Über Detlev Meyer

Detlev Meyer wurde 1950 in Berlin geboren, studierte Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Berlin und Cleveland, Ohio; war Bibliothekar in Toronto und Entwicklungshelfer in Jamaika. Er lebte als freier Journalist und Autor in Berlin, wo er am 30. 10. 1999 starb. Meyer war PEN-Mitglied und erhielt zahlreiche Literaturstipendien. Werke (Auswahl): »Im Dampfbad greift nach mir ein Engel« (Roman, 1985); »David steigt aufs Riesenrad« (Roman, 1987); »Ein letzter Dank den Leichtathleten« (Roman, 1989); »Biographie der Bestürzung« (Drei Romane in einem Band, 1997); »Stehen Männer an den Grachten« (Gedichte, 1990); »Heiße Herzen (zus. mit Ralf König, 1990); »In meiner Seele ist schon Herbst. Eine Gymnasiastenliebe« (Roman, 1995); »Die PC-Hure und der Sultan« (Geschichten, 1996)

Matthias Frings, 1953 in Aachen geboren, war Journalist und Fernsehmoderator und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er studierte Anglistik, Germanistik und Linguistik. In den 80er Jahren veröffentlichte er mehrere erfolgreiche Sachbücher, darunter »Liebesdinge. Bemerkungen zur Sexualität des Mannes.« Ab 1986 arbeitete er als Radiomoderator beim SFB. Von 1993 an war er Redaktionsleiter und Fernsehproduzent. Bekannt wurde er als Moderator der Sendung »Liebe Sünde«.

Informationen zum Buch

Das Abschiedsbuch vom »Nachfahr Tucholskys« (Die Welt) und »Virtuosen des Leichtsinns« (Die Zeit)

Dieser kleine Roman über die Kindheit und das Glück schildert den Kosmos eines neunjährigen Jungen um das Jahr 1960. Carsten Scholze, das Alter ego des Autors, ist ein aufgewecktes Kind mit ausgeprägtem schauspielerischem Talent, das bei den Nachbarn vom Truseweg bis zum Neuköllner Schiffahrtskanal gleichermaßen beliebt ist – ein »Sonnenkind« eben. Gehätschelt von den Eltern, von Großmutter und Tanten und selbst vom großen Bruder, ist seine wichtigste Bezugsperson der Großvater Max Wollin. Der alternde Lebemann, der in seiner ehemaligen Sekretärin, einer »ramponierten Blondine«, seit mehr als dreißig Jahren eine offizielle Zweitgattin hat, nimmt den Enkel mit auf seine Ausflüge in die feine Welt des Café Kranzler.

Mit den Augen des Jungen erleben wir traurige und komische Schicksale, die zeigen, daß das Leben im Truseweg die ganze Spannweite menschlicher Erfahrung ausmißt. In der kleinen Welt dieses Sträßchens wird geliebt, gehaßt und gestorben – genau wie in der großen. Detlev Meyer hat ein federleichtes Buch geschrieben, bezaubernd und wehmütig, wie nur er es konnte. In seinen letzten Lebensmonaten hat er sich an das Kind erinnert, das er einmal war, um der intensivsten Momente des Glücks und der Geborgenheit zu gedenken. So ist »Das Sonnenkind« ein rührender Abgesang auf das Leben: Ohne daß auf den nahen Tod des Autors Bezug genommen wird, spürt der Leser, daß dieser heiter-melancholische Text für Meyer das war, was für den alten Max Wollin die letzte Liebesnacht mit seiner »zweiten Gattin« ist – seine Abschiedsvorstellung.

»Das Sonnenkind stapft staunend-verständig durch die Neuköllner Straßen, von allen geliebt, von den Großeltern verwöhnt – eine glückliche Wirtschaftswunder-Kindheit, wie viele sie erlebt haben: behütet und doch nicht allzu spießig, sorglos und doch nicht allzu langweilig, die Eltern liberal mit gelegentlichem Faible fürs Unkonventionelle.« Dirk Fuhrig, Frankfurter Rundschau

Mit einem Nachwort von Matthias Frings

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Matthias Frings – Das Sonnenkind tanzt jetzt auf den Sternen

Impressum

Leseprobe aus: Verena Boos – Kirchberg

Detlev Meyer

Das Sonnenkind

Roman

Mit einem Nachwort von Matthias Frings

Meinen Eltern

Daran hegt der Junge keinen Zweifel: Eines Tages, wenn er erwachsen ist, wird er alles wissen, was man wissen muss. Wie viele Berge es auf der Erde gibt, wie hoch die sind und wie sie heißen; die Länge der Flüsse und wo sie entspringen; die Hauptstädte aller Länder und alle Länder wird er nennen können; die Präsidenten und Bundeskanzler; Oma zur Freude die Könige und Kaiser und für Papa, wer in Bern die Tore geschossen und wann Toni Turek Geburtstag hat. Die Bücher in Opas Bibliothek, wer sie geschrieben hat, welche Titel sie haben und was drinsteht, das wird er sich alles merken. Schon jetzt ist es höchst erstaunlich, was er alles weiß und wie schön er redet für sein Alter. Das sagt die Großmutter, das sagen die Eltern, das gibt – ungern – selbst der große Bruder zu, und im ganzen Truseweg ist bekannt, dass Scholzes Jüngster ein kleines Genie ist. Das hat Frau Dallmann gesagt, die Gattin des Generalagenten für Spirituosen, oder wie Großvater es formuliert, die Frau vom Schnapsvertreter.

Letztens geht der Junge mit seinem Großvater, Max Wollin, spazieren, da treffen sie in der Innstraße beim Tabakladen Frau Dallmann. Den Großvater begrüßt sie mit den Worten: Oh, da kommt ja unser Grandseigneur! Mit solchen Huldigungen hinlänglich vertraut, enthält sich Max Wollin jeglicher Kommentierung der Dallmann’-schen Schmeichelei, jeglichen Dankes; er setzt nur sein gewinnendes Lächeln auf und sagt mit der Routine des alten Charmeurs: Welch eine Augenweide! Meine liebe Frau Dallmann, ich grüße Sie auf das herzlichste!

Der Junge ärgert sich, dass Großvater ihn unerwähnt lässt, drum sagt er laut und deutlich, einen Diener vorführend und ganz artig blickend: Ich grüße Sie auch, meine liebe Frau Dallmann, auf das allerherzlichste!

Die schlägt, fast erschrocken, die Hände vor der Brust zusammen und sagt, nein, ruft: Dieses Kind, dieses Wunderkind!

Der Junge ist es zufrieden: Sowohl ein Wunderkind als auch – gleichzeitig! – ein kleines Genie zu sein, dürfte äußerst selten vorkommen, derartige Kinder wird man nicht oft finden, und wenn, dann gewiss nicht in Berlin. Er hört nicht weiter zu, was die beiden bereden, er kennt das: Großvater macht seine Scherzchen, die Frauen lachen hell auf, erröten mitunter, legen ihre Hand auf Großvaters Oberarm, wispern ihm kleine Gewagtheiten ins Ohr, geraten gar in kokettes Backfischkichern. Das mag der Junge überhaupt nicht. Die sollen nicht so blöde kichern, das sind keine kleinen Mädchen mehr, dafür sind die viel zu alt. Kichern die!

Warum macht Opa das?, fragt sich Carsten. Und da er ein heller Kopf ist, kommt er blitzschnell auf die Antwort: Opa macht das, damit die Frauen auch ihm schöne Sachen sagen, die man übrigens Komplimente nennt.

Herr Wollin, heißt es allenthalben, sei ein Gentleman, ein Mann von Welt, ein Kavalier, der letzte Kavalier, einer der alten Schule, ein Charmeur, ein Bonvivant und, seit neuestem, ein Grandseigneur.

Man überlege sich, all diese Wörter hat sich das Kind merken können, versteht, was sie bedeuten, spricht sie richtig aus. Grandseigneur, den Neuerwerb für seine Wörterschatzkammer, lässt er sich erklären. Das bedeutet großer Herr, sagt Wollin.

So wie Herr Funke?, fragt der Junge. Immerhin misst der Hauswart, auf einem Hoffest wurde das unter Zeugen genau überprüft, einen Meter neunzig und ist damit der größte Mann im Truseweg.

Nein, sagt Max Wollin, Herr Funke ist nicht groß, Herr Funke ist lang.

Aber du bist groß, Opa?

Nun, wenn Frau Dallmann das sagt, wird’s wohl stimmen.

Und groß? Groß ist was?

Schwierig, äußerst schwierig, das einem Kind zu erklären. Groß ist … besonders, ist … bedeutend.

Du bist besonders und bedeutend, Opa?

Wenn Frau Dallmann das sagt. Nein, Scherz beiseite, erzähl bloß nicht deinem Vater, dass ich mich als groß und bedeutend bezeichnet habe. Der denkt doch sowieso, dass ich langsam verkalke. Das behältst du für dich, Carsten!

Was, Opa? Carstens Aufmerksamkeit fesseln zwei Ameisen, die einen kleinen Zweig zu transportieren versuchen. Gott, Junge, das, worüber wir gerade reden!

Ach so.

Versprochen?

Versprochen, Opa!

Abends berichtet der Junge seinem Vater, kaum dass der die Wohnung betreten hat, was Opa nun auch noch ist: Grandseigneur. Vater schüttelt den Kopf: Wo hast du denn das wieder aufgeschnappt? Habt ihr Frau Dallmann getroffen?

Mensch, Papa, das sollte die Überraschung sein, du solltest doch raten, wen wir getroffen haben.

Georg Scholze nimmt den Jungen in den Arm und sagt: Und Grandseigneur hast du dir wieder gleich gemerkt, wie ich dich kenne.

Klar, Papa, das mach ich ja immer.

Vor einiger Zeit hatte die Großmutter im Kreise ihrer Damen, schlichtere Seelen würden sagen: beim Kaffeeklatsch, durchblicken lassen, ihr Max sei in seinen frühen Jahren ein Filou gewesen. Jeder wisse das, und vor dem Kind wolle sie das nicht näher ausführen. Wieder erstattete Carsten umgehend Bericht: Opa war früher ein Filou, Papa.

PG war er auch … früher, dein feiner Herr Großvater, sagt Georg Scholze, aber darüber wird im Hause Wollin ungern gesprochen.

Eine Erklärung dieses komischen Wortes folgt nicht. Der Vater sagt, so etwas könne ein kleiner Junge noch nicht verstehen. Und im Übrigen möge Carsten das für sich behalten. Kein Wort über PG. Versprochen?

Ich schwöre, Papa!

Mein Gott, denkt der Junge abends im Bett, was man sich alles merken musss. Grandseigneur darf man sagen, PG darf man nicht sagen. Hoffentlich bringe ich das nicht durcheinander. Quatsch, sagt er laut, ich doch nicht! Andere Kinder vielleicht.

Und dann denkt er noch, dass er schon wieder mehr weiß als gestern. Vielleicht muss er gar nicht warten, bis er erwachsen ist, vielleicht weiß er schon als großer Junge alles. Die Städte und Länder, die Flüsse und die Präsidenten.

Es wäre ein Leichtes gewesen, herauszufinden, ob die Großmutter der 1890 geborenen Else Gellert, verheiratete Wollin, tatsächlich eine Comtesse von Veltheim war. Schließlich hätte man nicht zeit- und geldaufwendige genealogische Exkursionen unternehmen müssen, die zu klären in der Lage gewesen wären, ob das Haus Greifenclau zum Beispiel erstmals im 11. Jahrhundert und nicht erst im darauffolgenden urkundlich erwähnt worden war.

Nein, im Falle Gellert/Veltheim hätte man nur zwei, drei Einwohnermeldeämter aufsuchen müssen, um eindeutig zu klären: Else ist tatsächlich eine Veltheim, der allein wegen des leichtfertigen Naturells ihrer Großmutter der schöne Titel und der nicht minder schöne Besitz versagt geblieben waren. Natürlich gibt es in Else Gellerts Geschichte einen feschen Gutsverwalter mit keckem Bärtchen und feurigen Augen – ein Hallodri –, der die zur Leidenschaft entfachte Comtesse umgarnt und schließlich besessen hatte, im Heu, wie das so üblich war, in einer jener schwülen Sommernächte, die selbst die verknöchertsten Junker und keuschesten Stiftsdamen das Blut in den Adern spüren ließen. Niemand machte also dem aufblühenden Comtesschen den Vorwurf, bewusst und willentlich gegen ihren Stand und dessen Konventionen verstoßen zu haben. Sie war nur einer übermächtigen Natur gefolgt, hatte lediglich im Sinnentaumel die Sehnsucht ihres Herzens und Leibes gestillt.

Die Frage, ob sie ihre liebestolle Großmutter gekannt habe, lässt Else Gellert offen. Frag lieber nicht, pflegt sie mit einem Ausdruck mühevoll gezähmten Schmerzes zu antworten, wobei ihr Blick in eine düstere Ferne schweift, in der ein verlaustes Asyl oder Armenhaus steht, letzte Zuflucht einer gewissen Frederieke Karwunke, geborene von Veltheim, Endstation einer Verlorenen und Verstoßenen.

Elses Herkunftsgeschichte wird von der Familie akzeptiert, aus Liebe, aus Respekt und, das gilt für Elses Mann, Max Wollin, weil sie Teil einer stillen Abmachung ist, die beide verpflichtet, die Geschichten des Partners nicht allzu penibel auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, sie so stehenzulassen, wie sie erzählt werden. Aus diesem Grunde ist auch das Fräulein Reeskow offiziell Großvaters ehemalige Sekretärin und mehr nicht! Und aus diesem Grunde kann sie im Hause Wollin verkehren, mit Else Tee trinken, mit Max heimliche Blicke tauschen und die naseweisen Enkel mit knallbunten Fondants bestechen. Die Jungen sind nämlich furchtbar neugierig und ganz und gar nicht begabt mit dieser Wollin’schen Diskretion. Nach ihren Besuchen bei den Großeltern erzählen sie der Mutter jedes Mal aufgeregt, dass Fräulein Reeskow den Großvater wieder so komisch angeschaut habe. Der älteste Sohn, Stephan, will wissen, was zwischen den beiden sei, wird aber von Elses Tochter mit einem knappen »Später mal« abgespeist.

Carsten liebt das Fräulein Reeskow sehr. Erstens hat sie lackierte Fingernägel, zweitens raucht sie Zigaretten in einer silbernen Spitze – Wer mag ihr die wohl geschenkt haben? –, und drittens hat sie die Angewohnheit, beim Kuchenessen ihre Fingerkuppen an die gespitzten Lippen zu führen, um die Krümelchen quasi wegzuküssen. Dabei werden dann jene berühmten Blicke getauscht.

Fräulein Reeskows Haar ist von einem Blond schwankender Intensität, das Carsten immer an Gold denken lässt. Er mag ihre hohen Stöckelschuhe und die kurzen Röcke ihrer ansonsten züchtigen Kostüme. Wie sie sich mit der beringten linken Hand durchs Haar streicht, gefällt ihm auch. Diese Geste übt er vor dem mütterlichen Frisierspiegel, er sagt dann jedes Mal mit spitzem Mund: »Mein lieber Herr Wollin, nein, wie köstlich!« (so werden Großvaters Bonmots kommentiert), und lacht, wie nur Fräulein Reeskow zu lachen versteht: perlend, laut Großvater; affektiert, laut Großmutter. Dass Fräulein Reeskow Linkshänderin ist, macht sie zu Carstens Verbündeter. Niemand darf ihn auffordern, auch einmal die rechte Hand zu benutzen. Er antwortet dann: Tut Fräulein Reeskow auch nicht, und die war Opas Sekretärin!

Das ist sie von 1925 bis zu Großvaters Pensionierung im Jahre 1945. Als Großvater mit vierunddreißig Abteilungsleiter in einem Versicherungsunternehmen wird, tritt sie in sein Berufsleben, wenig später in sein Privatleben und gehört zu diesen beiden Leben bis zu Großvaters letztem Atemzug. Vierzehn Jahre jünger als ihr Chef ist sie, in Stöckelschuhen zehn Zentimeter größer als dessen Gattin – und gewiss um einige Kilo leichter als die eher plump gebaute Else Wollin. Damals ist das Blond noch von echtem Glanz und verfehlt seine Wirkung auf den neuen Chef nicht. Haar wie Gold, denkt der und setzt an zum Seitensprung.

Unschöne Dinge geschehen: Der betrogenen Ehefrau werden anonyme Briefe geschickt, in denen steht, ihr Mann habe seiner Sekretärin für teures Geld ein Schlafzimmer eingerichtet, in dem ständig Ehebruch betrieben werde. Er halte dieses Flittchen aus, behänge sie mit Schmuck und verschließe in der Mittagspause die Tür zu Vorzimmer und Büro. Was dort dann ablaufe, könne sich selbst eine ehrbare Frau wie Else Wollin gewiss denken.

Zu ihrer Freundin sagt sie: Als wüsste ich das nicht schon längst. So etwas spürt eine Frau. Da braucht ihr niemand anonyme Briefe zu schicken.

Lässt du dich jetzt scheiden?, fragt Berta Barbe.

Nein, Berta, Max weiß ganz genau, wo er hingehört. Der kommt immer wieder zurück. Sein Fräulein Reeskow ist nur gut für gewisse Stunden, falls du verstehst, was ich andeuten will.

Das nenne ich Tenue!, sagt beeindruckt die Barbe. Ja, wie’s drinnen aussieht, geht niemand etwas an, nicht wahr?

Else Wollin strafft sich: In der Tat geht das niemanden etwas an!

Was für eine starke Frau du bist! Berta Barbe nimmt ihre Freundin in den Arm, und dann vergießen die beiden Damen ein paar Tränen, was bekanntlich guttut.

Wie ich diese Person verachte!, schluchzt Else Wollin. Wie ich sie verachte!

Die Intensität dieser Verachtung nimmt ab mit den Jahren, aber selbst die Enkelsöhne spüren sie noch in Elses Blicken und Bemerkungen.

Niemand versteht, dass Max Wollins Geliebte behutsam in die Familie integriert wird, dass sie zum Tee kommt, mit der Tochter in den Zoo geht, sie zu Schneider und Friseur begleitet, wenn Else Wollin sich dazu nicht aufraffen mag und vorgibt, unpässlich zu sein.

Die hat relativ schnell erkannt, dass ein Ehemann mit schlechtem Gewissen ein sehr aufmerksamer und großzügiger Ehemann ist, einer, der das Recht verwirkt hat, seiner Frau Vorwürfe zu machen oder Ratschläge zu erteilen. So bleibt zum Beispiel Elses Launenhaftigkeit unkommentiert, weil halt immer die Gefahr besteht, von der Gattin zu hören, sie sei keineswegs launisch, sondern zutiefst verletzt – und dass sie wegen der Reeskow vor Freude auf dem Tisch tanze, werde Max ja wohl nicht erwarten. Nach zwei, drei Jahren sieht Else Wollin die Vorzüge der Liaison: Max, der Filou, treibt sich nicht mehr herum und trinkt weniger. Es gibt keine anderen Frauen, keine anderen Affären. Wenn Max abends spät nicht zu Hause ist, weiß Else, wo sie ihn finden könnte. Fast mit Bewunderung denkt sie an Fräulein Reeskow: Die hat’s verstanden! Diese kleine Sekretärin wird er nicht mehr los. Der ist er in die Falle gegangen, und da gibt’s kein Entrinnen mehr. Wenn Max die verlässt, hat er eine Klage am Hals. Die Reeskow lässt sich nicht abservieren, wie die anderen. Die kommt aus einer Juristenfamilie, lauter Anwälte und Richter.

Warum hat die Reeskow dennoch diesen Schlag ins Billige? Das haben wohl alle Kokotten, denkt Else, froh über die Gelegenheit, eines ihrer Lieblingswörter benutzen zu können: Kokotte. Das kommt noch vor spinöse Person, Schickse und Dämchen.

Fräulein Reeskow ist sehr vornehm, stimmt’s, Oma?, fragt eines Nachmittags Carsten.

Nein, sagt Else Wollin unwirsch. Die ist affektiert und kokett. Im Übrigen rauchen vornehme Frauen nicht in der Öffentlichkeit und rennen nicht mit rotlackierten Fingernägeln herum.

Das heißt natürlich, dass sie, die Großmutter, vornehm ist, was man bei der Abstammung auch nicht anders erwartet hätte. Noblesse oblige, um es mit ihren Worten zu sagen.

Elses Liebe zum Adel weist tragische Züge auf, weil sie unerwidert bleibt, weil der Liebenden selbst ein kleines, bescheidenes »von« vorenthalten wird und weil der großmütterliche Glanz sozusagen in der Gosse gelandet ist. Da strahlt nichts mehr, da wird niemand mehr geblendet, da ist nur der gesellschaftliche Abstieg, die Trunksucht des Hallodris Karwunke, der so geheißen haben mag oder auch nicht – falls es ihn denn überhaupt gegeben hat! Wollin, versucht sich Else einzureden, ist ein schöner Name, der auf die märkische Herkunft verweist und gut zu einer Berliner Bürgerfamilie passt, aber, grämt sie sich, von Wollin wäre bei weitem feiner – und passender.

Dass sie den Tennissport liebt, als Gottfried Baron von Cramm aktiv ist, versteht sich von selbst. Zu dem herrlichen Namen kommen ein schlanker, eleganter Körper, kraftvolle und anmutige Bewegungen und diese weißen, tadellos sitzenden Hosen, die der Herr Baron zu tragen pflegt und die noch nach Ende des Matches aussehen, als wären sie gerade vom Bügelbrett genommen. Else Wollin schwärmt von dem blaublütigen Tenniscrack, obwohl ihr Max zu verstehen gibt, dass gewisse Neigungen des Herrn von Cramm ihn immun machen gegen weibliches Schwärmen. Frau Wollin hält das für üble Nachrede, später dann, als sie von der Verhaftung Cramms erfährt, deutet sie dessen Neigungen als ein Zeichen adliger Dekadenz, die nun einmal der zu entrichtende Tribut für einen in den Tiefen des Mittelalters wurzelnden Stammbaum sei. Was Gottfried von Cramm auch tut, verkündet sie, er wird es mit Stil tun.

Womit du der Wahrheit sehr nahekommst, sagt Max süffisant.

Über die Heirat mit Barbara Hutton, dieser amerikanischen Dollarprinzessin, ärgert sie sich tagelang. Sieh es doch so, Elschen, sagt der Ehemann, jetzt ist er wenigstens versorgt. Dein weißer Prinz ist in die Jahre gekommen. Mit Tennis macht der kein Geld mehr.

Aber eine Amerikanerin, deren Großvater noch mit einem Bauchladen herumgezogen ist, das müsste nicht sein. In Deutschland gibt es auch reiche Frauen, und da ist altes Geld vorhanden.

Neues wird auch gern genommen, sagt Max, der wieder einmal bestätigt, dass seine Ironie zu Recht einen legendären Ruf genießt.

Ein Herr trägt stets und immer lange Unterhosen, auch im Hochsommer, erklärt Max Wollin seinem neunjährigen Enkel; der hatte sich nämlich darüber gewundert, als er dem Großvater beim Ankleiden zuschaute.

Diese kurzen Unterhosen sind Schlüpfer, wie sie kleine Mädchen tragen, Carsten. Schlüpfer sind das!

Der Junge ärgert sich, dass der Großvater damit zu verstehen gibt, Papa würde Mädchenschlüpfer tragen. Das erzähl ich zu Hause besser nicht, sonst gibt’s bloß wieder Ärger.

Carsten und Max Wollin haben vor, einen Ku’damm-Bummel zu machen, für den sie sich herausputzen. Seine Lieblingskniestrümpfe hat Carsten angezogen, die gelb, sehr gelb sind. Er hatte sie selber aussuchen dürfen. Sie passen gut zu dem beigefarbenen Hemd mit den braunen Karos und zu den braunen Halbschuhen.

Wohlgefällig ruht des Großvaters Auge auf dem Enkel.

Wer hat dich angezogen? Mama?

Mensch, Opa, ich zieh mich selber an, schon ewig!

Entschuldige, junger Mann, ich meinte: Wer hat die Kleidung ausgesucht?

Ich, Opa. Sieht schön aus, stimmt’s?

Doch, farblich ist das alles sehr geschmackvoll aufeinander abgestimmt.

Max Wollin ist froh, dass sein Enkel nicht in dieser kreischbunten Kleidung herumläuft, die Kinder immer wie Leierkastenaffen aussehen lässt. Auf seine Tochter kann er sich verlassen, die kauft ihren Söhnen keine bonbonfarbenen Hemden oder albernen Ringelsöckchen. Rieke hat Geschmack!

Den seinen beweist Max Tag für Tag. Zu jeder Gelegenheit ist er passend angezogen, dezent und elegant zugleich. Nichts Auffälliges ist an ihm, er ist ein Meister des Understatements, und doch sieht der ganze Truseweg, dass Herr Wollin der bestgekleidete Mann in dieser kleinen, gerade mal sechs Mietshäuser langen Straße ist. Was selbstverständlich nicht heißt, dass er nicht auch auf dem Ku’damm eine gute Figur machen würde.

Heute trägt er einen grauen Straßenanzug mit dunkelgrüner Weste, ein hellblaues Oberhemd, eine schwarz-grün gepunktete Krawatte, schwarze Halbschuhe, dunkelgrüne Kniestrümpfe in dem Farbton der Pochette.

Als Carsten vor einiger Zeit belehrt worden war, dass ein Herr niemals Socken trage, war er nach Hause gekommen und hatte der Mutter verkündet, nur noch Kniestrümpfe anzuziehen. Diese doofen Söckchen ziehe er nicht mehr an.

Nachdem er versprochen hatte, sich zu beruhigen, ging er mit der Mutter zu »Wäsche Schmidt« in der Anzengruberstraße. Abends zeigte er dem Vater stolz drei Paar Kniestrümpfe.

Die sind für sonntags, Carsten! Auf dem Spielplatz musst du die nicht tragen, sagt Georg Scholze.

Ja, Papa.

Dem schlauen Kind kam spontan der wunderbare Einfall, einfach seltener auf den Spielplatz zu gehen. Da sind sowieso nur die großen Jungs, die einen nie mitspielen lassen.

Großvater zieht einen Mantel über, einen Staubmantel, setzt einen Hut auf, einen Homburger, und greift nach dem Regenschirm.

Keine Handschuhe?, fragt enttäuscht der Junge.

Lieber nicht, die lass ich nur liegen, und dann meckert deine Großmutter wieder: »Die schönen, teuren Handschuhe, das zweite Paar in diesem Jahr, und wir haben erst August. Ein Vermögen gibt dieser Mann für Handschuhe aus. Das müsste mir passieren, was würde ich da zu hören kriegen!«

Der Junge freut sich, wenn Max Wollin seine Frau nachmacht, das findet er sehr lustig. Carsten übt sich auch in dieser Kunst. Gern macht er das Fräulein Reeskow nach, dieses »Mein lieber Herr Wollin …«, das sie großzügig in ihre Rede einbaut. Die Häufigkeit, mit der sie ihren Geliebten so anredet, soll Else signalisieren, dass die Form gewahrt bleibt. Kein vertrauliches Du im Truseweg 2. Auch nicht nach dreißig Jahren!

Carstens Vater meint, Fräulein Reeskow könne gar nicht wie ein normaler Mensch reden, jedenfalls nicht in Gegenwart ihres Ex-Chefs, da flöte sie und tiriliere wie eine Nachtigall. Die Frau ist doch keine zwanzig mehr!

Die ist auch keine fünfzig mehr, sagt Rieke – und Scholzes lachen. Der Junge hört das nicht gern, über sein schönes Fräulein Reeskow darf nicht gelacht werden. Schade, dass er den Eltern das nicht verbieten kann.

In der U-Bahn sucht sich Max Wollin einen Sitzplatz, der es ihm ermöglicht, sich in der Scheibe auf der anderen Seite des Ganges zu spiegeln. Der Junge ist dafür zu klein; wenn er sitzt, sieht er nur seine Haare. Er stellt sich zwischen die Oberschenkel des Großvaters und guckt sich neugierig an. Grimassen schneidet er auch, die allerfürchterlichsten, die man sich vorstellen kann. Selten bemerkt das der Großvater, der hat sich versenkt in sein Spiegelbild, so tief, dass er nichts mehr wahrnimmt.

Kein Wort wechseln die beiden. Nur wenn der Zug in die Bahnhöfe einläuft, ruft der Junge mit geschlossenen Augen laut die Stationen aus, um dann seinen Großvater leise zu fragen: Richtig?

Ja, sagt der, Spichernstraße ist richtig.

Max und Carsten nehmen auf der Terrasse des »Kranzler« Platz, schauen den Frauen und Autos nach, trinken Kaffee und Sinalco, unterhalten sich, lachen über die bayrischen Touristen mit den Bundhosen. Sie amüsieren sich prächtig. Kuchen und Eis spendiert der Großvater, sich gönnt er einen Cognac.

Ach, wissen Sie was, sagt er zu der Kellnerin, bringen Sie einen doppelten! Kein Wort zu Oma, verstanden?

Ich sag doch nie was, Opa. Das weißt du doch.

Der Cognac wird serviert in einem großen, bauchigen Glas. Carsten guckt sein Glas an, auf dem steht »Sinalco«. Ein richtiges Kinderglas.

Opa, ich möchte auch so ein Glas haben.

Einen Cognacschwenker? Daraus trinkt man keine Brause.

Warum denn nicht? Das sieht doch viel schöner aus.

Das sieht es in der Tat. Weißt du was, Carsten, ich glaube, du wirst einmal ein richtiger Dandy. Gut, ich ruf die Kellnerin.

Können Sie bitte meinem Enkelsohn einen Cognacschwenker bringen?

Die überarbeitete Kellnerin ist entsetzt: Einen Cognac? Für das Kind?

Gute Frau, keinen Cognac, nur ein Cognacglas.

Wofür denn? Er hat doch ein Glas.

Ja, ruft Carsten, aber ein doofes Sinalcoglas.

Die Kellnerin schüttelt mit dem Kopf: Kinder gibt es! Man glaubt es nicht.

Das haben Sie gut beobachtet, sagt Wollin und zwinkert seinem Enkel zu.

Die Kellnerin bringt einen Cognacschwenker: Recht so?

Das ist ganz reizend von Ihnen. Carsten, bedank dich bei der Dame.

Die sagt leise: Sie sollten das Kind nicht so verwöhnen.

Großvater sagt: Gibt es auch nur einen guten Grund, warum ich das nicht tun sollte?

Die Kellnerin bekommt später ein großzügiges Trinkgeld.

An den Nebentisch setzt sich eine junge blonde Frau.

Opa, guck mal, die sieht aus wie Fräulein Reeskow.

Großvater lacht: Schade, dass sie das nicht gehört hat. Damit hättest du ihr eine große Freude gemacht.

Warum?

Weil sie viel älter ist als die junge Frau.

Wie alt ist sie denn?

Das verrate ich nicht. Über das Alter von Frauen deckt man den Mantel des Schweigens.

Warum?

Weil Frauen furchtbar eitel und entsetzlich empfindlich sind.

Das ist wahr, Opa. Carsten schaut auf die junge blonde Frau und guckt dann seinen Großvater an: Magst du Fräulein Reeskow sehr?

Ja, sagt der, das könnte man so sagen.

Und Oma?

Nun, Oma mag sie auch.

Aber nicht immer, stimmt’s?

Stimmt.

Warum hat Fräulein Reeskow eigentlich keinen Mann?

Sie ist eine typische Junggesellin, die will gar keinen Ehemann.

Vielleicht will sie dich?

Max Wollin schaut auf seine Hände: Können wir bitte das Thema wechseln!

Klar, Opa. Ich erzähl dir einen Witz, ja? Hab ich von Stephan.

Du weißt, dass ich keine Witze mag. Lass uns gehen. Du solltest zu Hause sein, bevor dein Vater von der Arbeit kommt.

Das war ein schöner Nachmittag. Vielen Dank, Opa.

Es war mir ein Vergnügen, junger Herr.

In der U-Bahn wechseln sie wie immer kaum ein Wort.

Berta Barbe, die ohne jegliche Berechtigung ihren Nachnamen auf der zweiten Silbe betont – es gibt da keinen feinen, kleinen Accent, der elegant über dem E schwebte –, Berta Barbe ist Else Wollins beste und älteste Freudin. Wir kennen uns vom Lyzeum, verbreiten die beiden Damen, wenn man sie nach dem Beginn ihrer schönen Freundschaft fragt. Dass sie nur gemeinsam die Handelsschule besucht haben, ist allen bekannt, wird aber taktvoll verschwiegen. Einer alten Berliner Hugenottenfamilie entstammen weder Berta noch ihr Gatte, allein ihre Freundin Else von Veltheim ist jederzeit bereit, die gegenteilige Aussage zu bezeugen. In Bertas Adern fließe französisches Blut, behauptet sie.

Max Wollin pflegt darauf zu antworten: Das einzig Französische in dem Blut der Barbes war der Cognac in den Adern des Gatten.

Wahr ist, dass Wilhelm Barbe getrunken hat, heftig, maßlos, bis zur Leberzirrhose. Mit zweiundvierzig Jahren verstarb er, seiner Frau Berta zwei Kinder hinterlassend sowie einen Haufen Schulden, der zur Schließung der Posamentierhandlung führte, die von der Familie Barbe seit drei Generationen in der Nähe des Gendarmenmarktes betrieben worden war. Großvater fand es höchst unpassend, dass ein Mann Strumpfbänder und Nähgarn verkauft; er nannte Bertas Mann – selbstverständlich nie in dessen Gegenwart – »Pleureusen-Willi«, schätzte ihn aber wegen des passablen Cognacs, den er bei den Barbes vorgesetzt bekam. In den letzten zwei Jahren vor seinem Tod konnte sich Willi nur noch deutschen Weinbrand leisten; keinen Fusel, so arg war die finanzielle Situation noch nicht, aber Max schlug das »Gesöff« auf den Magen. Es spricht für seine Freundestreue, dass er die Besuche bei Pleureusen-Willi nicht abbrach.

Nach dessen Tod unterstützt er Berta, bis die eine Stelle bei Wertheim gefunden hat. Der Sohn folgt dem Vater bald nach, kränklich war er seit seiner Geburt. Die Tochter Friedel verschwindet wenige Monate nach Kriegsende mit einem älteren affektierten Mann, der vorgibt, Intendant der Stettiner Landesbühne gewesen zu sein. Dass es eine solche gegeben hat, bezweifelt Max Wollin. Der vorgebliche Prinzipal aus dem deutschen Osten lässt durchblicken, noch immer über die allerbesten Beziehungen zum Theater zu verfügen. Damit versteht er die zwanzigjährige Friedel zu ködern, sie ist nämlich Mitglied einer Laienspielgruppe. Selbstverständlich aber drängt es sie auf die Bühnen der großen Häuser, wo die Wimmer und die Gorvin Triumphe feiern. Ob sie noch lebt, wo und mit wem und in welcher Verfassung, ist nicht herauszubekommen, Berta Barbe hat mit Wollins Hilfe alles versucht. Die Polizei wurde aus Scham nie eingeschaltet.

Niemand lacht, wenn Berta sich mit »Barbé« vorstellt oder »À la bonne heure« und »Comme il faut« sagt. Alles sieht man ihr nach, der armen, armen Berta.

Liebreizend gibt sie sich, die kleine Person, die gerade mal einen Meter fünfundfünfzig misst und nicht mehr wiegt als ein Ballen Brüsseler Spitze. Zu ihrer Freundin sagt sie »Elschen« oder, was aus ihrem Mund komisch klingt, »ma petite«. Max Wollin ist »Mäxchen« oder »Mäxelchen« – letzterer Kosename bereitet ihm geradezu körperliche Qualen – und »mon chevalier«, womit er leben kann.

Gekleidet ist Berta abenteuerlich: Man hat den Eindruck, sie habe vor der Schließung der Posamentierhandlung noch einmal kräftig für den Eigenbedarf gesorgt. Eine andere Erklärung gibt es nicht für all die Rüschen, Spitzen, Schleifchen, Volants und Zierknöpfe, die großzügig auf ihren ursprünglich schlichten Kleidern verteilt sind, auf den wenigen Kleidern, die sie aber mit einem etwas ausgefallenen Gestaltungswillen und einer nonchalanten Kessheit immer wieder verändert und gewissermaßen umdekoriert. Wollin macht ihr stets die schönsten Komplimente, wenn sie zum Kaffeetrinken kommt. Berta, sagt er dann, très chic!

Er hat sie gern, »die kleene Kruke«, und er ist tatsächlich ihr Chevalier, ihr ritterlicher Beschützer. An seiner Brust weint sie sich aus, wenn sie von Friedel geträumt hat, wenn wieder einmal eine Spur der Tochter im Sande verlaufen ist, wenn sich die Jahrestage nähern.

Bertas Leben ist ein Courths-Mahler-Roman ohne glückliches Ende, denkt Wollin, da hat das Schicksal wirklich übertrieben. Mann: versoffen, Sohn: schwindsüchtig, Tochter: durchgebrannt und Berta: krumm vom Leid und dennoch tapfer.

Carsten spielt vor dem Haus; er malt Schiffe auf den Bürgersteig, Äppelkähne und Ausflugsdampfer, wie er sie vom Neuköllner Schifffahrtskanal kennt, der keine fünfzig Meter vom Truseweg entfernt vorbeifließt. Man muss nur an der Ecke Weigandufer die Straße überqueren, durch die Büsche kriechen, und schon ist man auf der Uferpromenade, die dem Wasserlauf folgt. Herrlich ist so ein Kanal, herrlich und gefährlich! Ausschlag bekommt man, wenn man in ihm schwimmt, und eiternde Ekzeme. Auch darf man keineswegs das Kanalwasser trinken, pures Gift ist das! Da muss einem der Magen ausgepumpt werden, falls man nicht von hohem Fieber, Durchfall und Erbrechen so geschwächt ist, dass man elendiglich zugrunde geht – warnt die Großmutter, die es liebt, detaillierte Szenarien des Schreckens zu entwerfen. Eine Schwarzseherin sei sie nicht, aber dass man in einem Kanal bekanntlich ertrinken kann, werde sie ja wohl sagen dürfen. Passiert ist schnell etwas, und wer trage dann wohl die Verantwortung?!

Wer? Doch nicht Else Wollin. Die lauert schließlich nicht in den Büschen der Uferpromenade, um die Spaziergänger reihenweise in den Neuköllner Schifffahrtskanal zu schubsen.

Alle Wasserleichen der letzten Jahrzehnte hat sie in ihrem Kopf versammelt, keine kann sie vergessen: Junge Dinger, die der Liebeskummer zum Elsensteg trieb, auf dem sie einen finalen Seufzer ausstießen, um sich dann in die schwarzen Wasser des Schifffahrtskanales zu stürzen; Betrunkene, die ihre Sportlichkeit beweisen wollten, beim Eintauchen ins Wasser jedoch einen Herzinfarkt erlitten – und Kinder! Jungen, die Kopfsprung üben wollten und sich in den auf dem Kanalgrund liegenden Matratzen verfingen, sich nicht befreien konnten und qualvoll erstickten. Dem Sohn von Walters ist das zugestoßen, da war er keine zehn Jahre alt. Jedes Kind kennt die furchtbare Begebenheit, wieder und wieder wird sie von den Erwachsenen erzählt. Sie gehört zum Truseweg wie die sechs Häuser und die zwei Laternen.

Walters sind die einzigen Bewohner der Straße, die der sonntägliche Spaziergang nicht am Kanal entlangführt. Das Weigandufer mit seiner Uferpromenade versuchen sie seit damals zu meiden. Jedes Mal, wenn Frau Walter Carsten trifft, drängt sie ihn, ihr in die Hand zu versprechen, um Himmels willen nicht allein zum Kanal zu gehen. Er wisse ja, wie es ihrem Norbert ergangen sei.