THE BATHROOM CHRONICLES

100 Frauen. 100 Bilder. 100 Geschichten

Herausgegeben von
Friederike Schilbach

Suhrkamp

EINBLICKE IN GEHEIME KAMMERN
Über dieses Buch

Die Idee zu diesem Buch kam mir, als ich gerade zu Besuch bei einer Freundin in Italien war. Sie wohnt dort in den Sommermonaten in Monopoli, einer Kleinstadt am Meer, in einer Wohnung, die früher mal einem Kapitän gehört hat. Meine Freundin hat sie eigenhändig, ganz behutsam, renoviert. Wo früher eine Feuerstelle mit Kamin war, ist jetzt das Badezimmer. Wenn man in die Dusche steigt, kann man am Ende des meterlangen Schachts, ganz oben, ein Stück freien Himmel sehen, ein bisschen wie bei einer Lichtinstallation des Künstlers James Turell.

Der Charakter dieses Badezimmers gleicht dem meiner Freundin: luftig, offen, minimalistisch, schön. Und so bat ich sie in jenem Sommer, kurz bevor ich abreiste, mir ein Foto davon zu schicken – als Erinnerung. Das tat sie, dazu schrieb sie ein paar Zeilen, es las sich wunderbar, wie ein Mini-Porträt. Zurück in Berlin fragte ich weitere Freundinnen – anfangs nur vier oder fünf –, ob auch sie mir ein Foto von ihrem Badezimmer schicken würden. Und fast jede Freundin schickte mir den Kontakt einer weiteren Freundin, deren Badezimmer unbedingt Teil meiner Sammlung werden müsse. So kamen Tag für Tag Mails mit Fotos und kleinen Geschichten an, über Yucca-Palmen, Reisesouvenirs und mondäne Großmütter. Bald waren es über hundert Fotos, die alle viel über die Frauen erzählten, die sie aufgenommen hatten. Im November vergangenen Jahres versammelte ich die Bilder in Melanie dal Cantons Laden MDC in der Berliner Knaackstraße zu einer Ausstellung, die wir »The Bathroom Chronicles« nannten. Und anschließend zu diesem Buch.

Immer schon fand ich das Badezimmer interessanter als Küchen- oder Schlafräume. Es ist ein Ort, an dem man sich selbst begegnet, im Spiegel, beim Zähneputzen, Eincremen, Haare zurechtmachen, auf dem Weg in den Tag oder in die Nacht. Viele meiner Freundinnen bewahren ausgerechnet dort Dinge auf, die ihnen lieb und teuer, kleine Objekte, die für sie emotional bedeutsam sind: Fotos, Blumen, Schmuck, Erinnerungsstücke aus der Familie, Vintage-Funde, Bücher, Postkarten, Flacons, Düfte, alte Handtücher, kleine Meerjungfrauen, Plastikwale, Sanduhren, Cremes, Vasen, Pflanzen, Keramiktöpfe, Magazine, Lippenstifte. Es ist ein intimer Raum, vielleicht der intimste der ganzen Wohnung, in dem sie ihr Leben ausbreiten, sich selbst gegenübertreten, beim Aufwachen oder vor dem Ausgehen, ihre Identität konstruieren, ein Selbstporträt schaffen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich so gern in ihren Badezimmern aufhalte: weil dort ein bisschen was von ihrem Zauber, ihren Alltagsritualen greifbar wird.

Eine Freundin, die inzwischen in Tokio lebt, schenkt mir jedes Jahr ein kleines Cologne der Marke Johnson’s. Es stammt aus der Drogerie und ist eigentlich nichts anderes als Duftwasser für Babys. Sie weiß, wie gern ich diese einfachen Düfte mag, wie sehr sie mich an unsere gemeinsame Kindheit erinnern und an ihre Mutter, die uns früher diese Colognes immer mitbrachte. Eine andere Freundin liebt es, sich in meinem Badezimmer umzusehen, jenen Duft oder diesen neuen Lippenstift auszuprobieren. Wenn ich bei ihr zuhause bin, mache ich es genauso und möchte dann am liebsten alles aus ihrem Badezimmerschränkchen mitnehmen – als könnte ich meine Freundin über diese Gegenstände immer ein Stück weit bei mir haben.

Nicht alle Frauen in diesem Buch sind meine Freundinnen, und doch hängen alle zusammen, sind Freundinnen von Freundinnen. Sie sind zwischen 20 und 75 Jahre alt, manche leben auf dem Land, viele in Großstädten, in Tokio, Johannesburg oder in Berlin. Manche ihrer Motive sind aus dem Leben gegriffen, andere fein arrangiert. Jede der Frauen erzählt in eigenen Worten, was sie darauf von sich erkennt. Entstanden ist ein Reigen, der Einblicke in die geheimen Kammern ihres Lebens gibt – hundert Alltagsporträts im Kleinen.

Friederike Schilbach

DAS ICH UNTER DEM SPIEGEL
Ein Vorwort von Niklas Maak

Der erste Gang am Morgen führt ins Bad, vor den Spiegel. Der erste Schreck des Tages: Man begegnet einer noch von der Nacht zerknüllten, blinzelnden, müden Version seiner selbst, die bearbeitet werden muss. Im Bad verwandelt sich der aus der Nacht in den Tag herübergestolperte Mensch mit Duschgels, Parfums, Make-ups, Cremes, Töpfchen und Gerätschaften in das, was er eigentlich sein möchte.

Das Bad ist so alt wie das Haus. Schon die frühesten Hütten hatten Waschschüsseln, und man weiß, dass auf Kreta schon 1700 vor Christus Badewannen und Abwasserrohre installiert wurden. Doch es dauerte, bis das Bad zum festen Bestandteil jeder Wohnung wurde. Noch um 1900 war ein eigenes Badezimmer in vielen europäischen Großstädten ein seltener Luxus – nicht einmal fünf Prozent aller Wohnungen waren damit ausgestattet, und wer eins hatte, wusste oft nicht, was er mit dem Raum machen sollte: »Eine Badestube«, heißt es bei Fontane, »ist ’ne Rumpelkammer, wo man alles unterbringt, alles, wofür man sonst keinen Platz hat.«

Das ist heute anders. In einer um Wellness und Wohlergehen besorgten Gesellschaft wird so viel Geld wie noch nie fürs – jetzt als »Spa-Landschaft« beworbene – Badezimmer ausgegeben. Die Deutschen investieren immer mehr in ihre Bäder, die Sanitärbranche steigerte ihre Umsätze von 16,3 Milliarden im Jahr 2005 auf 21,5 Milliarden Euro. Der Hang zum Wellness-Tempel mit freistehender Badewanne kostete sogar schon manchen Würdenträger seine Karriere: Dem Limburger Bischof Tebartz-van Elst brach am Ende vor allem seine luxuriöse Philippe-Starck-Badewanne mit doppelter Nackenstütze, wie man so sagt, das Genick. Dabei haben katholische Geistliche schon immer ein großes Interesse am Bad gehabt – und oft ging es dabei um mehr als um Entspannung und Körperpflege.

1684 veröffentlichte der Jesuitenpater Filippo Buonanni sein Traktat »Ricreatione dell’occhio e della mente nell’osservation delle chiocciole«; es handelte davon, dass wirkliche Erkenntnis nicht möglich sei, wenn man nur in der leeren, kalten Studierstube nachdenke. Vielmehr müsse auch der Körper sinnlichen Erlebnissen ausgesetzt werden – so begreife man die Schönheit der Schöpfung am besten, wenn man in der Badewanne liege und, von angenehmen Düften und Dämpfen umweht, eine Muschel betrachte. Spätestens mit diesem Werk war das Badezimmer nicht mehr nur ein funktionaler Raum, das »Pièce d’eau«, in dem es Wasser gab. 

Mit der technologischen Revolution wandeln sich auch die Räume der Wohnung. Während die Küche und das Wohnzimmer schon immer so etwas wie der öffentliche Raum, der Marktplatz der Wohnung waren, galten Bad und Schlafzimmer als eher intime Räume. Das Bild, das wir vom Badezimmer haben, war dabei lange das eines relativ neutralen, funktionalen, normierten Raums: hier die Dusche, dort das Waschbecken, die Toilette, der Spiegelschrank, ein Brett, auf dem Zahnbürste, Deo, Rasierklingen und Parfums angeordnet sind. Vor allem aber war das Bad mit Scham besetzt, es herrschte Angst, dass es zu viel über einen verraten könnte.

Selbst die Protokollchefin von Konrad Adenauer, Erica Pappritz, mahnte in ihrem Bestseller »Die kleine Etikette« von 1956, dass das Badezimmer keineswegs nur ein privater Raum war, den man für sich hat. In ihrer Benimmfibel entwirft sie ein Schreckensszenario, bei dem Gäste ins Bad kommen und dort viel über den Gastgeber erfahren: »Dann ist der Blick über all’ die Toilettenartikel geglitten, die da auf der Glasplatte unmittelbar vor ihren Augen aufgebaut waren … da liegt ja so eine Draht-Haarbürste. Und Haarwasser nimmt er auch … Diesen Zahnbürsten sieht man an, dass sie zwar benutzt, selbst jedoch höchst mangelhaft gereinigt werden.« Laut Pappritz konnte das, was das Badezimmer verrät, die Karriere beenden oder in den sozialen Tod führen: »Trifft man derartige Beobachtungen bei einem Vorgesetzten, dann mindert sich Ehrfurcht. Ist es ein Untergebener, dann setzt leises Misstrauen ein: Wenn der im Dienst auch so schlampig ist wie zuhause …« Als Schwellenraum zwischen dem Öffentlichen und dem Intimen wurde das Bad so in der frühen Bundesrepublik zum Charakterbild, während das Schlafzimmer jedenfalls offiziell für Vorgesetzte wie untergebene Gäste tabu war, und es behielt diese neutrale Funktionalität lange: Bett, Nachttische, Schrankwand, vielleicht ein Bild über dem Bettgiebel – und keinerlei repräsentative Aufgaben.

Doch seit einiger Zeit wird das Schlafzimmer immer mehr von einem Raum, in dem vor allem geschlafen wurde, zu einem Ort, an dem man, mit dem Laptop auf dem Bett liegend, Filme schaut und googelt und skypt und im Internet Dinge kauft und liest und mailt und auf Facebook ist – also all das tut, was man früher auf dem Marktplatz, im öffentlichen Raum tat: Informationen austauschen, miteinander reden, Dinge kaufen und verkaufen, unter Umständen Produkte herstellen (es gibt Webdesigner, die den ganzen Tag vom Bett aus arbeiten). Und was tut jemand, der den ganzen Tag auf dem Bett lag und telefonierte, layoutete, chattete, skypte, mailte, googelte, wenn er nach getaner Arbeit einmal das