Dr. Norden Bestseller – 249 – Vergessene Tränen

Dr. Norden Bestseller
– 249–

Vergessene Tränen

Sandra hat wieder Hoffnung

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-358-7

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»Knusperhäuschen« nannten die Norden-Kinder das kleine Haus am Waldesrand, in dem Sandra Mücke mit ihren beiden Hunden Fridolin und Pippa und dem Papagei Bobby lebte.

In diesem Haus war Sandra aufge­wachsen, als Tochter eines mittelmä­ßigen Pianisten und einer tüchtigen Sekretärin, die weitgehendst den Le­bensunterhalt für die Familie ver­diente. Dennoch war Nanette Mücke eine gute und liebevolle Mutter und auch eine nachsichtige Ehefrau gewe­sen, obgleich sie wahrhaft Besseres verdient hätte. Sie beklagte sich nicht. Sie hatte den Mann gewollt, nun mußte sie auch durchhalten. Als San­dra im Alter von zwölf Jahren von ei­nem Wolfshund gebissen worden war, hatte Raimund Mücke einen solchen Nervenschock bekommen, daß er einfach fortgelaufen war. To­desmutig hatte Nanette ihr Kind der wütenden Bestie entrissen, und es war dann Dr. Norden gewesen, der Sandra das Leben gerettet hatte.

Raimund Mücke war anderntags tot aus dem See geborgen worden. Man sagte, er hätte sich das Leben ge­nommen. Dem Lebenden hätte Na­nette niemals verziehen, daß er dem Kind nicht geholfen hatte, den Toten schützte sie, indem sie sagte, daß ihr Mann dazu niemals fähig gewesen wäre, und solche Entschlossenheit hätte sie ihm auch niemals zugetraut. Nun, es war ein heißer Tag gewesen, und es waren an diesem mehrere Menschen ertrunken. In den Akten war es als Unfall verzeichnet worden, und Nanette hatte die Lebensversi­cherung bekommen, die sie auf Ge­genseitigkeit abgeschlossen hatten. Fortan ging es ihnen besser als zu Leb­zeiten des gereizten und aggres­siven Vaters.

Nanette hatte eine gute Stellung bekommen. Sie wollte ja, daß Sandra studieren könne, da sie von den Leh­rern als überdurchschnittlich begabt bezeichnet wurde. Sie war ein phantasievolles und fröhliches Kind, und sie bereitete Nanette keinerlei Sorgen.

Schon früh hatte Sandra mit dem Dichten begonnen, und sie schrieb Aufsätze, für die sie immer eine sehr gute Note erhielt. Sie überwand auch die Angst vor Hunden, obgleich von den Bissen noch Narben zurückgeblieben waren, die immer eine Erinnerung waren.

Doch mit der Zeit hatte Sandra auch begreifen gelernt, wie bösartig Menschen sein konnten, und sie las es nicht nur in Zeitungen, sie mußte es auch erleben, als ihre Mutter eines Abends überfallen wurde.

Nanette sollte noch ein paar Geldbomben zur Bank bringen, weil ihr Chef Hubert Gasser noch zu tun hatte. Er hatte volles Vertrauen zu Nanette, aber plötzlich hatte er ein ungutes Gefühl, denn er mochte Nanette, und er fuhr ihr im Wagen nach. Zur rechten Zeit kam er zur Bank. Nanette war gerade aus dem Wagen gestiegen, als zwei Burschen auf sie zusprangen und sie niederschlugen. Sie entrissen ihr die Geldbomben und sprangen in einen schnellen Wagen. Hubert Gasser merkte sich die Nummer, das Geld aber war ihm nicht so wichtig wie Nanette.

Wieder war es Dr. Norden, der dann sehr rasch erste Hilfe leistete. Die beiden Burschen konnten glücklicherweise auch bald gefaßt werden, und Hubert Gasser stellte Nanette dann die entscheidende Frage, ob sie seine Frau werden wolle.

Ihr Ja brauchte sie nie zu bereuen. Hubsi, wie er auch von Sandra genannt wurde, war ein liebevoller Ehemann und ein verständnisvoller väterlicher Freund, der ungeheuer stolz auf seine reizende und so begabte Tochter war, und ihr jeden Wunsch erfüllte.

Sandra hatte keine großen Wünsche, abgesehen davon, daß sie ihre Mutter bat, das Häusli, wie sie es damals nannte, nicht zu verkaufen.

›Wenn ich erwachsen bin, möchte ich gern wieder darin wohnen‹, hatte sie gesagt.

Dabei konnte sie jetzt in einer schönen Villa leben, und so ganz verstand Hubsi Sandra nicht, daß sie das Häusli vorziehen wollte.

›Aber warum denn, Kleines, ich kaufe dir eine schöne Wohnung, wenn du allein leben willst‹, hatte er gesagt.

›Ich will schreiben, und da braucht man Ruhe, frische Luft, Wiesen und Wald.‹

›Und was willst du schreiben?‹ hatte der Großkaufmann Hubert Gas­ser gefragt.

›Geschichten, Gedichte, Romane, und am liebsten Bücher für Kinder.‹

Das war ihre Antwort gewesen, und das war die Vorgeschichte.

*

Sandra Mücke studierte Germanistik, Philosophie und Psychologie. Sie versetzte Professoren in Staunen, Kommilitonen in Bewunderung, und sie blieb dabei ein ganz bescheidenes und zurückhaltendes Mädchen.

Auch während der Studienzeit zog sie sich oft in das Haus zurück, das von Dr. Nordens Kindern nun den Namen »Knusperhäuschen« bekommen hatte. Sandra gefiel der Name, und ihn mochte sie mehr als den Namen Mücke, weil sie in der Schule und auch auf der Uni oft so gerufen wurde.

Hubert Gasser hatte das Haus renovieren lassen. Sandras Märchenreich nannte er es, aber es erfüllte ihn mit großer Freude, wenn sie ihm ihre Geschichten zu lesen gab, bevor sie gedruckt wurden. Sie wurden alle gedruckt! Daß er da anfangs ein bißchen nachgeholfen hatte, erfuhr Sandra nicht, aber wenn er überzeugt war, daß etwas gut war, dann konnte er auch andere überzeugen. Von Literatur hatte er bisher überhaupt keine Ahnung gehabt, und für ihn zählte auch nur, was Sandra schrieb.

So war es bei den Nordens nicht, denn Fee war sehr belesen und auch sehr kritisch, aber auch sie mußte anerkennen, was die junge Sandra zu Papier brachte.

Die Kinder gehörten bald zu Sandras begeisterten Anhängern, Fans, wie Danny es nannte.

Es mußte ja so sein, denn in Sandras Geschichten konnten sich die Nordens wiederfinden, Daniel und Fee mit ihren Kindern.

Besonders dann in dem ersten dicken Buch, das Sandra ihnen an einem Sonntagmorgen brachte.

Sie hatte es in den Briefkasten stecken wollen, aber Danny hatte sie gesehen und auch gleich lauthals gerufen: »Sandra kommt.«

Sandra konnte nicht einfach davonlaufen. Danny hielt sie fest, und Fee kam schon, gefolgt von Anneka.

»Ich wollte nicht stören«, sagte Sandra entschuldigend. »Ich wollte Ihnen nur einen kleinen Sonntagsgruß einwerfen.«

»Sie stören doch nicht«, sagte Fee Norden herzlich. »Daniel hat Dienst und macht Hausbesuche. Kommen Sie herein, Sandra, Sie sehen, wir freuen uns.«

»Da ist ja ein Buch drin«, rief Danny schon aus. »Ein neues Buch von dir, Sandra? Das ist aber dick!«

»Ja, es ist ein neues Buch. Ihr sollt es zuerst bekommen«, erwiderte Sandra, und sie sah Fee an. »Die Geschichte habe ich ja Ihnen allen zu verdanken, aber ich muß mich wirklich gleich verabschieden. Meine Eltern warten auf mich.«

»Und wer paßt auf Fridolin, Pippa und Bobby auf?« fragte Danny.

»Fridolin und Pippa sitzen im Auto, und Bobby ist froh, wenn er mal seine Ruhe hat.«

»Wenn wir doch auch so einen Papagei hätten, Mami«, sagte Anneka. »Er kann reden wie ein Buch.«

»Aber nicht soviel wie fünf Kinder«, meinte Fee lachend. »Und bei aller Liebe, ein Papagei würde mir gerade noch fehlen.«

»Aber wenn Bobby nun geklaut wird?« fragte Danny.

»Das sollte mal einer versuchen«, sagte Sandra. »Den erwischen sie bestimmt nicht.« Sie sah Fee an. »Sagen Sie mir bitte ehrlich Ihre Meinung über mein Buch, Frau Norden. Im nachhinein bin ich mir nämlich im Zweifel, ob ich die Geschichte hätte schreiben sollen, und ich habe sie einem Verleger geschickt, den ich nicht kenne. Deshalb hat es mich besonders erstaunt, daß sie sofort angenommen wurde.«

»Das ist doch aber ein gutes Zeichen«, sagte Fee.

»Ich weiß nicht, ob da nicht Hubsi dahintersteckt«, meinte Sandra nachdenklich. »Es ist zu glatt gelaufen.«

»Und Sie hatten kein persönliches Gespräch mit dem Verleger?« fragte Fee.

»Nein, auch das nicht. Ich bekam ein höfliches Schreiben mit einem Honorarangebot, das mich verblüfft hat. Ich hatte ein Gespräch mit einer sehr netten Lektorin, die überhaupt keine Änderungen wünschte, und so lief das.«

»Ein Kinderbuch?«

»Man könnte sagen, daß man sie zwischen acht und und achtzig lesen kann, wenn man sie lesen will. Ich möchte sie als eine Art Vergangenheitsbewältigung bezeichnen. Die Geschichte eines Kindes, das von einem Hund beinahe getötet wurde und mit der Zeit doch lernte, daß alle Lebewesen auf der Welt gut oder böse sein können. Sprechen Sie aber bitte nicht mit Mami über das Buch. Ich habe es unter einem Pseudonym herausbringen lassen. Mami und Hubsi bekommen es erst zu lesen, wenn es ein Erfolg werden sollte.«

Dann verabschiedete sie sich rasch zur Enttäuschung der Kinder, aber Fee sollte die Zeit sehr schnell vergehen, bis Daniel dann heimkam, und dabei hatte sie doch kaum zwanzig Seiten lesen können.

Während Sandra mit Fridolin und Pippa schon herzlich von Nanette und Hubsi empfangen wurden und die Hunde auch schwanzwedelnd und freudig jaulend ihre Wiedersehensfreude ausdrückten, entbrannte in einem anderen Haus bereits eine Diskussion um Sandras Buch.

Es war eine prachtvolle Villa, in der Richard Aldoff und seine Frau Margit residierten. Ungeduldig hatten sie ihren Sohn Constantin erwartet.

Er kam pünktlich, korrekt gekleidet, mit gewisser Herablassung in der Miene, aber sich gut beherrschend, obgleich er wußte, was ihn erwartete.

»Illo ist nicht auch herkommandiert worden?« fragte er sarkastisch.

»Für sie scheint es ja der höchste Triumph gewesen zu sein, diese zweitrangige Autorin mit einem Honorar zu ködern, das einem Bestseller zustehen würde«, sagte Margit Aldoff, »und nur deshalb, weil diese Geschichte von einem Mädchen handelt, das von einem Hund gebissen wurde.«

»Weil das in unserer Familie mal der Fall war, Mama?« fragte Constantin sarkastisch. »Es ist eine sehr gute Geschichte, lehrreich dazu, aber ihr meint ja, nichts mehr lernen zu müssen.«

»Hasso war ein ausgezeichneter Wachhund. Das Kind muß ihn gereizt haben«, stieß Richard Aldoff hervor.

»Wie könnt ihr euch nur so echauffieren?« fragte Constantin. »Der Hund heißt in dem Roman doch Othello.«

»Es ist ein Schlüsselroman. Es stimmt alles haargenau«, sagte Margit Aldoff mit klirrender Stimme. »Und Isolde hat es gewußt. Ich hätte nie gedacht, daß meine Schwester so infam handeln könnte.«

»Mama, reg dich nicht auf. Dieser Roman wird ein Bestseller werden, dessen bin ich sicher«, sagte Constantin. »Und es ist eine ehrliche Story.«

»Und warum hast du nicht selbst mit dieser Saskia Memo verhandelt? Memo wird doch wohl für Erinnerung gesetzt, und den richtigen Namen weißt du anscheinend auch nicht.«

»Nein«, erwiderte Constantin. »Aber lassen wir das Buch beiseite. Ihr solltet euch lieber daran erinnern, daß Hasso drei Tage eingesperrt gewesen war und er von Joseph nicht gefüttert wurde, weil der mit eurem Tafelsilber abgehauen war. Seht die Tatsachen doch endlich mal klar. Mir sind sie ja durch diesen Roman vor Augen geführt worden, den ich durchaus nicht als einen hintergründigen Schlüsselroman betrachte, sondern genauso wie Illo als eine faszinierende Geschichte, die durchaus der Phantasie entsprungen sein kann.«

»Du und Illo«, sagte seine Mutter. »Manchmal meine ich, sie bedeutet dir mehr als deine Eltern. Meine Schwester Isolde hat es wahrhaftig verstanden, ihr eigenes Unvermögen, selbst ein Kind in die Welt zu setzen, mit dieser Affenliebe für dich auszugleichen.«

»Findest du nicht, daß das sehr gehässig klingt, Mama?« Constantin wandte sich zur Tür. »Ich werde gehen, aber ihr solltet diese Geschichte mal aus anderer Sicht lesen, nicht so engstirnig und ängstlich darauf bedacht, daß auch nachträglich noch Gerede um euch entstehen könnte. Guter Gott, wer denkt denn schon noch daran, was vor einem Dutzend Jahren passiert ist, wer ahnt denn, daß dieser Geschichte eine tatsächliche Begebenheit zugrunde liegen könnte? Fest steht allerdings, daß ihr einen scharfen Wachhund angeschafft habt, der während eurer Abwesenheit von Joseph betreut werden sollte. Und dieser Hund, der Hasso hieß, hat beinahe ein kleines Mädchen totgebissen, doch davon steht nichts in diesem Buch, wenn ihr es bitte objektiv lesen würdet. Es steht drin, daß ein Mädchen von einem Hund gebissen wurde und durch dieses Erlebnis zu vielen Erkenntnissen kam, was Charaktereigenschaften von Tieren und Menschen betrifft. Wie Illo sagt, es ist eine wundervolle, versöhnliche Geschichte, die von allen gelesen werden sollte, die selbst bisher unbelehrbar waren. Ich wünsche euch einen schönen Sonntag. Adieu!«

*

Isolde Werden hatte schon eine Ahnung gehabt, daß Constantin bei ihr erscheinen würde, da sie ja wußte, daß er einen Besuch bei seinen Eltern machen sollte. Und nun stand er vor ihr.

»Tag, Illo«, sagte er, »einen guten Tag wünsche ich dir. Und eigentlich war mir ja der Appetit vergangen, aber jetzt bekomme ich Hunger, da es hier so gut duftet.«

»Na, prima«, sagte Illo, »dann brauche ich den Hasenrücken nicht allein zu essen. Wäre sowieso zuviel.«

Ihre Wohnung war wie sie. Großzügig, modern und doch stilvoll. In der Küche war sie Meisterin.

Nach einer zu früh geschlossenen und demzufolge mißglückten Ehe hatte sie ihr Leben ganz nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen gestaltet. Sie hätte gern ein Kind gehabt, aber sie hatte dafür nicht den richtigen Mann gefunden. Es war nicht so, wie ihre Schwester Margit gesagt hatte, daß es an ihrem Unvermögen gelegen hätte. Aber sie hatte dann bald gespürt, was Constantin tatsächlich entbehrte, und das hatte sie ihm dann gegeben. Sie wollte keine Ehrfurcht, keinen Respekt, kein Dienern und immer Jasagen, wie Richard und Margit es verlangten. Und sie war es gewesen, die Constantin geformt und seine Eigeninitiativen geweckt hatte.