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INS NETZ GEGANGEN

MEIN LEBEN MIT EINEM NACHWUCHSKICKER
ZWISCHEN
SCHULBANK UND TORJUBEL

Susanne Amar, geboren 1967 in Bonn, ist Autorin und Bloggerin zum Thema Jugendfußball. Als systemischer Coach unterstützt sie Fußballer-Eltern und Vereine und hält Impulsvorträge und Seminare mit dem Schwerpunkt effiziente Kommunikation zwischen Eltern und Trainern. Zuvor arbeitete sie 25 Jahre als freiberufliche TV-Producerin für verschiedene Produktionsfirmen und Fernsehanstalten. Susanne Amar ist verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Kindern und lebt in Köln.

SUSANNE AMAR

INS NETZ
GEGANGEN

MEIN LEBEN MIT EINEM
NACHWUCHSKICKER ZWISCHEN
SCHULBANK UND TORJUBEL

EIN HANDBUCH FÜR
ELTERN, TRAINER, BETREUER

© 2017 Susanne Amar, www.ins-netz-gegangen.info

Umschlag, Illustration: Barbara Thoben,

www.lnt-design.de

Coverfotos: © André Bezerra, www.andrebezerra.com, © Bayer 04

Leverkusen, © privat, © Frank Mausbach

Cover- und Autorenfoto: © Martin Rottenkolber,

www.rottenkolber.net

Lektorat, Korrektorat: Barbara Lauer,

www.lektoren.de/BarbaraLauer

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback 978-3-7439-5205-8
E-Book 978-3-7439-5206-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

INHALT

PROLOG JANUAR 2015

JUNI 2005 – JUNI 2008

DER TRADITIONSVEREIN

JUNI 2005

AUGUST 2005

Das Leben der „Wilden Kerle“ ist vorbei

An den Schuhen erkennt man den Fußballer

Eltern – ganz anders als gedacht

FEBRUAR 2008

JULI 2008 – JUNI 2012

DIE FUSSBALLSCHULE

JULI 2008

„Jeder Jeck ist anders“ Die verschiedenen „Eltern-Typen“

JULI 2009

Die erste Fußballverletzung

JUNI 2010

Es geht auch anders – Spieler auf sich allein gestellt

Ist zusätzliche Förderung nötig?

„Ich habe fertig!“ – Der Trainer hat das Sagen

JUNI 2011

Die Pubertät macht auch vor einem Fußballer nicht Halt

FEBRUAR 2012

JULI 2012 – HEUTE

DAS NACHWUCHSLEISTUNGSZENTRUM

AUGUST 2012

Ein Nachwuchsfußballer ist für die Familie nicht einfach

B-Jugend – ja oder nein?

Allein schaffen wir das nicht – Wie Markus zu uns stößt

OKTOBER 2013

JANUAR 2014

Wie wichtig die richtige Ernährung ist

Die Körperstatik

Dehnen, Yoga und Co.

Schule & Fußball – Wieso muss ich mich immer rechtfertigen?

Wie viel Eigenständigkeit muss sein?

Ein Fußballer in der Pubertät – Freunde, Freundin, Feiern

Profis und Trainer sind Vorbilder, oder?

Money, Money, Money

EPILOG APRIL 2015

DANKSAGUNG

NACHWEISE

PROLOG

JANUAR 2015

DIE BUNDESLIGA STARTET IN DIE RÜCKRUNDE.

DER 21. JANUAR IST TAG DER JOGGINGHOSE.

JOSHUA IST SPIELER DER U17.

Vor einem halben Jahr ist die deutsche Nationalmannschaft in Brasilien Weltmeister geworden. Marco Reus hat nie eine Führerscheinprüfung abgelegt und fährt seit Jahren ohne den Lappen. Der BVB überwintert auf Platz 17 in der 1. Bundesliga. Laut Männermagazin GQ ist Jérôme Boateng der bestangezogene Mann Deutschlands. Bastian Schweinsteiger, Mesut Özil und Manuel Neuer haben sich nach der WM von ihren Freundinnen getrennt und Timo Horn heiratet zwei Tage vor dem Jahreswechsel seine Carina. Junior Malanda, Spieler von VFL Wolfsburg, stirbt bei einem Autounfall.

Egal welche Zeitung ich aufschlage, der Fußball ist überall – unerheblich ob es um Spielergebnisse, Transfers, Gerüchte darüber, wer mit wem zusammen ist, Urlaubsspots der Spieler oder so traurige Nachrichten wie im Fall von Junior Malanda geht. Im Sportteil der Tageszeitungen dominiert er, die Wirtschaftsressorts sind voll von der „Geldmaschine“ Fußball, und auch aus den Rubriken „Gesellschaft“ und „Lifestyle“ ist er nicht mehr wegzudenken. Lese ich die Gala oder Bunte, stoße ich immer auf eine Fotostrecke über das „social life“ der Schweinis, Ronaldos und Co., und der Spiegel kommt selten ohne einen Artikel rund ums Thema Fußball auf den Verkaufstisch. Aus der für viele Menschen „schönsten Nebensache der Welt“ ist die wichtigste Nebensache der Welt geworden. Nur nicht für mich.

Seit meiner frühesten Jugend stehe ich mit dem Fußball auf Kriegsfuß. Wenn ich mich zurückerinnere, ist Fußball für mich immer mit Verzicht verbunden. Denn wegen des Sports ums runde Leder konnte ich oft am Samstagabend meine Lieblingssendung disco nicht schauen. Pünktlich um 18 Uhr hieß es bei meinem Vater nämlich Sportschau – ohne Wenn und Aber. Und auch von meinen Freunden hörte ich meistens: „Hab keine Zeit, die Sportschau kommt.“ Mann, war das langweilig.

In meiner Jugend habe ich verschiedene Mannschaftssportarten ausprobiert. Egal ob als Einzelkämpfer oder Mannschaftstyp – sich mit anderen zu messen, dieses Schneller, Höher, Weiter ist überhaupt nicht mein Ding. Nur das Laufen bleibt in all den Jahren mein ständiger Begleiter, regelmäßiges Yoga und Pilates runden mein Sportprogramm ab. Es dient mir als Ausgleich, zum Dampf ablassen und Energie tanken und ein Leben ohne Sport kann ich mir nicht vorstellen.

Ich verstand also grundsätzlich die Leidenschaft für Fußball als Sport. Aber ich teilte sie nicht. Was ist toll daran, dass elf Spieler hinter einem Ball herlaufen? Grölende Fans ihre Mannschaft lautstark anfeuern? Erwach- sene Männer weinen, wenn der Lieblingsverein absteigt?

Aber genau das ist die Welt unseres Sohnes, das liebt er mehr als alles andere auf der Welt. Fußball ist seine Leidenschaft, dafür brennt er seit der Kindergartenzeit. Im Alter von sieben Jahren nimmt er am Probetraining im ansässigen Verein teil. Und wird genommen ...

Das ist nun zehn Jahre her, und seitdem hat sich mein Leben in ungeahnter Weise verändert. Durch unseren Sohn Joshua werde ich unfreiwilligerweise in den Fußballzirkus gezogen. Denn er gehört zu den ca. 2,2 Millionen Jugendlichen, die unter dem Dach des Deutschen Fußball-Bundes kicken. Für unseren Sohn ist der Fußball alles. Mit ihm begebe ich mich auf eine Expedition in mir fremde Gefilde, er freudig erregt, ich mit einem sehr mulmigen Gefühl im Bauch.

Bin ich anfangs mit Trikotwaschen, dem Fahrdienst und Trostspenden beschäftigt, wenn ein Spiel verloren ist oder das aufgeschlagene Knie verarztet werden muss, kommen im Laufe der Jahre für mich sehr essenzielle Themen hinzu. Ist Trainern und Verantwortlichen eigentlich bewusst, wie sehr ihr Tun das Familienleben, insbesondere die Urlaubs- und Wochenendplanung, bestimmt? Und wir? Wie können wir der Schule und dem Fußball gerecht werden? Ist der wiederholte Muskelfaserriss ein Zeichen von Überforderung? Bedeutet er irgendwann für Joshua das fußballerische Aus? Kann er auch nach der Verletzung seinen Stammplatz behaupten?

Ich habe einige Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass unser Sohn nicht nur Lust auf den Fußball hat, sondern ein Talent mitbringt. Lange habe ich diese Phase unter kindlichem Sichausprobieren verbucht. Doch dauert diese „Probezeit“ bei uns bereits zehn Jahre ...

In dieser Zeit zeigt Joshua mir seine Leidenschaft, Ausdauer und Aufopferungsbereitschaft für den Sport. Ihn auf seinem Weg zu begleiten, sich mit ihm zu freuen über ein gewonnenes Spiel oder ein tolles Feedback durch den Trainer, zu zweifeln, wenn die nächste Verletzung den guten Trainingsstand wieder zunichtemacht, zu bibbern, wenn es um die Kaderaufstellung oder den nächsten Vertrag geht, aber auch einfach mal die Tränen zu trocknen, wenn gerade alles nicht rund läuft – all das möchte ich nicht missen. So wie sich Joshua als Nachwuchsfußballer entwickelt, lerne auch ich von Jahr zu Jahr immer mehr über den Fußball. Dinge, die mich staunen lassen, die mich überraschen, und manches, was mich sprachlos macht.

Natürlich quälen mich auch viele Fragen. Hat der Fußball im Alter von sieben Jahren noch sehr viele spielerische Züge, verändert er sich mit zunehmendem Alter. Und damit verbunden stehen auch die Eltern vor neuen Herausforderungen.

Ich will, dass unser Sohn eine gute Schulbildung bekommt, dass er das Fachabi oder Abitur macht. Geht beides? Sind Schule und Fußball nicht zu viel? Leidet die schulische Ausbildung unter der Doppelbelastung? Wie bekommt man Fußball und Familienleben unter einen Hut? Durch zunehmende Trainingstage in der Woche und immer längere Anfahrten zu den Trainingsorten ist es für mich schwer, unseren beiden Kindern gerecht zu werden. Wie gleiche ich das aus, ohne mich selbst völlig aufzureiben?

Auch wenn ich Joshuas Sport kritisch gegenüber stehe, zolle ich ihm und seinem Fußball den größten Respekt. Ich bin unglaublich stolz auf ihn und den Weg, den er bisher gegangen ist – auch und gerade, weil der nicht immer leicht ist. Und ehrlich: Die Rollen zu tauschen – der „kleine“ Joshua (mittlerweile überragt er mich um Haupteslänge) zeigt seiner erwachsenen Mutter seine Welt –, ist nicht das Schlechteste ...

Mein Buch richtet sich an Eltern, die auch so ein Exemplar zu Hause haben wie ich. Als Coach für Fußballer-Eltern erlebe ich oft Väter und Mütter, die sich in vielen Situationen hilflos fühlen und nicht wissen, wo sie Antworten für ihre Fragen, Ängste und Unsicherheiten finden können. Ich möchte daher anderen interessierten Familien zeigen, dass sie nicht alleine sind und es uns mit unseren fußballverrückten Kindern ähnlich ergeht. Je nach Alter erkennen sie die ein oder andere Situation wieder, lesen, was noch auf sie zukommen kann, oder entscheiden sich für einen anderen Weg. Denn im Fußball gibt es den richtigen Weg nicht. Entwicklungen können oft unterschiedlicher nicht sein.

Gleichzeitig möchte ich auch den Fachleuten – den Trainern und Verantwortlichen im Jugendbereich – vermitteln, wie unser Leben jenseits des Fußballplatzes mit einem Nachwuchsfußballer aussieht und welche Auswirkungen „ihre“ Welt auf „unsere“ Welt hat.

Ich erteile keine „Fußballtipps“, sondern gebe meine Sicht auf den Fußball meines Sohnes wieder. Alle Abläufe und Zusammenhänge in meinem Buch sind so geschildert, wie sie sich mir in der Situation dargestellt haben. Ebenso möchte ich die beschriebenen Erlebnisse nur mit eben diesem Trainer, Physiotherapeuten, Arzt, Verein u. Ä. verstanden wissen und meine Erfahrungen nicht auf den jeweiligen Berufszweig verallgemeinern.

JUNI 2005 – JUNI 2008

DER TRADITIONSVEREIN

JUNI 2005

BRASILIEN GEWINNT DEN CONFEDERATIONS CUP GEGEN ARGENTINIEN IN DEUTSCHLAND.

DER BRAUNBÄR IST WILDTIER DES JAHRES.

JOSHUA BESTREITET SEIN ERSTES PROBETRAINING.

„Hey, Mama. Yannick hat mir heute erzählt, dass die morgen Probetraining haben. Du weißt doch, die suchen einen neuen Spieler.“ Er schnauft. „ Yannick hat gefragt, ob ich komme. Ich will da echt gern hin.“ Kurze Pause. „Hab mich eigentlich schon angemeldet.“

Mit den Worten kommt Joshua kurz vor den Sommerferien 2005 aus der Schule. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf: Was machen wir nur falsch? Warum bloß Fußball?! Joshua könnte doch auch schwimmen oder Leichtathletik machen.

Natürlich machen wir nichts falsch, und für Joshua würde es nie einen anderen Sport geben. Er ist sozial, gesellig, ist ein Teamplayer und misst sich gerne mit anderen. Da ist klar, dass er nur einen Mannschaftssport ausüben kann.

Ich kann es nicht so richtig erklären, aber mich schrecken die Vereinsmeierei und die Tatsache ab, womöglich viele Nachmittage mit Eltern zusammen am Spielfeldrand zu verbringen, deren Leben einzig aus Fußball besteht. Ich sehe schon Fußball-Väter, ähnlich wie Schlittschuh-Mütter, vor mir, die selbst sportlich nie erfolgreich waren, in ihrem Kind aber nun die Chance sehen, ihren Traum zu verwirklichen. Oft wird ein solcher Druck auf den Nachwuchs ausgeübt, dass es mir Sorgen macht. Es ist der Mix aus all dem, der mich dem Thema Fußball kritisch gegenüber stehen lässt.

Dass dieser Ballsport wie kaum eine andere Sportart die Massen bewegt und verbindet, verwundert mich dennoch nicht, da sprechen die Zahlen für sich: Laut aktueller Mitglieder-Statistik 2015 sind knapp 91.600 Junioren-Mannschaften von G- bis A-Jugend im Deutschen Fußball-Bund gelistet.

„Der Fußball ist einer der am weitesten verbreiteten religiösen Aberglauben unserer Zeit. Er ist heute das wirkliche Opium des Volkes.“

Umberto Eco1

Mein Mann und ich waren uns früh einig, dass wir Joshua nicht in einem Fußballverein anmelden wollen. Wäre es nach unserem Sohn gegangen, dann wäre er bereits bei den Bambini eingestiegen. Joshua war schon immer ein Kind, das bei Wind und Wetter draußen spielt und gerne tobt. Mit der Zeit entwickelte er immer mehr Lust am Fußball.

Uns war bewusst, dass wir ihm eine Möglichkeit bieten müssen, seinen Bewegungsdrang und die Lust am Ball auszuleben. Aber muss es unbedingt ein Verein sein? Gibt es nicht auch Alternativen? Ich machte mich auf die Suche und fand eine Fußballschule, die in den Ferien Fußballcamps anbietet. Kompakt, zeitlich begrenzt und keine Verpflichtungen – perfekt.

Das erste Mal nimmt Joshua in den Osterferien 2005 teil – von Montag bis Freitag zwischen 9 und 16 Uhr dreht sich alles nur um Fußball.

Zu Campbeginn sind wir pünktlich am Trainingsgelände. Hier geht es zu wie in einem Flohzirkus. Jungs und vereinzelte Mädels laufen aufgeregt umher, einige in den aktuellen Bundesliga-Trikots ihres Lieblingsvereins, ausgestattet in kompletter Montur mit Schienbeinschonern, Stutzen und Fußballschuhen, andere mit T-Shirt, Trainingshose und Turnschuhen, dazu einen Rucksack mit Wechselklamotten. Dazwischen Mütter und vereinzelte Väter.

Jungs, die sich aus früheren Camps kennen, begrüßen sich, die Neulinge harren der Dinge, die kommen werden. So auch Joshua und ich.

Treffpunkt ist vor dem Gebäude der Fußballschule. Dort werden alle bereits von den Trainern erwartet. Jedes Kind wird vom Chef-Trainer einzeln aufgerufen, begrüßt und seinem Team zugewiesen. Als hätte er damit nicht schon genug zu tun, muss er zwischendurch immer wieder Fragen besorgter Eltern beantworten. „Wenn es regnet, wird dann auch trainiert?“, will eine Mutter wissen. „Mein Sohn hat keine Regenjacke dabei.“ – „Mein Sohn kennt hier keinen. Ich weiß nicht, ob ihm das gefallen wird“, meint ein Vater.

Joshua ist auch allein hier, aber weder er noch ich haben Sorge, dass es ihm nicht gefallen könnte. Die Fußballschule und das Trainerteam machen auf mich einen sehr netten Eindruck. Viele Trainer sind Sportstudenten mit angehender Trainerlizenz. Und Joshua freut sich schon, seitdem er angemeldet ist.

Nachdem Joshuas Trainer seine jungen Spieler beisammen hat, machen sie sich auf den Weg zum Trainingsgelände. Vorher dreht sich Joshua zu mir um und sagt: „Tschüss, Mama. Du kannst jetzt gehen.“

Die nächsten sieben Stunden wird er nun in seiner Welt sein – er wird auf Kinder treffen, die genau so viel Spaß am Fußballspiel haben, sie werden gemeinsam erste Spieltechniken ausprobieren und beim Mittagessen die Fußballwelt Sechsjähriger in ihren Dimensionen erörtern. Das geht von Spielern und Lieblingsvereinen über Fußballschuhe bis hin zu Sammelbildern.

Als ich Joshua nachmittags abhole, erlebe ich eins der Phänomene, die mir bis heute zuwider sind: Eltern, die nach dem Training zum Trainer laufen und wissen wollen, wie ihr Kind „sich denn gemacht hat“. Was soll mir ein Trainer nach einem Tag mit meinem Sohn sagen? Soll er den kommenden Ronaldo prophezeien? Reicht es nicht aus, dass die Kids Spaß an der Sache haben? Aber genau das kann ich am besten von meinem Sohn persönlich erfahren.

Joshua kommt verschwitzt mit seinem Rucksack auf mich zu gerannt. „Mama, das war super!“, sagt er ganz außer Atem, „ich habe heute drei Tore geschossen. Und wir mussten mit dem Ball um so Hütchen herum spielen. Das ist echt ganz schön schwer.“

Plappernd gehen wir zum Auto. Müde und glücklich steigt er ein und wir fahren nach Hause. Auf dem Weg schläft er bereits zufrieden ein.

Unser Sohn freut sich auf die nächsten Tage. Jedes Mal hole ich ihn strahlend und angefüllt mit neuen Eindrücken ab. Er ist glückselig, und wenn er glücklich ist, bin ich es auch.

Am Ende der Woche erhalten alle Kinder eine Urkunde dafür, dass sie am Fußballcamp teilgenommen haben. Stolz wie Oscar zeigt mir Joshua seine. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass er überhaupt eine Auszeichnung erhalten hat.

Als Joshua und ich seine Sachen einpacken, kommt sein Trainer auf mich zu. „Wir sind ja nicht nur eine Fußballschule, sondern auch ein Verein mit Spiel- und Trainingsbetrieb. Haben Sie schon mal daran gedacht, Joshua in einem Verein anzumelden?“, fragt er mich.

Jetzt nicht auch noch der, denke ich. „Ja, mein Mann und ich haben mal darüber nachgedacht, finden aber, dass er noch zu jung ist. Er ist gerade in der 1. Klasse, und das regelmäßige Training in einem Verein finden wir ein bisschen viel.“ Während ich das sage, wird mir selber klar wie dünn die „Erklärung“ ist.

„Ihr Sohn hat gute Anlagen. Er hat ein gutes Gespür für den Ball, bewegt sich gerne und kann gut das umsetzen, was wir in kleinen Schritten den Jungs vermitteln. Denken Sie mal drüber nach.“

Ich verspreche es und wir verabschieden uns mit den Worten, dass er in den Sommerferien wiederkommen wird. In den folgenden Jahren werden einige dieser Gespräche mit dem Jugendleiter der Fußballschule folgen.

Im Auto stellt Joshua natürlich wieder die „Gretchen-Frage“, warum er nicht im Verein spielen darf. Meine Antwort, dass wir mal schauen, vertröstet ihn vorerst. Ich weiß aber, dass ihn das dauerhaft nicht befriedigen wird.

Joshua nimmt aus der Fußballwoche nicht nur den Spaß mit, sondern erhält einen Eindruck davon, wie es ist, unter Anleitung eines Trainers Fußball zu spielen und dabei Fertigkeiten zu erlernen. Etwas, was er bisher nicht kannte.

Oft müssen die Jungs aus der Nachbarschaft oder seine drei Jahre ältere Schwester samt Freundinnen ran. Für sie steckt natürlich nicht so viel Ernst hinter der Sache, wie für unseren Sohn. Kopflos laufen sie hinter dem Ball her, versuchen auf irgendeins der kleinen Tore zu schießen, merken sich nicht in welcher „Mannschaft“ sie spielen und ein heilloses Durcheinander herrscht. Es ist meist nur eine Andeutung von Spiel erkennbar und für Joshua nicht das, was er will.

Im Zeitalter der „Wilden Kerle“ sind alle Kindergeburtstage der Jungs Fußballgeburtstage – entweder wird der Nachmittag auf einer Wiese mit Ball verbracht oder in den zahlreichen neu etablierten Soccerhallen. Auch in diesem Rahmen ist Joshuas Affinität zum Ballsport deutlich erkennbar. Das kann schon mal zum Eklat führen, wenn die anderen Jungs nicht die gleiche Leidenschaft wie unser Sohn zeigen. Ich erinnere mich an einen Geburtstag, der im Streit und unter Tränen endet, weil Joshua nicht einsehen will, dass nicht jeder den ganzen Nachmittag kicken möchte. Bereits hier ist schon ein gewisser Wahnsinn erkennbar ...

Mein Mann und ich merken seit dem Fußballcamp, dass Joshua die bisherigen Angebote nicht mehr ausreichen. Immer öfter nörgelt er, dass seine Freunde heute mal wieder keine Lust hatten mit ihm zu spielen. Bei ihm ist es wie bei Menschen, die von etwas infiziert sind – entweder ganz oder gar nicht, ein bisschen geht nicht. Die Zeit auf irgendeiner Wiese scheint vorbei zu sein, daher verwundert es uns beide nicht, als Joshua mit der Hiobs-Botschaft nach Hause kommt, dass er zum Probetraining gehen will, um in einem Verein zu spielen.

Schnell finden mein Mann und ich uns in einer Pro und Contra-Diskussion wieder. Auch wenn ich selbst nichts für Mannschaftssport übrighabe, weiß ich, wie wichtig er für das Erlernen der sogenannten Social Skills ist.

Soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Respekt, Toleranz und Fairplay werden nirgendwo so einfach vermittelt wie in einem Mannschaftssport. Siege und Niederlagen zu verarbeiten und nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze Mannschaft Verantwortung zu übernehmen, sind wichtig für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung. Je früher erlernt, desto besser lassen sie sich auf andere Lebensbereiche übertragen. Eine Menge an Fakten, die für den Sport sprechen.

Aber ... Ich will keine Fußballmami sein, will nicht jeden Samstag auf dem Fußballplatz stehen, will meine Freizeit nicht mit fußballverrückten Eltern verbringen. Drei dürftige Punkte auf der Contra-Seite. Und alle haben nur mit mir zu tun.

Sollten diese Ego-Punkte Grund genug sein, dass Joshua niemals seiner Leidenschaft nachgehen darf? Wir haben unsere Kinder früh zu Offenheit und Toleranz für Menschen und Dinge erzogen. Sollte ausgerechnet ich mich einem Thema verschließen, ohne wirklich etwas darüber zu wissen? Man muss die Kirche auch mal im Dorf lassen. Joshua will ja nicht Mitglied der Hells Angels werden, sondern nur in einem Fußballverein.

Am nächsten Tag steht Joshua bereits Stunden, bevor es losgehen soll, in seinem viel zu großen Podolski-Trikot, Fußballhose bis über die Knie und den neuen Fußballschuhen in der Tür.

„Wir müssen pünktlich sein“, ermahnt er mich zum wiederholten Male.

„Nur weil du es mir immer wieder sagst, wird das Training auch nicht früher beginnen“, antworte ich langsam entnervt, merke aber auch in mir ein leichtes Kribbeln aufsteigen.

Bisher musste sich unser Sohn außerhalb der Schule noch nie einer Fachmeinung stellen. Ein Probetraining ist nämlich nichts anderes als eine Bewerbung und damit Beurteilung seines sportlichen Könnens. Ich bin gespannt, wie er diese Situation meistern wird. Die Chancen stehen zwar ganz gut, doch als Mutter mache ich mir auch Gedanken darüber, wie er damit umgehen wird, wenn der Trainer sich vielleicht nicht für ihn entscheidet.

Schweigend fahren wir die kurze Strecke zum Trainingsgelände. Joshua steigt aus dem Auto und nimmt seinen Rucksack. Da wir allein auf dem Parkplatz sind, darf ich ihn fest drücken und wünsche ihm viel Glück – das Alter, in dem Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit nicht mehr gewünscht sind, ist zu meinem Leidwesen gekommen. Dann stapfen wir beide los und stellen uns unseren neuen Herausforderungen.

Auf dem Platz angekommen, begrüßen wir den Trainer und die Eltern. Joshua freut sich, seinen Freund Yannick zu sehen, der ihn direkt mit in die Umkleide nimmt. Ich bin froh, dessen Eltern zu treffen, und fühle mich nicht ganz so fremd. Eltern wie Spieler kennen sich teils schon seit Jahren, haben eine gemeinsame Fußballhistorie und sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Als möglicher Neuzugang muss man sich erst einmal dort hineinfinden.

Während sich zwei weitere Mütter zu uns gesellen, werde ich von ihnen mit den wichtigsten Informationen versorgt. Erst mal lerne ich ihre Jungs kennen, als die Mannschaft an uns vorbei auf dem Weg zum Platz ist. Dann erfahre ich, wann die Trainingstage und -zeiten sind, dass Samstagvormittag in der Regel die Spiele angesetzt sind und es eine Mannschaftskasse gibt. Bevor das Probetraining beginnt, bin ich bereits bestens informiert.

Mir fällt auf, dass die Eltern – größtenteils Mütter, ich entdecke zwei Väter – bleiben und ihren Söhnen beim Training zuschauen.

Entspricht natürlich dem Klischee, wie ich den Fußball bisher sehe, und ich denke bei mir, hoffentlich packen sie nicht auch noch die Thermoskanne aus. Aber so weit kommt es nicht, und mit Trainingsbeginn liegt mein Fokus auf Joshua.

Trainer und Co-Trainer, Yannicks Vater Frank, stellen Joshua der Mannschaft vor und teilen den Jungs mit, dass er heute mit ihnen trainieren wird. Dann wird zum Aufwärmen ein Fangspiel gespielt. Joshua orientiert sich anfangs noch sehr an Yannick, bekommt aber schnell immer mehr Sicherheit.

Hier kann er also mitspielen, wenn sie ihn aufnehmen, denke ich, während die Jungs über den Platz rennen.

Danach beginnen die ersten Übungen mit dem Ball. Das runde Leder muss am Fuß um verschiedene Hindernisse geführt und abschließend aufs Tor geschossen werden. Joshua ist voll konzentriert bei der Sache, versucht, das umzusetzen, was von Trainerseite vorgegeben wird. Ist er nicht dran, beobachtet er die anderen Spieler. Wenn es mal nicht klappt, ärgert er sich schnell, wird von den Trainern motiviert, es noch mal zu versuchen.

Ich merke, wie in mir die Spannung steigt. Was halten sie von Joshua? Nach welchen Kriterien werden Spieler in der F-Jugend überhaupt ausgewählt? Welche Voraussetzungen muss ein Spieler mitbringen? Fragen, die ich mir bis dahin noch nie gestellt habe und nicht beantworten kann.

Den Großteil des Trainings macht das Spiel aus. Joshua ist zusammen mit Yannick in einer Mannschaft. Eine Mutter, deren Sohn seit Beginn in der Mannschaft kickt, fragt mich, auf welcher Position Joshua gern spielt. Woher soll ich denn so etwas wissen? Ich habe keine Ahnung, dass es überhaupt verschiedene Positionen im Fußball gibt. Ich dachte, dass einfach fünf Jungs bzw. mit zunehmendem Alter elf Spieler hinter einem Ball herlaufen und aufs Tor schießen.

Noch nicht mal während des Spiels kann ich erkennen, dass Joshua im Sturm spielt. Das erklärt mir ein Vater, der unser Gespräch mitverfolgt hat.

„Ist Ihr Sohn Linkshänder?“, fragt mich eben dieser Vater.

„Nee, wie kommen Sie denn darauf?“, frage ich erstaunt zurück und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das im Fußball eine Bedeutung haben könnte.

„Na ja, weil er Linksfuß ist“, erwidert er.

„Weil er was ist?“ ich weiß nicht, was er meint.

„Er schießt mit dem linken Fuß“, erklärt er mir „und mit einem gehörigen Bums dahinter, wie man gerade gesehen hat. Das ist nicht so häufig. Der hat eine gute Größe, für den Sturm genau richtig.“

Zwei Dinge habe ich gerade gelernt. Erstens, dass unser Sohn Linksfuß ist, obwohl er Rechtshänder ist und als Stürmer spielt. Und zweitens, dass besagter Vater wohl Ahnung vom Fußball hat oder so tut, als hätte er Ahnung. Was bei meiner Unwissenheit aufs Gleiche rauskommt.

Zum ersten Mal sehe ich unserem Sohn beim Fußballspielen in solch einem Umfeld zu und merke, wie viel Spaß ihm das macht. Habe ich ihm diesen Sport vielleicht viel zu lang vorenthalten? Hätte er viel früher beginnen sollen? Im Sport allgemein heißt es, wer erfolgreich sein will, muss früh anfangen. Was ist früh? Ist es jetzt schon zu spät? Und was ist denn erfolgreich?

Das Probetraining neigt sich dem Ende zu. Die Spieler sammeln Bälle und Hütchen ein und versammeln sich beim Trainerteam. Der Trainer sagt ihnen, dass sie heute gut trainiert haben, und gibt noch ein paar Infos zum Spiel am kommenden Wochenende. Dann verschwinden die Jungs in der Kabine, außer Joshua. Er kommt mit dem Trainer auf mich zu. Jetzt bin ich schon sehr gespannt, was er sagen wird. Wird er schon heute eine Entscheidung treffen?

Joshua hat seine Sache anscheinend ganz gut gemacht, denn der Trainer möchte ihn als Spieler in der F-Jugend haben. Ihm hat gefallen, wie viel Spaß Joshua am Training hatte, und er glaubt, dass er als Stürmer die Mannschaft unterstützen kann. Wir erhalten den Aufnahmeantrag und sollen ihm Bescheid geben, wie wir uns entscheiden. Joshua schaut mich erwartungsvoll an.

„Joshuas größter Wunsch ist es, in einem Verein zu spielen. Wenn er das hier kann, dann soll er das machen“, sage ich.

Mein Mann und ich stehen zu unseren Absprachen.

Der Trainer erklärt uns noch die wichtigsten Verhaltensregeln – Pünktlichkeit, respektvoller Umgang untereinander und rechtzeitiges Entschuldigen bei Nichtteilnahme am Training bzw. Spiel. Ab sofort heißt es nun: montags und donnerstags Training für mich und am Wochenende Spiel für meinen Mann.

Joshua ist total verschwitzt und dreckig, aber dafür überglücklich und angefüllt mit vielen neuen Eindrü-cken. „Mama, das war cool. Ich spiele jetzt Fußball“, sagt er mit leuchtenden Augen. Obwohl es um Fußball geht, freue ich mich sehr für ihn. Denn wie dieser kleine Kerl mit einer Beharrlichkeit für seinen Traum einsteht und kämpft, macht mich sehr stolz.

Für uns alle wird sich die Freizeit nun verändern. Wie genau, das wird sich zeigen. Ich kann nur erahnen, dass Spiele zu unchristlichen Zeiten auf uns zukommen werden, regnerische und kalte Momente auf Fußballplätzen, in denen man lieber gemütlich auf dem Sofa liegen würde, Tränen, die es zu trocknen gilt, wenn wieder ein Spiel verloren ist. Ob ich langfristig bereit bin, die neue Welt unseres Sohnes zu unterstützen, bleibt abzuwarten.

AUGUST 2005

SVEN HANNAWALD GIBT DAS ENDE SEINER SKISPRUNGKARRIERE BEKANNT.

HURRIKAN KATRINA VERWÜSTET NEW ORLEANS.

JOSHUA IST SPIELER DER U8.

Nach den Sommerferien beginnt für Joshua das lang ersehnte Vereinsleben. Hier kennt jeder jeden, und viele wohnen seit Jahrzehnten im gleichen Viertel. Am Nachmittag bringen ganze Familien ihre Kinder zum Training. Vom ersten Tag an werde ich freundlich von jedem begrüßt – unabhängig davon, ob man sich kennt. Das vermittelt mir schnell das Gefühl von „Großfamilie und Dazugehörigkeit“.

Ein Großteil der Trainer und Verantwortlichen hat schon als Knirps in diesem Verein gespielt, ist später in die Jugendmannschaften gewechselt und entweder noch heute im Seniorenbereich oder als Trainer aktiv oder dem Verein in anderer Form verbunden. Der Fußballklub hat sich früh auf die Fahne geschrieben, die Kids von der Straße zu holen und jeder Fußballerin und jedem Fußballer eine Heimat zu bieten. Die Jugendabteilung gehört daher zu einer der größten Deutschlands, und hier spielen die unterschiedlichsten Nationalitäten miteinander.

Das fällt mir auch auf, als ich Joshua zu seinen ersten Trainingseinheiten bringe. Auf dem Trainingsgelände wuseln Can aus der Türkei, Daniele aus Italien, Cedric aus Kroatien, Anthony aus Ghana, Ashkan aus dem Iran mit Luiz aus Brasilien und Lukas aus Deutschland herum. Gerade in den Jugendmannschaften wachsen die Kinder und Jugendlichen selbstverständlich mit einem multikulturellen Blick aufs Leben auf. Sie laden sich gegenseitig zu den Geburtstagen ein und teilen sich bei Turnieren ein Zimmer. Integration ist hier längst gelebter Alltag.

Das Training findet zweimal pro Woche bei Wind und Wetter statt. In den Wintermonaten wird von Dezember bis Februar einmal wöchentlich in der Halle trainiert.

Da ich für die Trainingstage zuständig bin, mein Mann für die Spieltage, haben Joshua und ich eine Regel aufgestellt: Ich bringe ihn zum Training, bleibe aber nicht da. Ich komme erst kurz vor Trainingsende zurück und schaue mir ein paar Minuten das Abschlussspiel an.

Viele Eltern finden es schön, ihre Kinder beim Training zu beobachten und einen Schnack mit den anderen Eltern zu halten. Genau dieses Am-Platz-Stehen ist eine meiner Horrorvorstellungen, die ich mit dem Fußball verbinde. Für mich ist es wichtig, dass es nicht mein Sport ist, sondern Joshuas Hobby. Was aber nicht bedeutet, dass ich kein Interesse daran habe. Denn das kann ich ihm auch anders zeigen als mit meiner Anwesenheit. Indem ich den Fahrdienst übernehme, die Sportklamotten wasche, mir nach dem Training von ihm berichten lasse, wie es war, mich mit ihm freue oder auch mal die Tränen trockne, wenn es „doof gelaufen ist“. Oder indem ich ihn bei den Spielen hin und wieder anfeuere. Ich muss nicht dabei sein, denn ich traue unserem Sohn zu, dass er die anderthalb Stunden Training auch gut ohne mich bewältigen kann. Seine Schwester Grace habe ich im vergleichbaren Alter auch nur zu ihrem Schwimmkurs gebracht und wieder abgeholt, denn es war gar nicht erwünscht, dass Eltern dabei blieben.

Außerdem fehlt mir auch die Zeit. Wer wie wir noch eine ältere Tochter hat, will beiden Kindern gerecht werden. Auch Grace soll ihre Freizeitaktivitäten ausleben, und da der Fußballverein nicht weit von unserem Wohnort entfernt ist, kann ich während Joshuas Training nach Hause fahren und mich um sie kümmern. Oder ich nutze die Zeit und gehe mit unserem Hund spazieren.

Joshuas Mannschaft besteht dem Alter entsprechend aus 14 Spielern, dem Trainer und Co-Trainer – Väter zweier Söhne, die auch in der Mannschaft kicken – und Yannicks Vater, der als Betreuter unterstützt.

Nach den ersten Trainingswochen bemerke ich: Fußballer ist definitiv nicht gleich Fußballer.

Als Erstes fallen mir die auf, die genauso fußballverrückt sind wie Joshua. Sobald sie den Ball am Fuß haben, sind sie wie Wildpferde, die man freilässt. Sie laufen über den Platz, sie geben alles und sind in manchen Momenten schwer zu bändigen. In der Regel lassen sie sich wieder einfangen, sobald der Trainer spricht und Anweisungen gibt. Doch gilt das nicht für alle „Wildpferde“.

Im Team sind zwei Spieler, die kein Ende kennen und nicht verstehen wollen, wieso sich jeder nach dem richten muss, was der Trainer sagt. In dem Alter gilt eben noch nicht für alle „Der Trainer hat das Sagen und was der Trainer sagt, wird gemacht!“, sodass es auch mal zu Diskussionen, Wutausbrüchen und manchmal sogar zum verordneten Trainingsabbruch kommt. Die Zeit bis zum Trainingsende muss dann in der Kabine abgesessen werden – nicht nur zu Hause gibt es erzieherische Maßnahmen.

Dann gibt es die Spieler, die gern Fußball spielen wollen, die den Sport aber noch sehr spielerisch sehen und denen der Ehrgeiz fehlt. Die während der Übungen herumblödeln, lachen und quatschen.

Oder Spieler, die sich noch nicht entschieden haben, ob Fußball für sie das Richtige ist, ihre Eltern aber gern möchten, dass sie den Sport ausüben. Die laufen dann eher lustlos herum und brauchen viel Motivation.

Und zu guter Letzt gibt es einen Spielertypus, der überhaupt kein sportliches Gen hat, dessen Talente in ganz anderen Bereichen liegen, der sich aber trotz allem nicht von seinem Wunsch, Fußball zu spielen, abbringen lässt. Obwohl er keine sportlichen Fähigkeiten mitbringt wie die anderen Spieler und eher Angst vor dem Ball hat, sei es beim Abschuss oder der Ballannahme, ist er doch Mitglied der Mannschaft. In den Spielen wird er vom Trainer eingewechselt, und die Spieler unterstützen ihn und „springen“ für ihn ein, wenn er seine Position während eines Spiels nicht halten kann und vom Gegner überrollt wird.

Mir gefällt der Teamgedanke sehr gut, wird hier doch „gelebt“, dass nicht jeder gleich ist, jeder aber Qualitäten mitbringt, die für eine Gemeinschaft wichtig sind. Die Selektion beginnt im Fußball wie im Leben noch früh genug, daher freue ich mich über jede Möglichkeit, in der die Kinder im Alter von sieben Jahren davon verschont bleiben.

Alle Spieler unter einen Hut zu bekommen, ist nicht leicht. Das Trainerteam führt jeden Spieler seinen Fähigkeiten entsprechend an den Fußball heran. Eine nicht immer leichte Aufgabe – so gehört mein größter Respekt den Trainern.

Im Kleinen erlebe ich ähnliche Szenarien auf den Geburtstagen von Grace und Joshua und weiß, was für starke Nerven oft dazu gehören. Ich stehe in Mitten einer Horde von Kindern. Die einen toben wild, die anderen streiten um den letzten Brownie, die letzte vergießt ein Tränchen, weil Freundin Mia lieber mit Pia und nicht mit ihr gemeinsam Sack hüpfen will. Jeder will zuerst drankommen, jedem muss sofort geholfen werden, jeder hat etwas ganz Wichtiges zu erzählen und ich muss ein Ohr für sie haben. So sehr ich die Feiern liebe, mich gern schon wochenlang in die Planung stürze, für jeden ein passendes Motto aussuche – für Joshua die Kletterparty oder die Soccerhalle, für Grace die Grusel-Übernachtungsparty. So glücklich ich bin, wenn meine Kinder und ihre Freunde Spaß haben, bin ich aber ebenso froh, dass der nächste Geburtstag erst wieder in einem Jahr ansteht.

DAS LEBEN DER „WILDEN KERLE“ IST VORBEI

Da wir bereits den Antrag beim Westdeutschen Fußballverband gestellt haben, hat Joshua einen Spielerpass und ist damit berechtigt, an Meisterschaftsspielen teilzunehmen. Sein erstes Spiel ist aber weder ein Freundschafts- noch ein Ligaspiel. Joshua soll im Rahmen des Abschiedsspiels von Thomas „Icke“ Häßler mit seiner Mannschaft am 22. August 2005 gegen die Mannschaft vom 1. FC Köln spielen. Das ist der letzte Tag der Sommerferien, und das Mannschaftstraining hat noch nicht begonnen.

„Wer ist Thomas Häßler?“, fragt mich Joshua.

„Keine Ahnung“, sage ich. „Lass uns mal im Internet schauen.“

Schnell finden wir heraus, dass er ein sehr erfolgreicher Bundesligaspieler ist, über hundert Mal für die Nationalmannschaft auflief, Deutschlands Fußballer des Jahres wurde und nun seine aktive Karriere beendet. Aber eigentlich ist das nebensächlich, für Joshua gibt es viel wichtigere Fragen.

„Bekomme ich ein Trikot und werde ich auch spielen?“, fragt er mit großen Augen. „Sind da auch Zuschauer?“ Und immer wieder: „Spielen wir wirklich in dem großen Stadion?“. Das RheinEnergieStadion, in dem der 1. FC Köln kickt, kennt Joshua aus einer Führung, die er vor einiger Zeit mitgemacht hat, und ich weiß, wie sehr ihn die Größe damals beeindruckt hat.

Das fängt ja schon gut an. Kaum ist unser Sohn im Fußballverein, geht es nicht entspannt mit den ersten Trainingseinheiten los, sondern die Mannschaft startet mit etwas ganz Besonderem in die Saison. Wir werden beide direkt ins kalte Wasser geworfen und müssen schwimmen lernen.

Also, beste Voraussetzungen!, denke ich. Gut, dass Kinder in dem Alter noch so unbedarft sind.

Eine Stunde vor Anpfiff treffen wir uns mit den Trainern, Spielern und Eltern. Die erste Hürde ist für uns, den Treffpunkt zu finden. Ich kenne mich mit den verschiedenen Meeting-Points am Stadion nicht aus, und es sind doch zahlreiche Zuschauer gekommen, sodass es nicht leicht ist, die Mannschaft ausfindig zu machen. Nicht zu vergessen, dass es das erste Treffen seit dem Probetraining ist, ich kenne also bis auf die Eltern von Yannick niemanden.

Nachdem wir endlich auf die anderen aus der Mannschaft getroffen und Spieler und Trainer in die Umkleiden gegangen sind, suchen wir Eltern uns einen Sitzplatz auf der Tribüne. Einige Väter sind sehr aufgeregt, verbinden sie mit Icke Häßler eine langjährige Fußballära, die nun zu Ende geht. Dass ihre Söhne nun im Rahmen seines Abschieds auf dem heiligen Rasen spielen, erfüllt sie mit Stolz. Ich kann mich dem Gefühl nicht so anschließen, da ich das Außergewöhnliche daran nicht empfinde.

Als ich auf das Spielfeld blicke, ist mein erster Gedanke, wie sollen denn diese kleinen Kerle auf dem großen Feld spielen? Schnell klärt mich Yannicks Vater auf, dass sie auf einem Kleinfeld spielen.

Kleinfeld, lerne ich, ist eine Spielfläche von maximal 40 x 55 m, auf der pro Mannschaft sechs Spieler plus Torwart spielen.