Ulrich Renz

 

DIE TYRANNEI DER ARBEIT

 

Wie wir die Herrschaft über unser Leben zurückgewinnen

 



 

 

Sefa

 

Sefa Verlag Lübeck





Wenn nicht jetzt, wann dann?




TALMUD, SPRÜCHE DER VÄTER (HILLEL) 1,14

Inhalt


Vorwort zur aktualisierten Neuauflage

Vorwort: Das Leben, die Arbeit und die Träume

1. Das Ende der Arbeit?

2. Der neue Klang der Arbeit

3. Frei?Zeit?

4. Die Suche nach dem Sinn

5. Das Leiden an der Arbeit

6. Zivilisationskrankheit Arbeit

7. Die lange Geschichte der Arbeit und die kurze Geschichte ihrer Verherrlichung

8. Aktive Menschen auf der Suche nach Selbstverwirklichung

9. Ein Held in unserer Zeit: Der Homo guttenbergensis

10. Kindheit als Casting

11. Die Krisenmacher

12. Neue Chancen?

13. Wird Arbeit weiblich?

14. Mehr Leben wagen

15. Ausgestiegen?

Dank

Zum Weiterlesen

Quellennachweis

Impressum

Vorwort zur aktualisierten Neuauflage

 

Seit dem ersten Erscheinen meines Buches »Die Tyrannei der Arbeit« sind vier Jahre vergangen. Eine Zeitspanne, in der vom Arbeitsmarkt eine Rekordmeldung nach der anderen gekommen ist (und weiterhin kommt): Noch nie waren so viele Beschäftigte in Lohn und Brot, die Arbeitslosigkeit ist auf einem Tiefststand angelangt, ein Traum, der noch vor zehn Jahren unerreichbar erschien, ist in greifbrare Nähe gerückt: Vollbeschäftigung.

Wir sind wieder Exportweltmeister, und unsere Wirtschaft weist Wachstumsraten auf, an die wir gar nicht mehr gewohnt waren. Noch keine Generation vorher hat so viel Vermögen aufgehäuft, keine lebte abgesicherter, noch nie konnten wir Deutsche uns so viele materielle Träume erfüllen.

Nur passt die Stimmung nicht so recht zu den wunderbaren Zuständen. Eine klamme Verzagtheit liegt in der Luft, wir fühlen uns von »Krisen« umstellt, und die Zukunft macht uns Angst.

Offenbar ist unser Weg zum Wohlstand nicht identisch mit dem Weg zum Glück. Im Grunde unseres Herzens WISSEN wir das, aber mit der Glückssuche hat es so seine eigene Bewandtnis: Es kommt gern mal was dazwischen, immer gibt es Dringenderes und Naheliegenderes zu tun. Und lustige Gesellschaft hat man auch nicht immer dabei: Jeder geht auf seinem eigenen Weg, und jeder mit seinem eigenen Gepäck.

Dieses Buch soll kein Wegweiser sein, aber die Suche mit Anregungen begleiten.

Für diese Taschenbuchausgabe wurden alle Zahlen und Fakten auf den aktuellen Stand gebracht, und alle Fußnoten und Belege sind nun, im Gegensatz zur Originalausgabe, im Anhang des Buches abgedruckt.

Ich wünsche Ihnen eine bereichernde Lektüre.

 

Lübeck, im November 2017

Ulrich Renz

Vorwort: Das Leben, die Arbeit und die Träume

 

Ein Buch gegen die Arbeit? Zwar ist der Autor hoffnungsloser Romantiker und Freund von Utopien. Aber er ist nicht doof. Er weiß, dass wir alle von unserer Hände Arbeit leben, als Einzelne wie als Gesellschaft. Wir brauchen Schulen, Wasserwerke und Krankenhäuser – und damit auch Steuerzahler und Finanzbeamte. Wer meint, es würde uns besser gehen, wenn wir uns alle von der Arbeit möglichst fernhielten, hat noch nie mit Sozialarbeitern oder Jugendrichtern gesprochen, für deren jugendliche Klientel ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz oft genug der letzte Strohhalm ist.

Nein, dieses Buch ist keine Kritik der Arbeit. Es ist eine Kritik an der Tyrannei, zu der sie sich über unser Leben aufgeschwungen hat. Eine Kritik an der Fantasielosigkeit, die unsere Gesellschaft infiziert hat, sodass sie sich ein Leben jenseits der Arbeit gar nicht mehr ausmalen kann. Die sich keine Pause gönnen kann, weil sie Angst hat, das Rad könnte stehen bleiben. Die Schulden machen muss, damit es ja nicht aufhört, sich zu drehen. Eine Gesellschaft, die gar nicht mehr fragt, ob hinter dem rasenden Schaffensdrang in Wirklichkeit nicht Selbstaufgabe steht – die Kapitulation vor der Leere, die sie nicht mehr anders ausfüllen kann als durch einen immer hektischeren Warenausstoß.

Dieses Buch erscheint genau zwölf Jahre nach dem Buch Die Kunst, weniger zu arbeiten, das ich zusammen mit Axel Braig verfasst habe.1 Seither ist die Frage noch brisanter geworden, welchen Platz wir der Arbeit in unserem Leben zuweisen wollen. Denn in den letzten Jahren sind wir Zeugen eines atemberaubenden Wandels geworden, der in mancherlei Hinsicht die Qualität einer Zeitenwende hat.

Es wird deshalb in diesem Buch die Rede sein von dem neuen verführerischen Klang, den Arbeit bekommen hat – zumindest für diejenigen, die Qualitäten vorweisen können, die in der modernisierten Globalwirtschaft unserer Zeit hoch im Kurs stehen. Deren Besitzer können sich vor Arbeit gar nicht mehr retten – und wollen es oft auch gar nicht mehr, weil ihr Arbeitsplatz längst zum besseren Zuhause geworden ist.

Es wird aber auch von den Verlierern die Rede sein, der wachsenden Schar an billigen »Servicekräften«, deren Arbeitsverhältnisse immer mehr denen der Dienstboten des 19. Jahrhunderts ähneln.

Es wird die Rede sein von den neuen Kirchen, als die sich globale Unternehmen zunehmend gerieren, indem sie ihren Mitarbeitern das Wir-Gefühl einer gemeinsamen »Mission« vermitteln, mehr noch: einen höheren Daseinszweck, ja, eine spirituelle Heimat.

Es wird die Rede sein vom unaufhaltsamen (Sie haben richtig gelesen!) Aufstieg der Frauen in der postindustriellen Arbeitswelt und davon, dass der Bedarf der Wirtschaft immer radikaler auch den Lebensbereich verändert, den wir einmal als unsere ganz private Angelegenheit angesehen hatten: unsere Familie.

Die Rede wird auch sein von den Leistungsträgern unserer Gesellschaft – deren Leistung aber allzu oft mehr in ihrer effizienten Selbstvermarktung liegt als im Kampf mit echten Lebensproblemen oder der Verwirklichung von Idealen (mit denen viele durchaus einmal gestartet sind). Wenn die Welt von Krise zu Krise taumelt, dann geht das auch auf das Konto unserer von Boni und Aktienoptionen aufgeputschten Eliten. Unsere »Macher« sind unsere Krisenmacher.

Auch deshalb lade ich zu einem neuen Blick auf das Thema Arbeit ein. Unsere Gesellschaft kann noch eine ganze Menge Unproduktive, Aussteiger, (Lebens-)Künstler, Privatgelehrte, Freaks, Gelegenheitsjobber, Langzeitstudenten, Globetrotter, Rumtreiber, Hausfrauen und Hausmänner, Privatiers, Hippies, Punker, Spontis und sonstige Minderleister vertragen, aber nur wenig mehr hyperaktive »Leistungsträger«, die auf ihrer Jagd nach »Erfolg« das Letzte aus sich und unserer Welt herausholen und in Gewinn verwandeln.

Aber nicht zuletzt wird auch die Rede von unserem eigenen Leben sein. Ich werde Ihnen ein paar Gedanken vorstellen, wie sich Sehnsüchte und Realität näher zueinander bringen lassen können, und vielleicht passt der eine oder andere davon ja in Ihr Leben. Patentrezepte habe ich nicht zu bieten, auch keine politischen Programme. Auf der Suche nach dem guten Leben geht jeder seinen Weg mit seiner eigenen Karte und hat sein eigenes Gepäck dabei.

Vielleicht – das wäre mein Wunsch – helfen Ihnen auf diesem Weg die Begegnungen mit den Menschen, den Ideen und den Träumen, die Sie in diesem Buch machen werden.

 

  

Ulrich Renz

Lübeck, im Juni 2013

 

1. Das Ende der Arbeit?

Am 21. März 1989 legt ein gewisser Ulrich Renz sein zweites medizinisches Staatsexamen an der Medizinischen Hochschule zu Lübeck ab.

Die Prüfung läuft so einigermaßen, aber richtig mit Herzblut ist der Kandidat nicht dabei. Die Uni spielt in seinem Leben mittlerweile eher die zweite Geige, und ob er überhaupt Arzt werden will, ist fraglich geworden. Denn das richtige Leben tobt gerade woanders: in einem Dachzimmer seiner Studenten-WG. Das Bett hat einem improvisierten Schreibtisch Platz gemacht, der den Raum fast vollständig einnimmt und an dem mehr oder weniger rund um die Uhr gearbeitet wird. Kommilitonen, Freunde, die Freundinnen der Freunde und neuerdings sogar eine Halbtagssekretärin bearbeiten Tatstaturen, zeichnen Abbildungen, fluchen über Computerabstürze (wir schreiben, wie gesagt, das Jahr 1989, der Arbeitsspeicher eines PC entspricht dem Hirnvolumen einer Qualle), und über nicht lesbare Floppy Disks (das sind diese rechteckigen Dinger … Sie wissen schon). Auf dem Tisch stehen tonnenschwere Monitore, daneben und auf dem Boden stapeln sich Ausdrucke und Korrekturfahnen. Leere Bierflaschen und Pizzaschachteln sorgen für eine Auflockerung der Papierturmlandschaft. Das Summen der Lüfter schafft zusammen mit der Abwärme der Geräte und dem Ozon aus dem Laserdrucker eine sinnlich-dichte Arbeitsatmosphäre.

Ach ja, fast vergessen: Der kleine Paul, zwei Jahre alt, tummelt sich gern unter dem Schreibtisch, und drückt auf alle möglichen und unmöglichen Knöpfe. Er ist so süß, aber trotzdem stellt sich große Erleichterung ein, wenn er abends endlich der von der Arbeit kommenden Mama in die Hände gedrückt werden kann. Schließlich rückt der Manuskriptabgabetermin unerbittlich näher.

Aber dann, im selben Jahr, ist es doch noch so weit. Ich halte es in den Händen, das Buch, das Buch, unser Buch! Ein Kompendium für die Kitteltasche, auf Dünndruckpapier, die Bibel für Jungärzte.

Die Party beginnt

Für die Menschheit entscheidender ist allerdings eine andere Begebenheit dieses Jahres: Am 9. November fällt in Berlin die Mauer. Das Ende einer Säkularreligion namens »Kommunismus« ist eingeläutet, die Aufteilung der Welt in zwei getrennte Sphären Geschichte. Aus Feinden sind potenzielle Kunden geworden, aus verbotenen Zonen Absatzmärkte.

Auch wenn der Mauerfall in die Geschichtsbücher als das Ereignis des Jahres eingehen sollte: Ganz im Verborgenen tut sich 1989 etwas, das sich auf Dauer als mindestens genauso bedeutsam erweisen wird: Am Forschungszentrum CERN in Genf entwickelt ein britischer Physiker namens Tim Berners-Lee sein »Hypertext-System«, das unter der Bezeichnung World Wide Web aus einem interkontinentalen Kabelsalat das Massenkommunikationsmittel macht, das wir heute unter dem Namen »Internet« kennen.

Mit dem Ende der bipolaren Welt und ihrer digitalen Vernetzung sind die Voraussetzungen für jene Kommunikations- und Transaktionsexplosion geschaffen, die wir heute als die Globalisierung bezeichnen – auch wenn diese in Wirklichkeit nur ein weiterer Schub eines Globalisierungsprozesses ist, der seinen Anfang schon gegen Ende des Mittelalters mit der Entdeckung Amerikas genommen hat und sich seither Welle um Welle beschleunigt.

Mit den 1990er Jahren wird daraus ein Globalisierungs-Tsunami. Alle sind jetzt mit allen verbunden, Gedanken, Informationen und Geschichten verbreiten sich blitzschnell um den Globus, Kunden und Produzenten finden sich auf einem riesigen Markt der Möglichkeiten wieder, in Echtzeit miteinander vernetzt. Geraunt wird von einer »New Economy«, die angeblich ganz anderen Gesetzen gehorcht als die altersschwache Analog-Wirtschaft, neuen Schwung für die stagnierenden Wachstumsraten verspricht – und traumhafte Renditen für das jetzt mobil gewordene Kapital. Keine fünf Minuten alte Garagenfirmen werden als Start-ups mit Geld überschüttet. Verbrennt es! Je schneller, desto besser! Die große Party hat begonnen, die Musik bestellen Börsianer und Investmentbanker.

Mit der Globalisierung wird das alte Europa angelsächsisch. Jetzt, wo mit dem Fall der Mauer die Rücksichtnahmen auf das Gegenmodell dort drüben entfallen, darf der Kapitalismus ruhig etwas kapitalistischer werden. Die Blaupause für das neue Wirtschaftsmodell kommt aus Thatchers Großbritannien und Reagans Amerika: Nach deren neoliberaler Doktrin geht es uns allen besser, wenn sich die Märkte selbst steuern – die Zauberworte heißen »Liberalisierung« (nichts weniger als Befreiung also!) »Deregulierung«, »Synergie-Effekte« und »Outsourcing«. Firmen werden auseinandergehauen und in anderer Form wieder zusammengebaut, Abteilungen in Tochtergesellschaften verschoben, die Produktion in Billigstandorte verlagert.

Berater tauchen in den Firmenfluren auf, smarte Jungs mit Krawatte und Köfferchen und ebenso smarte Mädchen in Powersuit, die in ihren Business Schools den Geist der neuen Heilslehre eingesogen haben und jetzt den Wandel mit ihren Charts und Tortengrafiken begleiten und moderieren.

Es sind keine brachialen Invasoren, sondern freundliche »Enabler«, die ihren »Support« anbieten, immer ein offenes Ohr auch für die Belegschaft haben, »Win-Win Situationen« für alle schaffen wollen. Die ihre Aufgabe darin sehen, mit den verkrusteten Firmenstrukturen auch alte Denkmuster aufzubrechen und durch »vernetztes Denken« das ungehobene neuronale Potenzial der Belegschaft freizusetzen. Mit der neuen Denke (meistens noch vorher) wehen ganz neue Vokabel-Wolken in die Büros: Prozessoptimierung, Turnaround, Benchmarking, Performance …

Auch ein gewisser Ulrich Renz bindet sich jetzt immer öfter die Krawatte um, auf seiner Visitenkarte prangt der »Geschäftsführer«. Er leitet jetzt einen kleinen Fachverlag, betreibt nebenher ein Satz- und Grafikbüro, man überlegt, ob man nicht in Polen setzen lassen soll. Schon bald kommt noch eine Visitenkarte dazu, auf der »Publisher« steht, weil das besser klingt als »Verleger«, der Job dahinter ist die Leitung eines altehrwürdigen Verlagshauses, das der Wind of Change in die Schieflage geblasen und das jetzt Zuflucht unter dem Dach eines Medienkonzerns gefunden hat.

Der Umbau dieses Unternehmens, das man noch mit Fug und Recht zur Old Economy zählen kann, wird bald zur Großbaustelle, auf der zwei Kulturen aufeinanderprallen: Turnschuh-Elan und Bürokraten-Trott. Digitale und analoge Welt. Junge, computeraffine Wilde, die bis spät in die Nacht an ihren Projekten puzzeln, und die alten Mitarbeiter, die sich verängstigt um ihren Betriebsrat scharen, der mit Zähnen und Klauen die gute alte Stechuhr verteidigt.

Schwierig … aber doch irgendwie, um es mit Jürgen Klopp zu sagen: geil.

Tage in Besprechungszimmern, Flugzeugen, Zügen, Nächte in Hotels, irgendwo. Ich haste von einem Termin zum nächsten, zu Konferenzen, Seminaren, von Besprechung zu Besprechung. Nicht in einer Besprechung zu sein, heißt, endlich Zeit zum Telefonieren zu haben.

Wochen und Monate rauschen vorbei, eine Runde jagt die nächste. Stress? Nein, es ist ein Aufbruch, ein großes Abenteuer. Und was für ein großartiges Gefühl, eine solche Aufgabe zu lösen, auf dem Boardmeeting die Bilanzen zu präsentieren, der große Chef aus Amerika ist offenbar zufrieden.

Ach ja – unser zweites Kind ist inzwischen geboren. Meine Freundin? Ist sauer, weil ich so viel unterwegs bin. Reden wir also lieber nicht vom Familienleben …

Shake it up!

Reden wir von den spannenden Zeiten, die jetzt angebrochen sind, der neuen Wirtschaft, den neuen Chancen, die sie bringt, und den neuen Zwängen. Wer als Unternehmen nicht von der Bildfläche verschwinden will, muss sich grundlegend verändern, und zwar ständig. Nur wenn es aggressiv und wendig wird, ist es fit für den globalen Wettbewerb. »Shareholder Value« ist das Wort der Stunde. Was zählt, ist die Story, auch wenn sie monoton immer vom Selben erzählt: dem großen Downsizing, dem Treibsatz für die Aktienkurse.

Es ist die Mauserphase des befreiten Kapitalismus, ehemalige Staatsbetriebe werden privatisiert und setzen ihre Belegschaften zu Zehntausenden frei, vulgo: schicken sie in die Arbeitslosigkeit. »Shake it up!« ist der Schlachtruf, den Jack Welch von General Electric, der bald zum Manager des Jahrhunderts gekürt werden sollte, seinen Kollegen zuschreit. Die Managerelite ist sich jetzt einig, dass ihre Unternehmen permanent auf Trab gehalten werden müssen. CEOs brüsten sich damit, ihr Unternehmen in vier Jahren viermal umgebaut zu haben2 – nur keine Ruhe einkehren lassen, keine Routine, die kreative Verunsicherung lässt Mitarbeiter ganz bestimmt zu Bestform auflaufen.

Auch in unserem Unternehmen ist der Wandel zum Normalzustand geworden. Auch wir haben einen Berater angemietet, der den Prozess »moderiert«, der versucht, Kulturen zueinanderzubringen, eine gemeinsame »Corporate Identity« zu stiften.

Mein Leben geht weiter wie bisher, von Termin zu Termin, aber immer öfter habe ich das Gefühl: dir fehlt etwas. Die Stimmung des Aufbruchs ist vorbei. Was einmal spannend war – jetzt ist es ein ganz normales, rastloses Managerdasein, das in das Zeitraster des Terminkalenders eingepresst ist, Tag für Tag, Seite um Seite. Ich ziehe das Leben durch, anstatt es zu leben.

Immer öfter geht mir die Frage durch den Kopf, was das alles mit mir zu tun hat. Mir fehlt das kreative Gestalten der Anfangszeit, das gemeinsame Brüten über Cover-Entwürfen, Layouts und Konzepten. Wie lange habe ich nicht mehr dieses Gefühl gespürt, dass man an einem Strang zieht, an einer gemeinsamen Sache arbeitet. Jeder verfolgt sein Ding, kämpft um seine Etats, seine Budgets, seine Tantiemen. Überall Machtspielchen, Blenderei, Fassaden, Taktik, Worte auf der Goldwaage.

In der Firma haben wir jetzt eine brandneue »Corporate Identity«, aber meine Identität, wo ist die geblieben? Meine Welt sind jetzt Kalkulationen, Kennziffern und Bilanzen.

Meine Welt? Ist das das Ziel meines Lebens? Mehr Umsatz zu machen, das nächste Jahr wieder 20 Prozent mehr Gewinn, das Konkurrenzprodukt abschießen, expandieren, Marktführer werden. Das soll das Ziel sein, für das ich dieses Sklavenleben führe? Erbärmlich.

Woraus besteht mein Leben noch? Ich verbringe meine Zeit mit Dingen, an die ich im Grunde nicht glaube. Habe ich mir so mein Leben vorgestellt?

Auf einem Spaziergang durch die Wiesen der Schwäbischen Alb steht mir plötzlich glasklar vor Augen, dass es nur eine Antwort gibt. Es ist einer jener Altweibersommertage, die noch Kraft und Wärme haben, aber schon den Herbst in sich tragen. In der Luft liegt ein zarter Dunst, über mir am Himmel ziehen die Bussarde ihre Bahnen. Ich greife zum Handy und wähle die Nummer meines Kollegen. Ich werde die Geschäfte nicht weiterführen.

Je näher die Jahrtausendwende kommt, desto mehr nähert sich die Fieberkurve der New Economy dem Siedepunkt. Der DAX strebt unaufhaltsam seinem Gipfel zu, innerhalb eines Jahrzehnts wird er von 1800 Punkten auf 8000 Punkte gestiegen sein.

Auch die 1998 gewählte rot-grüne Regierung will die Party nicht stören, sondern sorgt mit der Deregulierung des Investmentbankings im Gegenteil für noch mehr Spaß mit Hedgefonds und Derivaten, mit denen sich jetzt immer undurchsichtigere Wettgeschäfte abschließen lassen. Jürgen Schrempp bringt sein schwäbisches Unternehmen an die Wall Street, Sozen tragen jetzt Brioni-Anzug und rauchen edle Zigarre, Gewerkschafter vergnügen sich zusammen mit den Bossen auf deren Luxussausen.

Aber der größte Teil der Bevölkerung ist bei der Party nicht dabei. Auch die Freude über die Wiedervereinigung ist den meisten Deutschen schon bald vergangen – die im Osten sind über Nacht zum überflüssigen Anhängsel geworden, dessen Alimentierung wiederum die im Westen überfordert. Blühende Landschaften jedenfalls wollen partout nicht entstehen, stattdessen erreicht im Osten wie im Westen die Arbeitslosigkeit von Jahr zu Jahr neue Höchststände. Millionen von Menschen gehen im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt einer Scheinbeschäftigung zu einem Scheinlohn nach, der Staat häuft dafür Schulden um Schulden auf.

Mit den immer neuen Rekordmeldungen der Arbeitslosenstatistik bekommt die These vom »Ende der Arbeit« Konjunktur. Im Jahr 1995 organisiert Michael Gorbatschow eine Konferenz zum Thema »Zukunft der Arbeit«, auf der sich die hochkarätigen Teilnehmer aus Politik und Wirtschaft einig sind: Nur 20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung würden im 21. Jahrhundert ausreichen, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten. »Mehr Arbeitskraft wird nicht gebraucht.«4

Der modernisierte Arbeitsmarkt

Einstweilen geht der Boom an den Aktienmärkten ungebremst weiter – bis die Blase im März 2000 platzt und dem noch jungen Jahrhundert seine erste Wirtschaftskrise beschert. In immer breiteren Schichten greift die Angst vor der Globalisierung um sich, und mit ihr die Ahnung, dass harte Zeiten bevorstehen.

»Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen«5 – mit diesen Worten kündigt Bundeskanzler Gerhard Schröder im Frühjahr 2003 vor dem Bundestag die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen an, die heute unter dem Namen Agenda 2010 firmieren. Das Geheimnis hinter den Reformen besteht im Wesentlichen darin, die Nachfrage nach Arbeit zu stimulieren, indem deren Preis gesenkt wird. Insbesondere werden die Möglichkeiten der »atypischen Beschäftigung« erweitert: befristete Arbeitsverhältnisse, Mini-Jobs ohne Sozialversicherungspflicht sowie Teilzeitarbeit. Leiharbeit wird durch den Wegfall der zeitlichen Beschränkung der Überlassungsdauer attraktiver gestaltet.

Die Reformen sind von durchschlagendem Erfolg gekrönt: Heute erfolgen 45% der Neueinstellungen befristet;6 7,5 Millionen Menschen gehen ihrem Lebenserwerb per Mini-Job nach, weitere 3,1 Millionen bessern damit ihr Einkommen aus einem anderen Job auf.7 Damit gehen in Deutschland 8,6% der Angestellten einem Zweitjob nach.8 Die Leiharbeitsbranche erlebt einen nie dagewesenen Boom, insgesamt leiht sie rund eine Million ihrer Klienten9 an andere Unternehmen aus – die damit Auftragsspitzen abfangen können, gerne aber auch auf Dauer ihre Lohnkosten drücken.

Der Billiglohnsektor ist zu dem Boomsegment des Arbeitsmarktes geworden. Mittlerweile arbeitet hier jeder fünfte Erwerbstätige; das sind deutlich mehr Menschen als in den meisten Nachbarländern.10 Beispiel Brief- und Paketzustellung: Wurde die Post früher von teuren Quasi-Beamten mit Wochenendzulage und soliden Rentenansprüchen zugestellt, kommt sie heute durch Mini-Jobber oder sonstige Teilzeitkräfte ins Haus. Und die werden in manchen Fällen nicht mehr nach Arbeitszeit bezahlt, sondern »erfolgsabhängig«, also zum Festpreis pro ausgelieferter Sendung – so wie jetzt viele Putzfrauen pro geputztem Hotelzimmer, oder Callcenter-Agenten pro gewonnenem Kunden bezahlt werden.

Die Renaissance der Arbeit

Seit 2005 befindet sich die Zahl der Arbeitslosen im Sinkflug; mit 2,39 Millionen oder 5,4 Prozent hat sie sich inzwischen halbiert (Stand Oktober 2017). Bei aller Euphorie sollte aber nicht vergessen werden, dass die tatsächliche Zahl der Arbeitssuchenden deutlich höher liegt, denn von der Statistik werden diejenigen nicht erfasst, die beispielsweise krankgeschrieben sind oder an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnehmen. Die Gesamtzahl derjenigen, die dem Jobwunder von der Seitenaus-Linie zuschauen müssen (in der Bundesamt-Statistik tauchen sie als »Unterbeschäftigte« auf) liegt derzeit bei 3,37 Millionen.11 Nicht enthalten sind in dieser Zahl allerdings weiterhin die ca. zwei Millionen Teilzeitbeschäftigte, die gerne mehr arbeiten würden. Ganz zu schweigen von denjenigen, die zwar gerne Arbeit hätten, aber erst gar nicht den Weg zum Arbeitsamt antreten, weil sie diesen für aussichtslos halten. Die reale Quote an Unterbeschäftigung dürfte also immer noch bei weit über zehn Prozent liegen, eher bei fünfzehn. Dem aktuellen Job-Boom tut das jedoch keinen Abbruch. Mit 44,3 Millionen sind derzeit mehr Menschen in Lohn und Brot als jemals zuvor in der deutschen Geschichte. Selbst die Arbeitslosen gehen in sogenannten Ein-Euro-Jobs einer geregelten Arbeit nach.

Bei genauerer Betrachtung verbirgt sich hinter dem Jobwunder sogar noch ein zweites: Es sind nämlich nicht nur mehr Menschen bei der Arbeit –sondern sie arbeiten auch noch mehr als zuvor. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit, die bisher kontinuierlich am Absinken war, steigt seit ein paar Jahren wieder. Die 35-Stunden-Woche, einst als das Modell der Zukunft gefeiert, ist zum Auslaufmodell geworden, das außerhalb von Wolfsburg nur noch auf ein paar wenigen Inseln der Glückseligen praktiziert wird. Heute arbeitet ein Vollzeit-Angestellter durchschnittlich 40 Minuten länger, als er das vor 15 Jahren tat.12 Wenn man die Überstunden einrechnet, die in Deutschland traditionellerweise gern gemacht werden, kommt er im Schnitt auf 43,5 Wochenstunden.13 Lange Arbeitszeiten sind insbesondere unter Niedriglöhnern verbreitet, jeder Vierte von ihnen arbeitet mehr als 50 Stunden.14 Dazu kommt, dass die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsplatz immer länger geworden sind. 60 Prozent aller Arbeitnehmer pendelten 2016 zum Job in eine andere Gemeinde – im Jahr 2000 waren es noch 53 Prozent.15 Der durchschnittliche Arbeitsweg hat sich in den letzten zehn Jahren um ca. 15 Prozent verlängert und liegt heute bei 17 Kilometern für die einfache Fahrt.16 Jeder fünfte Arbeitnehmer verbringt Woche für Woche mehr als 10 Stunden auf der Fahrt zur Arbeit – und damit, auf das Arbeitsleben hochgerechnet, ziemlich genau zwei volle Lebensjahre.17

Aber nicht nur die Arbeitstage werden länger, auch die Lebensarbeitszeit nimmt wieder zu: Das offizielle Rentenalter wurde auf 67 Jahre heraufgesetzt, und durch die Beschränkungen der Frühverrentung wurde auch der tatsächliche Eintritt in den Ruhestand erheblich verzögert. Der Anteil der 60- bis 64-Jährigen unter den Arbeitnehmern liegt heute bei rund einem Drittel, vor fünf Jahren waren es nur 20 Prozent.18 Und inzwischen wird die Forderung von Ökonomen nach einer weiteren Heraufsetzung des Rentenalters immer lauter. »Die Politik muss sich endlich ehrlich machen und den Menschen sagen: Die Lebensarbeitszeit wird weiter steigen müssen«, sagt etwa der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher.19 So, wie das Ende des Arbeitslebens nach hinten verschoben wurde, hat man auch seinen Anfang vorgezogen. Heutige Kinder werden fast ein Jahr früher eingeschult als die Generation vor ihnen, und für die meisten von ihnen hat sich dank G8 noch dazu die Zeit bis zum Abitur um ein Jahr verkürzt. Ein Jugendlicher, der heute am Eintritt ins Berufsleben steht, wird schätzungsweise 10.000 Stunden mehr bei der Arbeit verbringen als Papa oder Mama – also umgerechnet mehr als ein halbes Jahrzehnt.20

Das Ende der Arbeit ist also ausgeblieben. Stattdessen erleben wir eine fundamentale Trendwende: Die pro Kopf erbrachte Arbeitsmenge, die sich seit Beginn des Jahrhunderts halbiert hat, nimmt wieder zu. Der Ökonom Meinhard Miegel spricht von einer »Renaissance der Arbeit«, deren Ursache er in einer fundamentalen Neubewertung der Produktionsfaktoren sieht: Mit dem Ende des billigen Öls und den steigenden Kosten für Therapie und Prävention von Umweltschäden nähern sich Energie und Rohstoffe ihrem realen Preis, für Unternehmen wird es also immer lohnender, verstärkt den im Vergleich dazu relativ billigen Faktor Arbeit einzusetzen.21

Von der wachsenden Nachfrage nach Arbeit profitiert aber nur eine Minderheit: diejenigen nämlich, die mit ihrer Qualifikation über eine USP, eine »Unique Selling Proposition« verfügen – also eine Fähigkeit, die von anderen nicht massenhaft angeboten werden kann. Für alle anderen sind die guten Zeiten vorbei. Im ersten Quartal 2016 stiegen die Reallöhne zwar um 2,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr, doch damit befinden sie sich immer noch auf einem Niveau, welches nur minimal über dem der 90er Jahre liegt.22 Angestellte in Führungspositionen verzeichnen einen immer stärker werdenden Anstieg ihrer Gehälter, der umso höher ausfällt, je höher ihre Position ist. Die realen Bruttolöhne der unteren 40 Prozent liegen jedoch zum Teil deutlich niedriger als vor zwanzig Jahren.23

Unterm Strich ist also eine Polarisierung zwischen den unteren und den oberen Rändern des Arbeitsmarktes zu verzeichnen. Für die meisten Deutschen gilt, dass sie heute zwar mehr arbeiten, dafür aber weniger Geld bekommen. Und daran hat auch der Boom auf dem Arbeitsmarkt nichts geändert.

Globalisierung der Rastlosigkeit

Nun mag man einwenden, dass es sich bei diesem Boom um ein deutsches Sonderphänomen handelt, bedingt etwa durch den für eine Exportnation günstigen Euro. Funktioniert das deutsche Beschäftigungswunder vielleicht einfach nur deshalb, weil in Krisenländern Arbeit abgebaut wird? Auf den ersten Blick scheint die hohe Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Staaten diese Annahme zu bestätigen. Aber eben nur auf den ersten Blick. Denn der Treck zur Arbeit findet auch in Europa als Ganzem statt – auch wenn er in vielen Ländern durch die Finanz- und Wirtschaftskrise zwischenzeitlich zum Halten gekommen ist. Nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 ist die Erwerbstätigenquote in Gesamteuropa von 65,8 auf 64,2 Prozent gesunken (2012). Inzwischen ist der Wert auf 67,7 Prozent gestiegen, und liegt damit weit über den 62,4 Prozent, die er vor zwanzig Jahren erreicht hatte. In Europa sind damit heute ca. 40 Millionen Menschen mehr bei der Arbeit als vor den Krisenjahren.24

Und noch mehr Jobs zeichnen sich schon am Horizont ab: Viele der Krisenstaaten haben sich in ihrer Not aufgemacht, ihre Arbeits- und Sozialsysteme nach deutschem Vorbild zu modernisieren und ihre Arbeitslosen aus der staatlichen Versorgung in einen blühenden Servicesektor zu entlassen. Spanien etwa hat als erstes Flexibilisierungshindernis bereits die traditionelle Siesta abgeschafft,25 und ist inzwischen zum Großexporteur geworden.26 In Frankreich wird das Renteneintrittsalter gerade von 60 auf 62 Jahre angehoben.27

Der Treck zur Arbeit ist ein globales Phänomen. In den USA ist die Anzahl der Beschäftigten von 2010 bis heute um 14 Millionen auf heute 153,5 Millionen angestiegen.28, auch die Arbeitslosenrate beträgt nur noch 4,68 Prozent. Damit hat sie sich in den letzten sieben Jahren halbiert. Und diejenigen, die in Lohn und Brot stehen, arbeiten inzwischen immer exzessiver, mit durchschnittlichen (!) Wochenarbeitszeiten von 47 bis 49 Stunden.29

Wahrscheinlich war der Planet noch nie so rastlos wie heute. Trotz aller Krisen hat die weltweite wirtschaftliche Aktivität mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von über 4 Prozent in der vergangenen Dekade um mehr als die Hälfte zugelegt. Aus Entwicklungsländern sind Schwellenländer geworden, aus Schwellenländern Industrienationen, aus Subsistenzbauern Arbeiter, aus Arbeitern Angestellte. Immer mehr Menschen auf unserem Planeten wollen teilhaben an der stets wachsenden Welt der Güter und Dienstleistungen, die ihnen ein besseres Leben versprechen. Ein besseres Leben – der Eintrittspreis ist für alle derselbe –, das sie jetzt bei der Arbeit verbringen.

2. Der neue Klang der Arbeit

 

Das Ende der Arbeit ist also vorerst ausgefallen – die Arbeitsgesellschaft kann aufatmen. Die ungemütliche Suche nach einem neuen Daseinszweck hat sich erst einmal erübrigt.

Aber noch eine andere frohe Botschaft ist zu vermelden, wenn wir die letzten Jahre Revue passieren lassen: Die Arbeit ist schöner geworden. Vielleicht nicht für alle – wir werden noch darauf zurückkommen –, aber zumindest für diejenigen, die auf der Siegerseite der neuen Marktordnung stehen. Dort wo sie arbeiten, ist es netter geworden. Gut, ein paar nervige Kollegen gibt es immer, aber alles in allem stimmt das Klima. Und der Chef ist auch lockerer. Er brüllt nicht mehr so oft, er wirft sich in Besprechungen seltener in die Kann-nur-ich-Pose. Vielleicht weil er die Wochenenden jetzt öfter auf Seminaren verbringt, Thema: »Führungskompetenz durch emotionalen IQ« oder »Nie ohne Empathie«.

Doch, wirklich, es ist netter geworden am Arbeitsplatz.

 

Arbeit wird flexibel

Waren wir eigentlich jemals freier bei unserer Arbeit? Wer den Film Modern Times von Charlie Chaplin kennt, hat eine Ahnung davon, wie sich der Arbeiter früher gefühlt haben muss: wie ein kleines Zahnrädchen in einer riesigen, anonymen Produktionsmaschinerie. Für die Büroangestellten war es nicht anders: In Reih und Glied sitzen sie über ihren Kontobüchern oder Rechenblättern, Ärmelschoner umgeschnallt, die Anweisungen kommen per Röhrenpost, immer von oben, wo die Bosse sitzen. Deren Kommandos sausen hinunter zu den mittleren Chefs, werden dort abgearbeitet und in neue Befehle verwandelt, und so geht es weiter von Etage zu Etage, bis sie unten in der Schreibstube angekommen sind, wo die Angestellten über ihren Papieren oder an ihren Schreibmaschinen hocken, unter der strengen Aufsicht des Supervisors, der mit misstrauischem Blick die Reihen seiner potenziellen Bummelanten abschreitet.

Nach dem Krieg verliert das Modell des Industriezeit-Büros seinen militärischen Touch, aber das Prinzip bleibt dasselbe: Die Aufgaben kommen von oben, allzu viel Selbstdenken ist nicht gefragt. Dafür Sekundärtugenden wie Sorgfalt, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit.

Die Welt der Arbeit hat – räumlich wie zeitlich – eine exakt definierte Grenze, an der ein Wachposten namens Stechuhr steht. »Einstempeln« und »ausstempeln« gehörten einmal zum Sprachgebrauch des Angestellten wie heute das »Meeting« oder der »Support« von der IT-Abteilung. Die Stechuhr ist das unverzichtbare Herzstück der Büroorganisation der industriellen Epoche. Sie stellt sicher, dass der Arbeitnehmer, dieser große Drückeberger, seinem Chef auch wirklich die Portion seiner Zeit zur Verfügung stellt, für die er auch bezahlt wird. Zu den damals modernen Zeiten Charlie Chaplins sind das jeden Tag acht Stunden mit Ausnahme des heiligen Sonntags. Seit den 1960er Jahren gehört Papi auch samstags seiner Familie.

Der Arbeitnehmer der Industrialisierungsepoche ist in seiner Persönlichkeit gespalten. Er besitzt zwei separate, schon rein äußerlich unterscheidbare Identitäten, zwischen denen er zweimal pro Tag wechselt. Morgens, wenn er die Krawatte umbindet, die Aktentasche packt und das Haus verlässt, und abends, wenn sich dieselbe Verwandlung im Rückwärtsgang abspielt.

Im Lauf der 1980er Jahre beginnen sich die starren Grenzen zwischen den beiden Welten aufzulösen. Das Stichwort heißt »Flexibilisierung der Arbeitszeit« – und auch diese Flexibilisierung besitzt von Anfang an zwei Gesichter: Auf der einen Seite kommt sie dem Angestellten entgegen, dessen individuelle Rhythmen und Bedürfnisse durch Gleitzeit und Arbeitszeitkonten Berücksichtigung finden. Auf der anderen Seite soll selbstverständlich auch der Arbeitgeber auf seine Kosten kommen. Für dessen Maschinen besteht der Tag nun einmal seit jeher aus exakt 24 Stunden, und das auch am Wochenende. Und so kommt es, dass sich, ganz allmählich, der Arbeitsrhythmus der flexibilisierten Arbeitnehmer langsam wieder den Maschinenlaufzeiten annähert.

Papi (oder Mami) gehören inzwischen in mehr als jeder vierten Familie samstags nicht mehr den Kindern (oder dem Hund), sondern der Firma – vor 15 Jahren war das noch in jeder fünften der Fall.30 Ein Viertel ist mittlerweile auch nach 18 Uhr bei der Arbeit – vor 25 Jahren war es noch jeder siebte –, nachts zwischen 23 und 6 Uhr immerhin fast jeder Zehnte.31 Auch die Zahl der Schichtarbeiter stieg von 1995 bis 2015 von 3,8 Millionen auf 5,6 Millionen an.32

 

Arbeit wird mobil

Ein weiterer Schub bei der Entgrenzung der Arbeit verdankt sich der schlauen Technik. Internet, Smartphone und BlackBerry sorgen dafür, dass wir immer und überall erreichbar sind – und unser Arbeitsmittel praktischerweise schon in der Hand halten. Der Firmenserver kennt keine Stechuhr, der moderne Angestellte hat also auch mitten in der Nacht oder auch zwischen Hauptgang und Dessert Zugang zu seinen E-Mails, Präsentationsentwürfen oder der Projektmanagement-Software.

So wie es sich seit dem Beginn der Internet-Ära auch nach Ladenschluss noch einkaufen lässt, so kann man jetzt auch arbeiten, wenn im Betrieb nur noch die Leute vom Sicherheitsdienst herumschleichen. Keine Gewerkschaft und kein Arbeitsschutzgesetz können dem flexibilisierten Angestellten verbieten, nachts um zehn noch mal reinzukommen, wenn er einen Geistesblitz hat. Am nächsten Morgen schläft er dafür aus (wenn nicht ein weiterer Geistesblitz dazwischenkommt).

Seine physische Anwesenheit am Arbeitsplatz ist ohnehin immer weniger zwingend. Via Cloud Computing kann er auch die kompliziertesten Projekte über Zeitzonen und Kontinente hinweg bearbeiten, zusammen mit Kollegen, von denen er gerade mal die Namen kennt. Meetings und Besprechungen erledigt er per Online-Videokonferenz am Rechner – ob der zu Hause auf dem Schreibtisch steht oder im Park oder im Café ist unerheblich. Der moderne Wissensarbeiter braucht kein Büro, er ist das Büro. Noch dazu eines, das besser ausgestattet ist als das eines Vorstandsvorsitzenden der Analog-Ära samt Schreibkraft und Chefsekretärin. Und deutlich billiger.

Anfangs überwog bei Firmen die Skepsis, wenn ein Mitarbeiter »Heimarbeit« beantragte; sie befürchteten, er könne sich, erst einmal außerhalb der Aufsicht seiner Vorgesetzten, anderen Dingen hingeben als seiner Arbeit. Inzwischen sind Unternehmen in aller Regel sehr geneigt, solche Mitarbeiterwünsche zu erfüllen – entsprechend wurde die Arbeit in den eigenen vier Wänden als »Home Office« auch sprachlich aufgewertet. Aus diversen Studien weiß man: Wenn ihre Anwesenheit nicht kontrolliert wird, arbeiten Angestellte nicht nur motivierter, sondern auch deutlich länger.33

In vielen amerikanischen Unternehmen arbeitet bereits ein Großteil der Belegschaft von zu Hause aus. Dahinter stecken nicht unbedingt nur die Wünsche der Mitarbeiter, sondern knallharte wirtschaftliche Überlegungen – schließlich entfällt neben dem eingesparten Büroraum das unproduktive Herumsitzen im betriebsinternen Konferenzzirkus, und der Schwatz mit den Kollegen sowieso. Für viele Firmen ist das Arrangement »Heimarbeit« denn auch nur der erste Schritt zum kompletten Outsourcing geworden. Wenn der Mitarbeiter ohne Boss schon so fleißig und selbstständig arbeiten kann, warum sollte man ihn dann nicht gleich durch »echte« Selbstständige ersetzen, und sich so Sozialkosten, Krankheitstage und die Lohnbuchhaltung sparen?

Der »flexible Mitarbeiter« passt perfekt zum Verschlankungs-Megatrend der modernisierten Wirtschaft, in dem die Bezeichnung »Festangestellter« immer mehr zu einer Art Adelstitel wird, den eine gehätschelte Elite von Wissensarbeitern und Führungskräften für sich beanspruchen darf, ein immer kleiner werdender Inner Circle, der von hypermobilen Dienstleister-Trabanten umkreist wird – Digitalos und Pauschalos, die auf Honorarbasis in Cafés, im ICE oder in der DB-Lounge auf ihren Tastaturen klappern.

An der Frage, ob man in diesen Protagonisten der postmodernen Hyperflexibilität nun die Pioniere eines neuen Lebens- und Arbeitsstils sehen kann, die sich vom »Kaspertheater der festangestellten Bürosklaven« freigemacht haben – wie die Journalisten Holm Friebe und Sascha Lobo sich ausdrücken –, scheiden sich die Geister.34 Ein großer Teil der als »digitale Bohème« Mystifizierten dürfte sich jedenfalls genauso gut als »digitales Proletariat« beschreiben lassen, dessen Angehörige von ihren Auftraggebern gnadenlos heruntergehandelt und ausgebeutet werden.

Pioniere oder Proletarier – es werden jedenfalls immer mehr: Nach einer Studie der Deutschen Bahn soll zum Ende des Jahrzehnts jeder siebte Euro an Wertschöpfung über hochflexible, temporäre Projektarbeit im Netz erzielt werden.35

 

Büros zum Wohlfühlen

Wird also die Firma als konkreter Ort, an dem wir arbeiten, überflüssig? Wird uns die Technik des Virtuellen letztlich auch virtuelle Firmen bescheren, in denen sich Mitarbeiter nicht mehr in echt begegnen, sondern nur noch auf dem Bildschirm (in 3D natürlich)? Ziehen unsere Schreibtische in die Cloud um, so wie das die Festplatten unserer Computer tun?

Gerade in den Boom-Branchen wie IT oder Biotechnologie, in denen die mobilsten Mitarbeiter arbeiten, ist derzeit ein ganz anderer Trend zu beobachten. Hier stampfen Stararchitekten Firmenzentralen aus dem Boden, die mit den Großraumbüros früherer Zeiten so viel zu tun haben wie ein Gucci-Laden mit einem Billig-Outlet. Sonnendurchflutete Räume, Cappuccino-Bars, Designerlampen, Sitzecken in netten Farben, an den Wänden meditative Natursequenzen als Videoanimation. »Die Mitarbeiter sollen auf keinen Fall daran erinnert werden, dass sie arbeiten«, hört man in dem Dokumentarfilm Work Hard – Play Hard den Planer der neuen Unilever-Firmenzentrale in Hamburg sagen.

In einer Werbeagentur im niederländischen Haarlem lassen sich die Schreibtische auf Knopfdruck unter die Decke ziehen, dann setzt sich das Team um einen großen Esstisch und macht gemeinsam Mittagspause. Abends wird das Büro auf dieselbe Weise zu einer Veranstaltungsfläche verwandelt, wer will, kann zusammen mit den herbeiströmenden Nachbarn tanzen, meditieren oder kochen. »Es gibt doch heute«, kommentiert der Inhaber, »für viele keinen festen Feierabend mehr. Gerade deshalb sollten wir die Abende so angenehm wie möglich gestalten.«36

Google hat seine neue Zentrale in London mit riesigen Sofasitzecken, plüschigen Separees und einem Garten zum Unkrautjäten im Team ausgestattet – Teil einer »intelligenten Strategie für die Gestaltung von Arbeitsplätzen«, wie der verantwortliche Designer Lee Penson sagt.37

Der ideale Arbeitsplatz der Trend-Architekten sieht aus wie eine Kopie der privaten Welt, bloß schöner und aufregender. Das Design ähnelt mehr und mehr einer luxuriösen Hotellobby. Und genauso wie ein Hotel soll der Arbeitsplatz auch alle Annehmlichkeiten bieten, die das Leben bequemer machen. Wäsche- und Massageservice, Fitnessstudio, Kaffeebar, und in der Firmenkantine demonstriert durchaus mal ein Sternekoch seine Kunst, zum Beispiel in der Lübecker Biotech-Firma Euroimmun. Und die Kinder? Spielen zwei Etagen tiefer in der firmeneigenen Krippe. Einen zwingenden Grund, mal nach draußen zu gehen, gibt es nicht mehr.

Natürlich liegt im Trend zum Wohlfühl-Büro nicht gleich die »Zukunft der Arbeitswelt«. Der Fünf-Sterne-Service für Angestellte wird weiterhin auf die Bereiche beschränkt sein, wo Firmen den Rohstoff Kreativität zu satten Gewinnen veredeln können. Und auch in Zukunft werden vom warmen Klima in der Zentrale nur diejenigen unter den Mitarbeitern profitieren, die es zur Mitgliedschaft im Exklusivclub der Festangestellten gebracht haben. Die anderen bevölkern weiterhin als feste Freie oder auch digitale Bohemiens den kühleren Orbit drum herum.

Seit Marissa Mayer, die neue Chefin des angeschlagenen Internetkonzerns Yahoo, Anfang des Jahres 2013 sämtliche Heimarbeiter unter ihren 11.500 Angestellten zurück ins Büro schickte, um die Kommunikation und den Zusammenhalt zu stärken (»Wir müssen ein Yahoo sein"), wurde für viele schon das Ende des Home Office eingeläutet – zumindest als zusätzliche Option für die privilegierten Festangestellten. Kommentatoren (von denen manche in Yahoos Maßnahme nichts weniger als einen Schritt zurück ins 19. Jahrhundert sehen) beschwören sogar schon einen Kulturkampf um das Menschenrecht der freien Arbeitsplatzwahl.38

Viel eher werden auch in Zukunft die verschiedensten Arrangements friedlich koexistieren: jeder Firma ihr passendes Modell, Hauptsache die Mitarbeiter liefern ordentliche Arbeit. »Wenn die Leute entspannt sind, arbeiten sie effektiver«, resümiert Designer Penson. Deshalb hat er in seiner Google-Zentrale die Türen wie Eingänge von U-Booten gestaltet. Er will damit zeigen, dass Türen mehr sind als eine technische Notwendigkeit: »Es ist ein unbeschwertes, fröhliches Hindurchgehen.«

 

Unter Kumpels

Unbeschwert. Fröhlich. Und alle ein großes Team. Was für ein Unterschied zu dem »Arbeitsplatz« unserer Väter, zu dem sie morgens aufbrachen, Thermoskanne und Stulle in der Aktentasche, und von dem sie abends abgekämpft nach Hause kamen, um erst mal die Beine hochzulegen und das erste Bierchen zu zischen, der Auftakt zu einem Feierabend im heimeligen Kreis der Lieben, unbeschwert und fröhlich.

Wenn das wie verkehrte Welt klingt, dann deshalb, weil es genau das ist.

Das Feierabend-Bierchen? Gibt es noch, bloß nimmt man es heute in den »jungen« Trendbranchen selbstverständlich am Arbeitsplatz ein, gemeinsam mit den Kollegen und selbstverständlich auf Kosten des Chefs. Und wenn man Lust hat, zieht man danach noch zusammen los.

Das Wort »Kollege« hat die Distanz verloren, die immer mitschwang, wenn es aus dem Mund unserer Väter kam. Heute klingt es fast ein bisschen wie »Kumpel«. Wenn wir am Wochenende zum Grillen einladen, sind ziemlich wahrscheinlich auch ein paar Kollegen dabei. Auch der Chef ist nicht mehr die unnahbare Autoritätsperson, die er einmal war. Auch er wird immer mehr zum Buddy, mit dem man spätestens nach der ersten Weihnachtsfeier per Du ist.

Für viele der modernen Büroarbeiter besteht gar kein Grund mehr, außerhalb der Firma nach sozialen Aktivitäten zu suchen, etwa in einen Verein einzutreten. Die Jogging-Gruppe der Kollegen trifft sich zweimal die Woche, um sich gemeinsam auf den Marathon vorzubereiten, und im Sommer nehmen alle zusammen am Drachenboot-Rennen teil, selbstverständlich im Firmentrikot. Der französische Telekommunikationskonzern Orange nennt 31 Betriebschöre sein eigen, die sich einmal die Woche in der Mittagspause unter der Leitung eines von der Firma angeheuerten Chorleiters treffen, um gemeinsam eine Aufführung vorzubereiten.39

Die Firma ist jetzt unser soziales Universum. Hier ist man unter Freunden, durch die gemeinsame Arbeit verbunden, durch die Schwierigkeiten, die man zusammen gemeistert hat, die Siege aus auswegloser Lage, in letzter Sekunde. Je mehr einem tagsüber die Kugeln um die Ohren pfeifen, desto schöner ist das Gemeinschaftsgefühl, wenn man abends alles noch mal beim Italiener oder in der After-Work-Lounge Revue passieren lassen kann.

 

Schöne kuschelige Arbeitswelt

Also nicht nur, dass Arbeit sich so wundersam vermehrt hat. Schöner ist sie dabei auch noch geworden.

Wie bitte, schöner? War im letzten Kapitel nicht die Rede von Billigjobbern, Leiharbeitern, der Wiederauferstehung der Dienstbotenklasse? Ist es nicht für Millionen tagtägliche Realität, dass sie sich mit ihrer Arbeit finanziell kaum über Wasser halten können? Dass ihre Netto-Einkommen immer weiter dahinschmelzen, weil sie nicht einmal der Inflation standhalten? Von den Millionen Arbeitslosen und Unterbeschäftigten ganz zu schweigen, die als Zaungäste des Jobwunders ganz andere Sorgen haben. Zu dieser Realität passt der Google-Tempel wie eine Wellness-Oase zu einem Slum von Nairobi.

Und doch bildet dieser krasse Gegensatz die Realität der modernisierten Arbeitswelt ab. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die über die Fähigkeiten gebieten, die in der postindustriellen Wirtschaft nachgefragt sind: eine gute Ausbildung, Leistungsbereitschaft, Mobilität, Flexibilität, gutes Auftreten. Auf der anderen diejenigen, die weniger smart sind, weniger mobil, nicht ganz gesund oder mit irgendeinem Handicap versehen (etwa mit Kindern). Oder sich vielleicht einfach in ihrer Selbstvermarktung nicht so geschickt anstellen.

Der Wandel von der Produktions- zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft hat immer mehr hoch qualifizierte Arbeitsplätze entstehen lassen. Das Angebot an einfachen Tätigkeiten ist dagegen zusammengeschrumpft – die werden längst in Ungarn oder Kambodscha verrichtet oder sind durch die Technisierung jetzt eben keine »einfache Arbeit« mehr. Wo ein Jugendlicher mit handwerklichem Geschick, aber etwas langsamerem Geist es früher gut und gerne zum »Autoschrauber« bringen (und von diesem Beruf auch leben) konnte, müsste er heute dafür mit der Software im Diagnosecomputer klarkommen. Allenfalls im Bereich der »personengebundenen Dienstleistungen« finden Niedrigqualifizierte noch einen Platz, wenn auch immer seltener ein Auskommen. (Und dass auch dieser Bereich nicht vor Auslagerung geschützt ist, zeigt das Geschäftsmodell eines deutschen Altenheim-Betreibers, der seine Klienten in Thailand pflegen lässt.)

Der Wirtschaftswissenschaftler Meinhard Miegel bringt das Dilemma in seinem Buch Exit auf den Punkt: »In einer Wirtschaftsform, die auf permanente Hochproduktivität zielt, ist an sich nur Platz für permanent Hochproduktive.«40

Ein Dilemma, das ganz besonders für diejenigen gilt, die gerne als »Bildungsverlierer« bezeichnet werden. Jedes fünfte Kind geht von der Schule ab, ohne richtig lesen und schreiben zu können – und diese Quote ist nach Auskunft der Bildungsforschung seit Jahr und Tag in jeder Alterskohorte konstant, auch wenn die Medien gerne einen anderen Eindruck erwecken.41 Was sich allerdings geändert hat ist, dass »Schulversager« heute eben kaum noch Aussicht auf einen auskömmlichen Job mehr haben.

Und so driften die Chancen und Lebenswelten der Bevölkerung immer weiter auseinander. Während etwa Fachhochschulabsolventen heute so gefragt sind wie eh und je, hat sich die Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten ohne Abschluss, die 1975 noch bei 6 Prozent lag, bis heute auf 20 Prozent verdreifacht.42

Aber so ungemütlich es bei den Kellerkindern ist, so kuschelig ist es oben für die Kinder der gebildeten Mittelschicht geworden, deren Talente und Leistungsbereitschaft für IT-Unternehmen, Werbeagenturen, Unternehmensberatungen oder Kanzleien systemrelevant sind. Ihre Arbeitsplätze verwandeln sich mehr und mehr in Edel-Wohngemeinschaften, in denen sich das Potenzial der Mitbewohner aufs Wunderbarste entfalten soll, auf dass sich auch noch das letzte Quäntchen davon in Gewinn verwandeln möge.