S1.tif

Foto: Jürgen Bauer

Robert Menasse

Die Zerstörung der Welt
als Wille und Vorstellung

Frankfurter
Poetikvorlesungen

Suhrkamp

Inhalt

I
Die Welt, in der ich schreibe

II
Die unbeschriebene Welt

III
Glaube, Terror – Friede?

IV
Plädoyer für die Gewalt

V
Die Rettung des Menschen durch die Zerstörung der Welt

I
Die Welt, in der ich schreibe

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich muß Ihnen vorab etwas gestehen:

Ich bin ein Hochstapler.

Ich habe zugesagt, eine Poetikvorlesung zu halten, aber ich kann das gar nicht.

Einen Dichter einzuladen, eine Poetikvorlesung zu halten, ist etwa so sinnvoll, wie einen Kannibalen als Ernährungsberater zu engagieren. Am Ende nagt er an Ihren Knochen, in diesem Fall an den Resten Ihres geistigen Stützapparats. Jeder Dichter glaubt, sehr gute Gründe dafür zu haben, warum er so schreibt, wie er schreibt, und natürlich hat er ein Interesse daran (bzw. kein gegenläufiges Interesse), daß diese Gründe als vernünftige oder gar eherne ästhetische Gesetze anerkannt werden – als Gesetze einer Literaturgeschichte, die folgerichtig zu ihm geführt hat und sich in ihm vollendet. Aber glauben Sie mir: diese Gründe sind nie gut. Weniger als das – sie sind Unsinn.

Jede Poetik hat grundsätzlich eine fixe Idee: sie will normativ werden. Als normatives Regelwerk der Literatur hebelt sie allerdings einen wesentlichen Daseinsgrund der Literatur aus, nämlich das Neue, das Innovative – literatursoziologisch gesagt: die Möglichkeit, uns in unserer Zeitgenossenschaft beschreiben zu können. Also sind Poetiken grundsätzlich Unsinn. Entwickelt nun ein Dichter seine eigene Poetik, dann wird es noch grotesker, denn dann hat diese Poetik überhaupt nur ein einziges gelungenes Beispiel, nämlich das Werk dieses Dichters selbst. Könnte er nämlich die Werke anderer Dichter als gelungene Beispiele seiner literarischen Regeln anerkennen, hätte er sich seines eigenen wesentlichen Daseinsgrunds beraubt, nämlich des Anspruchs, das zu schreiben, was nur er schreiben kann.

Aus gutem Grund sind daher schon die längste Zeit Poetiken nicht mehr ernst genommen worden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Anerkennung einer Poetik Massenarbeitslosigkeit zur Folge hätte: Wovon sollten Literaturverlage, germanistische Institute, Feuilleton-Redaktionen leben, wenn nur noch einige tote und ein lebender Dichter dem Literaturbegriff einer Poetik entsprechen? Deutschland zum Beispiel ist durch die Arbeitslosigkeit als Folge geistloser Politik gestraft genug, um so mehr müssen wir uns vor einer geistreichen Poetik schützen.

In Wahrheit sind ja die sogenannten »guten Gründe« bloß Sinnzuschreibungsversuche für Lebenszufälle. Es verhält sich mit unserer Liebe zur Literatur und unserem Umgang mit ihr im Grunde nicht anders als mit der Liebe überhaupt. Wir lernen immer wieder zufällig Menschen kennen, in die wir uns verlieben, machen manchmal bessere, manchmal schlechtere, manchmal erschütternde Erfahrungen, die wieder neue Sehnsüchte auslösen und zugleich schon präjudizieren, und schließlich haben wir eine Reihe von Marotten und eingeübte Verhaltensstörungen und glauben, so muß es wohl sein. Genauso lesen wir im Lauf unseres Lebens Bücher – auf die wir zufällig stoßen. Auf manche treffen wir in einem glücklichen, in einem stimmigen Moment, auf manche zur falschen Zeit, mit manchen machen wir also gute Erfahrungen, von anderen trennen wir uns sehr schnell. Doch während noch kein Liebhaber jemals auf den Gedanken gekommen ist, in einer bestimmten Tradition zu lieben, gibt es seltsamerweise viele Dichter, die nach ihren Leseerfahrungen allen Ernstes glauben, in einer bestimmten Tradition zu dichten.

Was Sie in diesen Poetik-Vorlesungen also auf keinen Fall bekommen, ist eine Poetik. Was also soll ich Ihnen erzählen?

Ich brauche Petersilie! Unmengen von Petersilie! Ich kann nicht schreiben, wenn nicht überall in der Wohnung Gläser mit Petersilienbüscheln herumstehen. Allerdings: die krausblättrige oder auch so genannte Zierpetersilie funktioniert überhaupt nicht – allerhöchstens als Placebo, wenn es keine andere gibt. Ich brauche die glattblättrige, hier aber auch nur die Blatt-, und nicht die Wurzelpetersilie. Ich laufe auf und ab, weil ich einfach nicht sitzen kann, wenn ich nicht schreiben kann, und knabbere Petersilie. Dann setze ich mich wieder hin und schreibe zwei Sätze. Dann lesen Sie, wenn Sie es denn tun, ein Buch von mir – und wissen nicht, daß es ein Stoffwechselprodukt von exzessivem Petersilienkonsum ist!

Wollen Sie das wissen? Müssen Sie das wissen? Oder: daß ich nur in der Unterhose schreiben kann? Ich muß mir beim Schreiben alles vom Leib halten, so buchstäblich, daß ich auch Bekleidung nicht ertrage. Ich laufe also in der Unterhose herum und esse Petersilie.

Verbessern solche Informationen Ihre Zugangsmöglichkeiten zur Literatur? Nicht einmal zu meiner! Was Sie also auch nicht bekommen werden, ist ein sogenannter »Werkstattbericht«. Hüten Sie sich vor jedem Werkstattberichterstatter, vor allem, wenn er abwechselnd an seiner Petersilie und an Ihren Knochen nagt.

Was kann, was will ich Ihnen also vortragen?

Es gibt eine einzige Prämisse der Literaturtheorie, die als Prämisse standhält, also vernünftige Fragen aufwirft, aber selbst nicht mehr hinterfragt werden kann: Das ist die Behauptung, daß alle Literatur – wohlgemerkt: ich spreche von aller Literatur und nicht von allem, was sich so nennt –, daß also alle Literatur ein jeweils in Form und Inhalt gültiger und bleibender Ausdruck der Zeit ist, in der sie entstand. Und wenn das so ist, dann ist es meines Erachtens vernünftiger, sich dies in seiner Arbeit als Dichter bewußtzumachen, diesen Anspruch nach Möglichkeit bewußt zu erfüllen. Aus zwei simplen Gründen: Erstens ist es doch ein wenig menschenangemessener, ein Reflexionsniveau für sich zu beanspruchen, das höher ist als das einer Seidenraupe, die ihre Seide spinnt. Und zweitens weiß man dann wenigstens, woran man scheitert, wenn man den literarischen Erfolg oder die literarische Wirksamkeit nicht für eine Art von Lotto hält, bei der Hunderte oder gar Tausende Seiten noch immer nicht sechs Richtige gebracht haben.

Wenn wir uns darauf einigen können, dann müssen wir davon allerdings konsequent einen weiteren Anspruch ableiten: Wenn nämlich Dichtung Verdichtung ihrer Zeit ist, dann muß, wenn sie selbst darüber Bewußtsein zu erlangen beansprucht, diese Dichtung in irgendeiner Form auch Intervention sein, eine Art von Trotz gegen die Zeit, von Nicht-Anerkennung der gegebenen gesellschaftlichen Lebensorganisation und ihrer Erscheinungsformen, also Reflexion im buchstäblichen Sinn: Zurück-Spiegeln, Zurückwerfen, und nicht stilles Wiedergeben – zumindest solange wir nicht wieder den Hintereingang zum Paradies gefunden haben. Literatur, und davon will ich Sie zu überzeugen versuchen, hat also mit dem Anspruch zu tun, nicht das Zeitliche zu segnen, sondern die Zeit auszudrücken, bis sie das Zeitliche segnet. Denn wenn ich nur Nicken will, warum soll ich mir die mühsame Arbeit antun, schreibend zu nicken?

Ich will also über unsere Zeit reden, als dem wahren und einzigen Gegen-Stand der Literatur, als dem Objekt und dem Material meiner Literatur, als dem pathetischen Feind meines bewußten Denkens und meiner sinnlich-literarischen Anstrengungen: Wenn mein Werk diese Zeit nicht töten kann, dann soll es sie wenigstens überleben.

Unsere Zeit. Unser Leben. Unsere Lebenszeit. Darüber will ich reden und so meinen literarischen Anspruch vielleicht erklären können. Ich werde über Gott und die Welt reden, mehr über die Welt als über Gott, und damit eine Rekonstrunktion der Begriffe Realismus und Engagement zu begründen versuchen, die sich, weil die Zeiten sich eben geändert haben, weitund weitergehend unterscheiden von den gleichlautenden Begriffen, die wir literaturtheoretisch geerbt haben.

Dazu muß ich allerdings, bevor ich Sie heillos enttäusche, frustriere oder entsetze, noch etwas vorausschicken: Ich werde Banalitäten sagen. Ich kenne das Geistesleben in Deutschland gut genug, um zu wissen, daß man für Banalitäten sehr rasch verhöhnt wird von Menschen, die nie darüber nachdenken, warum manche Banalitäten, so banal sie sind, noch immer nicht Gemeingut sind. Wären sie Gemeingut, hätten sie recht, aber auch nur dann, wenn sie Gemeingut nicht nur im Feuilleton oder in politischen Sonntagsreden sind, sondern auch in der gesellschaftlichen Praxis. Bis es soweit ist, ist manche Banalität immer noch kühn, ihre Verhöhnung aber dumm.

Ich werde auch Ungeheuerlichkeiten sagen, wissend, daß ich dafür bestraft, skandalisiert werden kann, ebendeshalb, weil es nicht Gemeingut, also banal ist. Und ich werde Dinge sagen, die schlecht formuliert sind, gespreizt oder dunkel klingen, allzu abstrakt, wissend, daß just dies einem Dichter nicht passieren dürfte: unklar zu formulieren. Ich werde es aber tun, wann immer ich es nicht besser, nicht klarer, nicht präziser weiß, also immer dann, wenn das Denken (noch) steckengeblieben ist, bevor es zur klaren Formulierung vorstoßen konnte, also zum Banalen oder zur Ungeheuerlichkeit. Ich tue es, weil ich davon überzeugt bin, daß eine unklare Formulierung, wenn sie eine Denkanstrengung ausdrückt, präziser ist als eine präzise Formulierung, die gedankenlos möglich ist. Und ich werde vielleicht einige Dinge sagen, die unerträglich kompromißlos klingen, während sie, etwas diplomatischer formuliert, auf größere Zustimmung stoßen könnten. Aber ich finde, daß in Anbetracht unserer durchschnittlichen Restlebenszeit diplomatisches Formulieren die achte Todsünde ist. In Wahrheit ist solch diplomatisches Verhalten, das die Wahrheit versteckt, statt sie so gut wie gerade möglich zu zeigen, nichts anderes als eine Technik, um aus Opfern zugleich Mittäter zu machen. Ein Beispiel, gerade jetzt durch den vieldiskutierten Film »Sophie Scholl – Die letzten Tage« aktuell: Sophie Scholl hätte sich, besser gesagt ihr Leben, durch Verstellung retten können. Ruth Klüger hat in einer Besprechung dieses Films geschrieben, daß sie plötzlich den Wunsch gehabt habe, Sophie Scholl möge mitmachen, ihr Leben retten, fast hätte sie es ihr zurufen wollen: »Sei nicht so konsequent! Wir brauchen dich noch!« – – Als wen oder was hätten »wir« sie noch brauchen können? Als eine, die gezeigt hat, daß sie sich ducken, doch mitmachen, irgendwie mitlaufen, sich durchschlängeln und -lügen kann? Als eine, die danach ihren Beitrag zum Wirtschaftswunder leistet, indem sie sich einen Volkswagenkäfer kauft? Gab es davon nicht ohnehin genug? Ruth Klüger hat ihre Erfahrungen, und sie wiegen sicherlich schwerer als meine. Aber schwerere Erfahrungen sind nicht unbedingt wahrer. Tatsächlich war Ruth Klüger sowenig wie ich in einer Situation, die vergleichbar gewesen wäre mit der von Sophie Scholl. Tatsächlich war nicht die Kompromißlosigkeit von Sophie Scholl das Problem (auch nicht ihr Problem), sondern die Tatsache, daß sie mit ihrer Kompromißlosigkeit so alleine war. Hätte nur ein Prozent, ein läppisches Prozent der Bevölkerung diese Kompromißlosigkeit gezeigt, Sophie Scholl hätte wahrscheinlich überlebt – und dann auch leben können, und Tausende, wenn nicht Millionen andere hätten überlebt. So aber sind sie alle, die um ihre Jugend, um ihre Hoffnung, um ihr halbes Leben betrogen worden sind, sie alle, die Todesangst hatten in ihren Schützengräben oder Luftschutzkellern, die gehungert und gefroren haben, die in Gefangenenlagern Sklavenarbeit verrichten mußten usw. usw. – Täter geworden, Täter gewesen.

Was hat das mit Literatur zu tun? Davon später. Was ich vorausschicken wollte, damit zumindest diesbezüglich kein Mißverständnis aufkommt, ist: Ich werde Banalitäten sagen, ich werde Dinge sagen, die unsere Bequemlichkeit, unsere Harmoniesucht, unsere Kompromißbereitschaft, unsere Sehnsucht nach dem Schönen möglicherweise irritiert. Denn auch wenn wir dies alles auf Biegen oder Brechen haben wollen, es stimmt nicht, daß wir es nur verbogen oder gebrochen haben können. Gedanken sind frei, aber es ist eine Karikatur von Freiheit, wenn Gedanken nicht um unsere Befreiung, sondern nur noch um unsere Entlastung kreisen. Ich werde Unausgegorenes sagen und simpel Sehnsüchtiges. Was ich Ihnen also anbiete, ist ein Ei mit einer Schale aus Stein: Ich weiß, da drinnen ist das Leben – aber ich weiß auch: wir werden noch sehr lange darüber brüten müssen – kurz: ich werde über das Leben sprechen, wie es ist: immer noch ein inneres Zucken, ein noch uneingelöstes Versprechen.

Jeder Mensch hat sein Schicksal. Sie nicken? Das ist der erste Skandal.

»Schicksal« ist ein voraufklärerischer Begriff. Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Absolutismus, das waren Schicksalsgemeinschaften. Schon bei der Geburt eines Menschen war sein Schicksal besiegelt. Die Aufklärung begann mit zwei Feuerwerken auf diesem dunklen Firmament der Menschheitsgeschichte: mit der Entwicklung einer philosophischen Ethik, die an die Stelle des Schicksals die Vernunft setzte und schließlich zu den Menschenrechten führte, und mit der systematischen Religionskritik, die das Menschengemachte in die Hände der Menschen zurücklegte. Als Gott schließlich unbewiesen in seinem Blute schwamm, war auch das Schicksal tot, eines natürlichen Todes gestorben. Seither lebte der Anspruch, wenn auch oftmals nur dem Anschein nach, daß dem Glücksstreben jedes Einzelnen sich Wege erschließen ließen. Daß er nicht hinnehmen müsse, was ihm bestimmt sei. Daß jederzeit Alternativen aufgetan werden könnten. Das wurde überhaupt die geistige Grundlage der Moderne: das Denken in Alternativen.

Der stärkste Rückschlag in der Geschichte der Moderne, die erste große Transformation von deren Möglichkeiten und Ansprüchen in ihr Gegenteil, die radikalste Restauration von Schicksalsmacht und die Transformation von Aufklärung in Propaganda, war der Nationalsozialismus. Kein Wunder, daß »Schicksal« zu einem der meistverwendeten Begriffe in der NS-Rhetorik wurde. Das Schicksal dieses blinden Schicksalsglaubens ist bekannt. Die Konsequenzen, die daraus gezogen wurden, ebenfalls: Dies sollte nie wieder geschehen dürfen!

Dennoch: ein halbes Jahrhundert später geistert es wieder herum, das Schicksal, geweckt von dem Getöse, das wir für den Lärm der Weltgeschichte halten und das doch nichts anderes ist als das Echo von längst Vergangenem. Denn: der Satz, daß die Zukunft auch nicht mehr ist, was sie einmal war, etwas Lichtvolles, etwas Erstrebenswertes, ist genauso richtig wie das Gegenteil: Die Zukunft ist, was einmal war. Nicht befreiend, sondern befreit von den Lehren, die schon einmal gezogen waren.

Heute gilt es als pragmatisch, eine »Entwicklung« (wer macht sie denn?) mitzumachen, ihre Anforderungen umzusetzen, in ihr seinen Platz zu behaupten, nicht weil sie vernünftig ist, sondern nur weil diese Entwicklung als unaufhaltsam gilt. Als Führungsmacht, als wegweisend, gilt nicht der weitestentwickelte Sozialstaat, nicht der Kontinent der sich vereinigenden Wohlfahrtsstaaten, sondern die Nation mit den höchstentwickelten Waffensystemen. Diese Rückkehr in die Vorkriegsordnung wird als »Ende der Nachkriegsordnung« gefeiert. Allein diese Formulierung, nach all den Erfahrungen aus den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts, nach all den Erfolgen auf Grund der Lehren, die schließlich daraus gezogen waren, zeigt, wie die Selbstreflexion in Europa wieder geistig zur Lüge, moralisch zur Heuchelei wurde und wie Pragmatismus nichts anderes mehr ist als blanke Willfährigkeit. Es muß gespart werden – sagen die Reichsten. Das Wachstum muß angekurbelt werden – durch Kürzungen. Der »Standort« muß gesichert werden – durch dessen Verelendung als Lebensort. Die Menschen sollen glücklich sein – indem sie größerem Arbeitsdruck und -leid zustimmen.

Was hier stattfindet, ist die profitable Produktion von Dummheit mit technischer Intelligenz als Mittel. Die Erinnerung ist aus den Köpfen der Menschen abgewandert in die Festplatte, von der jederzeit Sonntagsreden mit dem Titel »Niemals vergessen!« runtergeladen werden können, zu denen jeder gelangweilt nickt, der wieder alternativlos dem Schicksal ausgesetzt ist – so scheint es.

Jeder Mensch hat sein Schicksal. Das sagt sich so leicht. Doch unbedacht bleibt der Skandal, der heute in dieser Feststellung liegt. Wer auf seinem Lebensweg vor Gabelungen, Kreuzungen und erst recht vor dem Dreiweg die Möglichkeit und die Fähigkeit hat, sich zu entscheiden, welchen Weg er gehen will, dessen Leben ist eben nicht schicksals-, sondern selbstbestimmt. Schicksal, das ist das Leben zum Tod, ohne Alternativen. Solange einer, der »Ich« sagt, auch Entscheidungen treffen kann, solange hat er nicht ein »Schicksal«, sondern einfach ein Leben.

Schicksal – das ist unerheblich, solange freie Entscheidungen nicht mit Freiheitsentzug, aufrechter Gang nicht mit Beugehaft, die Demonstration von Lebensvorstellungen nicht mit dem Tod bestraft werden. Die Befürchtung, durch eine Entscheidung aber Einkommen, Ansehen und Einfluß einzubüßen, macht das, was man glaubt tun zu müssen, um Einkommen, Einfluß und Ansehen zu erhalten, nicht schicksalshaft. Wer »Ich kann nicht anders« sagt, obwohl er nicht nur anders könnte, sondern anders müßte, hat nicht sein eigenes Schicksal bezeichnet, sondern allzuoft das Schicksal anderer besiegelt. Wer ins Gas gehen mußte, hatte ein Schicksal, wer zur Arbeit geht, hat keines.

»Ich kann nicht anders« – dieser Satz hat eine je eigene Bedeutung im Munde Luthers oder Eichmanns.

Schicksal ist grundsätzlich alternativlos, während die Bedingungen unseres Lebens und unserer Arbeit lediglich in ihrer Freiheit mehr oder weniger eingeschränkt sind. Dieser Unterschied läßt einen kleinen, aber ausreichenden Raum für Entscheidungen, die nur, solange wir sie nicht selbstbestimmt treffen, schicksalshaft für uns getroffen werden.

Der emphatische Anspruch der Aufklärung war es ja zunächst nicht, das Schicksal der Menschen zu »verbessern«, sondern, sie von Schicksal zu befreien. Dies ist eigentümlicherweise heute vergessen, seit der Wiederaufbauzeit, als die Trümmer beseitigt, also auch die Trümmer der Aufklärung aufgeräumt wurden, und die Infrastruktur wiederhergestellt, also auch die Ideen der Aufklärung restauriert, nämlich zum Unterrichtsgegenstand wurden, wie das Neolithikum, die Punischen Kriege oder die Renaissance. Und seither hatte auch die Aufklärung einen Makel – sie, die Kriegserklärung gegen die Schicksalshaftigkeit des Lebens, sie hatte nach dem Krieg selbst ein Schicksal – eine Geschichte, die sie nicht wollte, eine Niederlage, die sie nicht abwehren konnte, eine Befreiung, die nur eine Befreiung von den Bedingungen ihrer Notwendigkeit war, aber nicht ihre Befreiung. Immer wieder, ja regelmäßig ist in der Geschichte etwas anders gekommen, als von Menschen geplant. Aber zum ersten Mal in der Geschichte ist es anders gekommen, als Menschen dachten, daß es von der Geschichte selbst geplant war. Deshalb war die Befreiung vom Nazi-Terror nichts anderes als dies: die Befreiung vom Nazi-Terror.

Nach dieser Befreiung waren daher – gegen allen Anschein – die Bedingungen für Freiheit und Selbstbestimmung schlechter als je zuvor: nicht nur theoretisch, wegen des Makels, der nun dem Geist anhaftete, sondern auch praktisch, weil allen nun schon alles als absolute Freiheit erschien, was nicht von absolutem Terror begleitet war.