schon öfter so alt gewesen sein, wie ich heute bin, also Vergleichsmöglichkeiten haben, um meinen körperlichen und seelischen Zustand beurteilen zu können. Wahr an dem Satz ist nur, dass man sein Alter nie wie einen Maßanzug empfindet. Nie.

4.

Christa ist verheiratet. Eine Frau wie sie könnte nie von einem Mann wie mir verführt werden, wenn sie allein wäre und auf der Suche nach der großen Liebe. Aber ihr Bett ist gemacht – und daher offen für Quereinsteiger und Defizitberater. Sie liebt ihren Mann Georg. Es ist glaubwürdig, wenn sie das sagt. Und es geht ihnen bestens: keine Kinder, zwei gute Einkommen. Georg arbeitet in der Industriellenvereinigung. Ich glaube, er kann nicht einmal scheißen, ohne befriedigt festzustellen, dass seine Scheiße größer ist als die größte chinesische Scheiße. Wettbewerbsfähig. Er redet immerzu über den Wettbewerb. Vor allem mit China. Das sei die große Herausforderung des neuen Jahrtausends. Georg hat eine statistische Lebenserwartung von noch siebenundzwanzig Jahren, beruflich noch maximal dreizehn Jahre bis zur Alteisendeponie. Keine Kinder. Aber er redet über ein Jahrtausend. Ich misstraue sogenannten Entscheidungsträgern, die in Jahrtausenden denken. Es ist unerträglich. Es wäre unerheblich. Wir gehen essen – eine Gruppe von Freunden. Christa geht aufs Klo, eine Minute später gehe ich aufs Klo. Damen. Die Tür ist angelehnt. Christa sitzt auf der Klomuschel, ich stelle mich vor sie, sie nimmt meinen Schwanz in den Mund. Wie das klingt. Es gibt keine Worte, um diesen Irrsinn mit Würde zu beschreiben. Nur ganz kurz. Es ist kein Akt. Nur eine Szene. Sie macht drei Mal schlupp, und schon muss ich wieder einpacken. Es ging nicht um das Vergnügen, es zu tun, sondern um das Vergnügen, dann bei Tisch zu wissen, dass wir es getan haben. Christa grinst. Inzwischen reden Georg und die anderen über Wettbewerb. Christa geht zurück, eine Minute später ich. Sie würde Georg nie verlassen.

5.

Für das Glück, das man nicht hat, gibt es viele Metaphern. Zum Beispiel Trauben. Wir hatten heute keinen Aufmacher. Natürlich haben wir immer genug geschobene Artikel, die jederzeit als Aufmacher herhalten können, aber Franz fand keine der Möglichkeiten geil. Er blies daher eine kurze Agenturmeldung auf, die davon berichtete, dass Traubenkerne besonders potente »Radikalenfänger« seien. Das habe eine neue amerikanische Studie herausgefunden. Sogenannte Freie Radikale – Franz googelte und erklärte, was das ist: »Moleküle, denen ein Elektron fehlt und die sich dieses Teil gewaltsam von einem anderen Molekül holen, das es aber selbst noch gebraucht hätte« – führen zu vorzeitigem Altern und verkürzen daher die Lebenserwartung. Da das Zigarettenrauchen eine regelrechte Explosion Freier Radikaler im Organismus auslöse, sollten vor allem starke Raucher viel Trauben essen, deren Kerne sich als die besten Antioxidantien herausgestellt hätten. Die Kerne! Man solle sie daher nicht ausspucken, sondern schlucken. Diesen Artikel illustrierte Franz mit dem Archivfoto einer Trauben essenden Bikinischönheit. Anders als Franz nehme ich das Zeitungmachen nicht mehr ernst. Auch wenn ich manchmal sogar glaube, was wir schreiben. Ich schickte Traude, meine Sekretärin, in den nächsten Supermarkt um Trauben, rauchte und beantwortete einige E-Mails. Die Trauben, die Traude schließlich brachte und gewaschen in einer Schüssel auf meinen Tisch stellte, waren kernlos.

Das Ressort der Zeitung, für das ich verantwortlich bin, heißt »Leben«.

6.

Ich schreibe kaum noch. Ich gebe im Ressort die Richtung vor. Aber die wäre auch vorgegeben, wenn ich nicht einmal mehr nickte. Manchmal redigiere ich Artikel. Dabei muss ich allerdings äußerst vorsichtig sein. Denn jeder Versuch, aus schlechtem Deutsch etwas weniger schlechtes Deutsch zu machen, oder gar aus einer Phrase einen Satz, löst bei den Mitarbeitern Aggressionen aus: Sie halten gutes Deutsch für schlechten Journalismus. Franz zum Beispiel liebt diese blöden »gibt-sich-Sätze«. Er hält sie für Stil. Auf jedes wörtliche Zitat folgt nicht ein »sagte er« oder »sagte sie«, sondern ein »gibt sich« plus Name plus Adverb. »›Die neue Anti-Aging-Gesichtscreme von Revlon ist die erste mit wissenschaftlich nachweisbarem Effekt‹, gibt sich Revlon-Presse-Lady Agnes Schönborn überzeugt.« Oder »›Die Therme Obertuschl setzt neue Maßstäbe im Wellness-Tourismus‹, gibt sich Kurdirektor Unterpointner euphorisch.« Ich lese das und gebe mich zufrieden. Zumal ich jetzt doch wieder selbst zu schreiben begonnen habe.

Schreiben Sie, Nathan!, hat Hannah, also Frau Dr. Singer, meine Therapeutin, gesagt, schreiben Sie alles auf! Eine Reportage über die Reise, die Sie zu diesem Punkt gebracht hat, dass Sie keine Lust empfinden. Damit können wir dann arbeiten!

Eine Autobiographie?

Nein. Eine Reportage. Das können Sie. Stellen Sie sich vor, Sie müssen eine Reportage über die Schengen-Grenze schreiben, ein Leben an der Grenze. Tote Hose. Leben hart am Niemandsland. Wohlgeordnet, aber doch irgendwie bedroht. Weil das andere so nahe ist. Soldaten mit Nachtsichtgeräten patrouillieren mit scharfen Hunden, die darauf trainiert sind, Fremde zu wittern, die da eindringen wollen. Und jetzt ersetzen Sie Schengen durch Lust. Diese Reportage will ich von Ihnen lesen, Nathan!

Das hat alles sehr früh begonnen – aber ich möchte jetzt wirklich nicht meine Kindheit durcharbeiten. Ich will mein Alter in den Griff bekommen!

Nathan, wir arbeiten nicht klassisch nach Freud. Aber jede Geschichte hat einen Anfang, Mittelteil und Schluss. Habe ich Kindheit gesagt? Nein! Und nach dem Schluss kommt der Ausweg.

Ich muss also einen Schluss finden?

Die Grenze, vor der Sie stehen. Wie sind Sie dahin gekommen? Wie ist das Leben an der Grenze?

Eigentümlicherweise vertraute ich Frau Dr. Singer. Ich dachte, sie passte zu mir. Weil ich sie für eine Scharlatanin hielt. Weil die psychoanalytischen Begriffe, die sie verwendete, mich an New Yorker Cocktailpartys erinnerten. Und weil sie dick und herrisch war. Sie war wie meine Mutter. Mehr noch: Sie war der Inbegriff einer jüdischen Mamme. Hannah sah aus wie eine Mamme, redete wie eine Mamme, aber im radikalen Gegensatz zu einer Mamme versuchte sie nicht, mir Schuldgefühle einzuimpfen, sondern im Gegenteil, sie mir zu nehmen. Ich erzählte ihr von meinen Affären wie ein kleiner Junge, der seiner Mutter beichtet, dass er etwas angestellt habe.

Ich fühle mich schlecht, Hannah. Ich bin ein verheirateter Mann. Glücklich verheiratet! Warum bin ich so unglücklich, wo ich doch glücklich verheiratet bin? Warum tue ich das?

Unsere Aufgabe ist es nicht, Ihre Ehe zu retten, sondern Ihre Lust zu rekonstruieren. Was Sie an Ihrer Frau haben, wissen Sie. Aber was Sie nicht haben, können Sie nur bei anderen suchen. Das ist eine Frage der Logik und nicht der Moral!

Natürlich hatte ich auch Zweifel an ihrer Kompetenz. So wie sie aussah, gab es keine Chance auf Übertragung – in dem Sinn, dass ich mich in sie verliebte.

7.

Ich würde nie einem Verein beitreten, sagte ich zu Hannah. Mit einer Ausnahme: wenn es einen Verein gäbe für Freie Radikale!

Bitte, Nathan, hören Sie auf mit Ihren Kalauern!

8.

Warum kann ich nicht genießen? Mein Vater hat es sich immer vorbildlich gutgehen lassen. Wenn er die Wahl hatte zwischen Vergnügen oder Korrektheit, hat er nie Entscheidungsschwäche gezeigt. Nicht dass er bestechlich war, es war lediglich so, dass er gerne nahm. Was das Leben zu bieten hatte. Er sah das nicht so eng, weil er Enge verabscheute. Er genoss die Gesellschaft, über die er als Gesellschaftsreporter berichten musste, so sehr, dass er, wie die Prominenten, kein Privatleben mehr hatte, sondern nur noch den privaten Genuss all der Möglichkeiten, die das Leben für jene bereithielt, die in der Öffentlichkeit standen. Er nahm ehrlich Anteil an den Privilegien der glücklichen wenigen, das heißt, er nahm seinen Anteil von den besten Champagnern, dem exquisiten Essen und karrieregeilen Starlets. Er lud seine Familie, soweit sie ihm überhaupt noch namentlich bekannt war, also mich, in der Ferienzeit zu Gratisurlauben in Luxushotels ein, die einem ehemaligen Schiweltmeister oder einem alternden Supermodel gehörten, ließ sich hofieren von jenen, die nach einem Werbeeffekt gierten, und sonnte sich in deren Ruhm. Ich war als Schüler in all meinen Ferien nicht ein einziges Mal in Jesolo gewesen, so wie meine Mitschüler, aber ich kannte das Hotel de Paris in Monte Carlo.

Werden wir Geld ausgeben in einer nebbichen Pensione in Jesolo, wenn wir gratis das Fürstenzimmer im Hotel de Paris haben können?, sagte Vater. Was heißt, das macht hier keinen Spaß? Manchmal glaube ich, du bist gemütskrank!

Er konnte genießen. Und ich musste inzwischen »brav sein«, das heißt ruhig irgendwo sitzen, bis er »mit der Arbeit fertig war«, also mit dem Mitfeiern. Und wenn er einmal nicht darüber schrieb, über das Hotel und die illustren Gäste, dann war es für die Gastgeber eben eine Investition in die Zukunft. Und damit hatten sie recht. Vater war treu. In diesem Sinn. Wenn die Gesellschaft etwas von ihm brauchte, dann konnte sie sich auf ihn verlassen, schließlich brauchte er sie auch. Der Inbegriff von Menschlichkeit war für ihn ein Millionär, dessen Selbstsucht sich in Großzügigkeit gegenüber Vater erwies. So ein sympathischer Herr, ein Gentleman, sagte Vater, seltsam, dass er jetzt gerade von den Schmierblättern so angegriffen wird, als wäre er ein Monster! Das hatte für Vater nur mit Neid zu tun und natürlich mit Politik. Politik verabscheute er. Das war, wie alles, für ihn bloße Repräsentation, nur weniger lustig. Er las nicht einmal den Politikteil der Zeitung, für die er schrieb. Er wählte die Partei, deren Politik-Darsteller versprachen, die Steuern nicht zu erhöhen, überhaupt alles so zu lassen, wie es war. Und er bemühte sich ehrlich und redlich, das Image seiner Gentlemen zu verbessern. Außer, ein Gentleman wurde Objekt der Gerichtsseiten, da schwieg er und war »menschlich enttäuscht«.

Das erste Mal. Ist es das Alter, Hannah, dass ich in letzter Zeit immer wieder an erste Male denke? Es geschah in den Osterferien. Ich war zwölf. Vater hatte mich für drei Tage nach Kitzbühel mitgenommen, weil er zu einer Prominentenhochzeit eingeladen war. Es war der dritte Abend, der letzte, den ich für einige Zeit mit meinem Vater haben sollte. Wir residierten so wie die Festgesellschaft im Hotel Tennerhof. Fünf Sterne!, sagte Vater.

Der Himmel hat mehr. Ich wollte mich nur noch auflösen und in der Atmosphäre zerstäuben. Aber ich war so bleischwer. Ich hatte mein Lieblingsessen bekommen, ein Wiener Schnitzel, allerdings durfte ich nicht im Speisesaal am Tisch meines Vaters sitzen, sondern bekam mein Fünf-Sterne-Schnitzel im »Stüberl«. Dann saß ich im Kaminzimmer und las den Roman, den Vater mir für die Ferien geschenkt hatte: »Oliver Twist«, in einer illustrierten und gekürzten »Jugendausgabe«. Wie alles in meiner Kindheit waren auch die Romane, die ich bekam, zurechtgestutzt. Ich sah immer wieder auf, fühlte mich überfordert von der Souveränität, mit der sich Gentlemen und Ladies bewegten, Lebenslust demonstrierten und manchmal neugierige Blicke auf mich warfen, wer wohl das Kind sein mochte, das um zehn Uhr abends im Kaminzimmer saß und las. Ich hatte Angst, mich zu bewegen. Keine falsche Bewegung! Ich wollte zu meinem Vater, nein, ich wollte meinen Vater. Wenigstens einen dieser drei Abende, den letzten, ich wollte von ihm wahrgenommen werden, mit ihm reden, so »erwachsen«, wie er es mir abverlangte zu sein, wenn ich allein im »Stüberl« oder im Kaminzimmer sitzen sollte. Ich begab mich auf die Suche, das Buch vor meiner Brust. Ich fand Vater in der überfüllten und vom Festlärm vibrierenden Hotelbar. Er stand an der Theke, mit einem Glas in der Hand, sprach mit einer Frau. Er sagte etwas, die Frau lachte auf. Er war ein sehr gut aussehender Mann, attraktiver als die berühmten Männer, über die er schrieb. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging zu ihm hin. Papa!

Er war irritiert.

Ich habe noch zu tun!, sagte er. Siehst du nicht?

Die Frau sah lächelnd auf mich hinunter. Sie hatte unglaublich lange Wimpern. Ich war beeindruckt. Ich wusste damals nicht, dass man Wimpern aufkleben konnte. Eine Frau mit solchen Wimpern, dachte ich, ist etwas Besonderes. Ich schämte mich bereits dafür, dass ich Vater gestört hatte.

Du bist schon so groß, sagte er, du kannst, wenn du müde bist, doch allein schlafen gehen!

Das Beispiel, das er mir gab, war aber ein anderes. Er war groß und wollte nie alleine schlafen gehen.

Die Frau lächelte mich an. Nicht mütterlich. Warum auch. Sie war ja nicht meine Mutter. Ich war schon so groß. Ich lief weg, wusste, dass mein Vater sich jetzt für mich genierte. Weil ich nicht so selbstsicher und gewandt war wie er. Weil ich rot geworden war. Und schwitzte. Ich lief in mein Zimmer. Ging ins Bett.

Ich haderte mit meinem Vater. Noch mehr bewunderte ich ihn. Das schaffe ich nie, dachte ich. Es war in dieser Nacht das erste Mal, dass ich im Gedanken an eine Frau an mir herumdrückte und rieb. Ich dachte an eine bestimmte, eine leibhaftige Frau: an sie, die Frau an der Seite meines Vaters. Ihre kleinen festen Brüste, wie die Bäuche von Vögeln, die aus dem Nest gefallen waren. Ihre langen Wimpern, wie schwarze Schmetterlinge. Ein trauriges Paradies. Und ich würgte die Schlange.

9.

Sie sind heute so heiter, Nathan!, sagte Hannah. Verliebt?

Nein, sagte ich. Wir haben am Samstag den Aufmacher »Liebe über Internet«. Ich habe das Kontakt-Portal eHarmony getestet und 436 Fragen zu meiner Persönlichkeit beantwortet – um dann zu erfahren, dass es unter den neun Millionen Mitgliedern niemand gibt, der zu mir passt. Und zwar nicht nur in meiner Stadt oder meinem Land, sondern in der ganzen Welt.

10.

Mein Vater war ein ungeduldiger Mann. Er ertrug es nicht zu warten. Er drängte sich vor und sagte, wenn einer protestierte: sich so aufzuregen sei nicht »die feine englische Art«.

Ich bekam nicht viel Zuwendung von meinem Vater, nicht mehr als ein chronisch Kranker von seinem Arzt: Die meiste Zeit verbringt man im Wartezimmer, geduldig wartend auf einen Mann, der keine Zeit hat.

Ein Mensch kann vom Verhalten seines Vorbilds geprägt werden oder von den Situationen, in die ihn sein Vorbild bringt. Mein Vater hat vorbildlich genossen, und ich musste so lange warten. So habe ich, ausgerechnet von ihm, das Warten gelernt.

Irgendwann – dachte ich, oder hoffte ich, oder glaube ich, dass ich damals dachte –, irgendwann werde ich der Nächste sein. Die Tür wird aufgehen, und ich bin dran.

»Da setz dich her und warte auf mich. Du darfst in der ersten Reihe sitzen. Ich bin bald zurück! Es dauert nicht lange!«

Ja, Papa.

»Bleib da sitzen, bis ich zurück bin. Erste Reihe! Toll, oder? Du gehst nicht weg, bis ich zurück bin, ja? Du wirst sehen, es ist lustig! Sie proben hier ein Kabarett!«

Ja. Was ist Kaba- ?

Ein Keller. Es war ein heißer Nachmitag in grellem Gegenlicht. Ich war, meinem Vater nachlaufend, ins Schwitzen gekommen. Hier im Keller war es dunkel, und der Schweiß wurde kalt. Im Licht der Bühne stand ein Mann, der Witze machte, die ich nicht verstand, aber da waren einige Menschen, die immer wieder lachten. Dann redeten andere, dann wurde gesungen. Manchmal war der Mann unzufrieden, und die anderen mussten noch einmal dasselbe sagen. Sie waren alle so unheimlich lustig. Aber ich verstand nicht, was so lustig war. Ich verstand nur den Mann, der immer so unzufrieden war und wollte, dass die anderen ihr Lustig-Sein wiederholten. Er schrie. Er tobte. Dann sprach er mit einem dicken Mann auf der Bühne, der offenbar ziemlich dumm war. Aber damit war er zufrieden. Plötzlich standen drei Frauen unmittelbar vor mir, zwischen der ersten Reihe und der Bühne. Sie beachteten das Kind nicht, das da saß und das jetzt nicht mehr die Bühne sah, sondern ihre Pobacken. In Augenhöhe. Ihre Beine. Die Frauen hatten enge schwarze Trikots an und Netzstrumpfhosen. Sie standen vor mir und warteten. Der Mann sagte etwas, alle lachten. Vater hatte ja gesagt, dass das lustig sei. Aber ich verstand den Witz nicht. Die Frauen standen vor mir und warteten, flüsterten miteinander. Ich starrte auf ihre Pobacken, ihre Beine im Netz. Ich dachte – nichts. Ich war noch zu jung, um Erregung mit einem Gedanken zu verbinden. Da war erst der Samen eines Gedankens, der später zu keimen begann und schließlich wucherte.

Vater kam zurück. Und jetzt waren es vier Frauen in Netzstrümpfen.

Komm, wir gehen, sagte er. Er fragte mich nicht, ob ich es lustig gefunden habe.

Na endlich! Wo warst du so lange?, sagte ich zu Christa. Ich hatte über eine Stunde auf sie gewartet, in der Bar des Hotels »Zur Spinne«, in dem wir uns verabredet hatten.

Ich habe noch schnell Netzstrümpfe gekauft, sagte sie. Hast du dir doch gewünscht. Schau mal!

Ich nickte. Ich hatte viel zu viel getrunken, während des Wartens.

11.

Mein Vater hatte einen Freund namens Silber – von Vater genannt Die Mine. Moritz Silber war in jungen Jahren österreichischer Meister im Tennis gewesen. Weiter hatte ihn sein Talent nicht getragen. Aber immerhin. Danach verdiente er ein Vermögen als Generalimporteur von Dunlop-Tennisbällen. Er war der Erste in Österreich, der die gelben Tennisbälle hatte. Bis dahin hatte es nur die weißen gegeben, von Slazenger, die schwerer waren und deshalb von ehrgeizigen Hobbyspielern, die fürchteten, einen Tennisarm zu bekommen, nun abgelehnt wurden. Waren sie wirklich schwerer? Es hatte in der Zeitung gestanden. Vater?

Auf jeden Fall waren die gelben Bälle schicker. Da kam ich wieder einmal in Konflikt mit den Weltenläuften. Ich fand, Tennisbälle mussten weiß sein, genauso wie die Trikots der Spieler. So ist es immer gewesen. Der weiße Sport. Aber die gelben Bälle traten einen unaufhaltsamen Siegeszug an, und es waren die Alten, die sie vorzogen. Die viel Jüngeren nahmen hin, was sie bekamen. Für sie waren die gelben Bälle von Anfang an einfach da und normal. Dazwischen ich. Allein in Opposition. Ich wollte, dass die Welt noch eine Zeit lang so blieb, wie ich sie kennengelernt hatte. Nur die Väter sollten irgendwann, bald, abtreten. Aber sonst sollte die Welt bleiben, wie ich sie kannte. Wie sollte ich sonst in ihr die Herrschaft übernehmen, wenn ständig alles anders wurde?

Exkurs: Abertausende Menschen beschäftigen sich weltweit mit allen Aspekten der Kindheit. Sie schreiben Bücher, sie analysieren und therapieren. Aber noch hat kein Einziger das grundlegende Problem erkannt: dass Kindheit eine Sackgasse ist. Das Kind lernt nichts anderes, als ein Kind zu sein. Es lernt konservativ, ein braves Kind zu sein, oder es lernt progressiv, ein freies Kind zu sein, ein entfesseltes Kind. Aber ein Kind. Plötzlich ist es erwachsen. Biologisch. Aber im Kopf? Ein Kind. Seelisch? Ein Zwitter. Die ganze Kindheit ist eine Ausbildung zum perfekten Kindsein, am Ende der Kindheit wird man aus dieser Ausbildung entlassen und soll, als ausgebildetes Kind, kein Kind mehr sein. Das ist, als würde man nach Jahren des Fußballtrainings die Lizenz zum Bobfahren bekommen. Und runter den Eiskanal. Ich habe Angst! Warum? Du bist doch erwachsen?

Ich misstraue allen Menschen, bei denen man sich nicht mehr vorstellen kann, dass sie einst Kinder gewesen sind. Ich misstraue also fast allen. Am allermeisten Männern mit Bart. Bärte sind Affenmasken auf Kindergesichtern.

Silber. Er redete ununterbrochen. Er heißt ja nicht Gold, sagte Vater. Man konnte Silber nichts vormachen. Er scheffelte ein Vermögen und damit beglaubigte er, dass er die Welt verstand und beherrschte. Er hatte einen Sohn in meinem Alter. Ich durfte an den Samstagen, an denen ich bei Vater war, mit Silber junior spielen. Heute darfst du wieder mit Gregor spielen, sagte mein Vater, wenn er mich abholte. Aber es spielten nur die Väter. Karten. Die Silbers hatten ein englisches Kindermädchen, da waren die Kinder unter Aufsicht. Das Kindermädchen beaufsichtigte einen privaten Tennislehrer, der dem verwöhnten, x-beinigen Unternehmersohn auf dem privaten Tennisplatz mechanisch gelbe Bälle zuspielte, die ich einsammeln durfte. Dann duschen. Ich war völlig verschwitzt, Gregor nicht im Mindesten. Wie angewurzelt stehend, hatte er die Bälle, die der Lehrer ihm zugeworfen hatte, in alle Richtungen weggeschlagen. Ich war hin und her gelaufen, um sie einzusammeln.

Als er schon Schamhaare bekam und ich noch nicht, nannte er mich verächtlich »Bubi«. Er fand es völlig normal, dass er aufgrund all seiner Privilegien auch das Privileg der Frühreife hatte.

Nach dem Duschen wurden wir von Miss Summerled wieder zu den Vätern gebracht. Sie spielten ihre Kartenpartie zu Ende.

Ich fühlte mich gedemütigt, wegen der Schamhaare und überhaupt, aber zugleich begann ich Mitleid mit den Silbers zu empfinden. Mitleid, so stark wie Todesangst. Es hatte auch mit Tod zu tun. Das Kartenspielen am Samstag war das einzige regelmäßige Vergnügen, das sich Silber leistete. Sonst tat er nichts als Geld scheffeln, Geld vermehren. Dabei wurde er älter, krank, moribund, irgendwann würde er tot sein. Dann wird alles auf Gregor kommen, und dieser wird es weiter vermehren oder verlieren. Aber was wird bleiben vom Leben dieser Menschen? Nicht einmal ein nach ihnen benannter Tennisball. Die Tennisbälle hießen bereits Slazenger oder Dunlop. Mich erfasste eine ungeheure Beklommenheit. Das Leben, dachte ich, ist erst vollständig und erfüllt, wenn es auch ein Nachleben produziert. Das hatten selbst hochvermögende Welterklärer und -beherrscher wie Silber nicht bedacht. Sie lebten wie in einer Gelddruckerei, das Geld war ihres – aber auf den Scheinen waren andere abgebildet. Ich wollte lieber der sein, der auf einem Geldschein abgebildet ist, als der, dem die Taschen vom Geld überquellen.

Mein Vater lachte auf. Er hatte gewonnen. Er gewann immer. Er konnte sich die Karten, die gefallen waren, merken wie Partygäste, die gegangen waren. Er hatte immer den Überblick, wer noch da war. Er wusste, wer in kürzester Zeit sehr wichtig sein würde. Es machte ihm Spaß, die Mine auszubeuten. Silber schrieb einen Scheck. Plötzlich liebte ich meinen Vater. Für ihn war das Kartenspiel am Samstag nicht das einzige Vergnügen, sondern bloß ein Vergnügen am Samstag. Er wollte immer nur sein Vergnügen. Und er schien es auch genießen zu können. Er war ja immer vergnügt. Außer er war mit mir allein. Plötzlich verstand ich, dass das kein Vergnügen sein konnte für einen Mann wie ihn. Mit mir, das war kein Honiglecken, mit meinen Ängsten, mit meiner Schwermut. Aber: in der Schule hatte ich damals gerade von den alten Griechen gelernt. Nun empfand ich Vaters Vergnügungssucht mit all ihrem Desinteresse an den Beschwernissen des Lebens als moderne Variante des Stoizismus: So konnte man das Leben zum Tod gelassen ertragen. Und: Er hatte mich gezeugt, der, anders als die Silbers, wusste, dass es am Ende darum ging, etwas zu hinterlassen, das blieb. Nicht in der Familie. Welche Familie? Sondern in der Welt. Ich hatte an diesem Nachmittag die Verantwortung für das Nachleben übernommen. Die Todesangst verschwebte. Aber leichtlebiger machte mich das nicht.

12.

Wissen Sie, was seltsam ist, Hannah? Manchmal frage ich mich, ob das, was ich Ihnen erzähle oder was ich für Sie aufschreibe, jemanden interessiert. Ich meine, Sie bezahle ich ja dafür, aber würde das irgendjemand anderen interessieren? Warum wünsche ich mir, dass es interessant ist? Ist das nicht ein Kleinbürgersyndrom, zu glauben, dass alles irgendwie exemplarisch ist, was man ist und wie man ist und warum man so ist? Dass es sich »so gehört«, also selbst im Scheitern ganz typisch ist?

Was mich interessiert, sagte Hannah, ist, ob Sie auch eine Mutter haben. Oder hat Ihr Vater ganz allein Sie als Bube auf den Kartentisch gewixt?

13.

Mein Vater ist völlig unwichtig. In dem Sinn, dass er sich in meinem Leben nie wichtig gemacht hat. Er war höchstens durch seine Abwesenheit wichtig. Mit achtzehn, zwölf Jahre nachdem Vater von zu Hause ausgezogen war, trennte ich mich von meiner Mutter, zog in eine eigene kleine Wohnung, die so billig war, dass mein Vater bereit war, die Miete zu bezahlen. Es war eine Souterrainwohnung in der Marxergasse im dritten Bezirk, von Familie und Freunden bald nur noch »Marxer Keller« genannt. Als Vater diese Wohnung sah – er begleitete mich zur Unterzeichnung des Mietvertrags –, sagte er: »Ja, die ist bestens.« Das hieß: Er stimmte zu, dass man wohl keine bessere Wohnung für den Betrag bekommen würde, den er bereit war zu zahlen. Dann saßen wir allein an einem Küchentisch mit Resopalplatte, über dem Kopf meines Vaters ein kleines Fenster, durch das ich ab und zu die Waden oder Hosenbeine von Passantinnen und Passanten sah, und Vater holte eine Flasche Billig-Sekt (»Söhnlein«) aus seiner Aktentasche, die er entkorkte, um mit mir von Mann zu Mann meine Unabhängigkeit zu feiern. Wir tranken den lauwarmen Sekt aus zwei Kaffeehäferln mit den Aufschriften »Ich« und »Du«, die der Vormieter zurückgelassen hatte. Vater war »Ich«. Er sagte: Er wünsche mir, dass ich glücklich werde, aber glücklich werden könne jeder nur nach seiner eigenen Fasson. Deshalb werde er sich nie in mein Leben einmischen. Drei Regeln allerdings, die in Hinblick auf ein glückliches Leben vielleicht universal seien, wolle er mir nun aber auf den Weg mitgeben. Ich könne sie beherzigen, ich könne sie in den Wind schlagen, aber einmal, ein einziges Mal wolle er sie gesagt haben.

Er sah auf die Uhr. Ich hatte den Eindruck, dass er es schon bereute, gleich drei Regeln angekündigt zu haben, weil er es schon wieder eilig hatte. Ich brauchte seine Regeln nicht, und ich wollte auch sein Geld nicht mehr. Es war so lächerlich. Sollte er doch gehen, wenn er ein besseres Programm hatte, als mit seinem Sohn warmen Schaum zu gurgeln, an diesem Tag, der für den Sohn historisch war. Er muss gespürt haben, was ich dachte, denn er zog blitzschnell die Manschette über seine Uhr, wischte mit zwei, drei schnellen Handbewegungen unsichtbare Staubfussel vom Ärmel seines Sakkos und sagte: Also, das ist klar, ich werde dich nie mit Ratschlägen oder Vorschriften bedrängen!

Während des weiteren Gesprächs sah er nie wieder auf die Uhr. Allerdings schaute er immer wieder so seltsam an mir vorbei.

Die erste Regel: Man kann nur mit der ersten Frau oder mit der letzten glücklich werden. Verstehst du?

Nein, sagte ich.

Irgendwann wirst du das verstehen. Zweite Regel – (eindeutig: er hatte es eilig) Wenn du ein Mädchen mit nach Hause nimmst – er blickte sich skeptisch um – und die Nacht mit ihr verbringst, dann mache ihr nie das Frühstück. Sonst machst du es, wenn du mit ihr zusammenbleibst, dein ganzes Leben lang. Verstanden?

Ja, sagte ich und dachte: Ich werde immer das Frühstück machen. Ganz liebevoll. Für jede, die mich liebt.

Dritte Regel: Wenn zwei sich lieben, dann lieben sie sich auch in einer Steinzeithöhle. Verstanden?

Ja, sagte ich. Das war wirklich leicht zu verstehen: Wenn ein Mädchen es hier nicht aushält, dann hält sie es mit dir nicht aus – komme also nie und verlange mehr Geld für eine bessere Wohnung. Das hatte er gemeint.

Er sah wieder an mir vorbei, dann stand er auf.

Sind die Wände feucht?, fragte er, drückte eine Handfläche an die Wand, von der sofort ein Stück Anstrich, wenn nicht gar Verputz herunterfiel. Nein, sagte er, man muss nur einmal ordentlich heizen, klar! Dann ist es bestens!

Erst nachdem Vater gegangen war, fiel mir auf, dass an der Wand, die ich während unseres Gesprächs im Rücken gehabt hatte, eine Küchenuhr hing.

Diese Wohnung ist feucht, sagte meine Mutter, die zwei Stunden später Nachschau halten kam. Wie konntest du dieses feuchte Loch mieten? Wie konnte dein Vater das zulassen?

Nein, sagte ich trotzig, man muss nur einmal ordentlich heizen.

Mutter brachte Geschirr und Besteck, Bettwäsche, sogar den Schaukelstuhl, um den wir zu Hause immer gekämpft hatten – was heißt »zu Hause«? Der Marxer Keller war nun mein Zuhause! Um den wir jedenfalls immer gekämpft hatten, solange ich noch bei Mutter wohnte.

Den hast du doch so gern, sagte sie.

Sie wischte die Küchenschränke aus, räumte das Geschirr ein, überzog das Bett, kaufte im nächsten Supermarkt Grundnahrungsmittel, schwatzte ununterbrochen: Alles wird immer teurer, wie wirst du dir das allein leisten können? Oder: So ein feuchtes Loch! Du wirst noch Rheuma bekommen!

Vater wollte, dass ich glücklich werde. Aber Mutter musste mir immer alles madig machen.

Die nächsten Tage verbrachte ich hauptsächlich mit Heizen und Schaukeln.

Dann lernte ich Helga kennen.

14.

Helga war ein altmodisches Mädchen. Das gefiel mir. Es sollte erst später ein Problem werden. Zunächst war es ein Vorteil. Ich musste nicht lässig und erfahren tun, und ich musste nicht unausgesetzt irgendwie witzig sein, nur damit kein peinliches Schweigen aufkam. Sicherheit gab uns, dass wir beide so unsicher waren, und Schweigen ging jederzeit als romantische Gestimmtheit durch. Junge Liebespaare und alte Ehepaare schweigen. Es hatte alles seine Richtigkeit. Wir torkelten vor Liebessehnsucht wie Bambi, lebten in animiertem Pathos wie Susi und Strolch.

Ich hatte sie nach einer Vorlesung angesprochen. Sie hatte rote Haare und wie viele Rothaarige eine sehr weiße Haut. Das gefiel mir nicht unbedingt, sie würde nie in die Sonne gehen können. Sie hatte traurige Augen, einen geradezu starren Blick. Das mochte ich auch nicht, ich wollte doch lernen, leichtlebig zu sein. Aber mein Gedanke war: Sie wird mich nicht demütigen.

Exkurs: Ich hatte damals, nach einem demütigenden Erlebnis, bereits über ein Jahr lang kein Mädchen mehr angesprochen. Es war in meinem letzten Schuljahr, als meine Mutter sich Sorgen zu machen begann, weil ich jeden Abend zu Hause im Schaukelstuhl saß, und nicht, wie andere in meinem Alter, ausgehen wollte. Hast du ein Mädchen?, fragte sie mich. Nein, sagte ich. Wie auch?, sagte sie. Hör zu! Heute abend gehört der Schaukelstuhl mir, ich schau mir im Fernsehen das neue Kabarettprogramm von Farkas an, und du gehst in eine Diskothek. Ein Junge in deinem Alter, der dauernd zu Hause herumsitzt, das ist doch nicht normal.

Max (ein Schulfreund von mir) darf nie in eine Disko gehen, sagte ich, er hat einen Riesenstreit mit seinen Eltern, weil sie ihn nicht weglassen.

Er will wenigstens. Und du darfst! Bis Mitternacht. Dann bist du verlässlich wieder zu Hause.

Sie steckte mir einen Geldschein zu.

Aber, sagte ich, wohin soll ich gehen? Ich kenne doch keine Disco!

Alle jungen Leute rennen jetzt in dieses Voom Voom, sagte sie, nahm ein Telefonbuch, suchte die Adresse heraus, erklärte mir, wie ich hinkomme.

Ja, sagte ich, Max hat vom Voom Voom erzählt.

Ich dachte, er darf nicht.

Er geht heimlich. Er sagt zu Hause, dass er bei einem Freund Mathe lernt und gleich dort übernachtet.

Mich musst du nicht anlügen. Du gehst jetzt ins Voom Voom. Und wehe, du belügst mich!

Auf dem Weg in die Disco dachte ich, dass Mutter wahrscheinlich recht hatte. Ich sollte wirklich endlich lernen – was? Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Ich dachte das tatsächlich so bürokratisch. Man könnte auch sagen: professionell. Als müsste ich, wie Vater, einen Artikel schreiben über das am meisten angesagte Tanzlokal der Stadt. Und dabei ein bisschen erotischen oder sexuellen Genuss mitnehmen.