Nur die Liebe macht uns stark

Märchenbetrachtung zum Märchen Fundevogel, aus der Sammlung der Brüder Grimm von 1857, mit praktischen Hinweisen zur Selbstbetrachtung.

 

Von Karlheinz Schudt

 

Reihe:

Betrachte das Märchen!

 

Impressum:

 

Märchenbetrachtung: © 2017 Karlheinz Schudt

und Verlag Märchenhaft leben, Bretthorststraße 140, D-32602Vlotho

 

Märchenbild: © 2017 Christine Winkel

und Verlag Märchenhaft leben, Bretthorststraße 140, D-32602Vlotho

 

Märchen: Fundevogel (KHM 51), aus Sammlung Brüder Grimm von 1857

 

Layout: Märchen-Vertrieb GbR, Vlotho

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9783963136481

 

Fundevogel

Es war einmal ein Förster, der ging in den Wald auf die Jagd, und wie er in den Wald kam, hörte er schreien, als obs ein kleines Kind wäre. Er ging dem Schreien nach und kam endlich zu einem hohen Baum, und oben darauf saß ein kleines Kind. Es war aber die Mutter mit dem Kinde unter dem Baum eingeschlafen, und ein Raubvogel hatte das Kind in ihrem Schoße gesehen: da war er hinzu geflogen,hatte es mit seinem Schnabel weggenommen und auf den hohen Baum gesetzt.

 

Der Förster stieg hinauf, holte das Kind herunter und dachte 'du willst das Kind mit nach Haus nehmen und mit deinem Lenchen zusammen aufziehn.' Er brachte es also heim, und die zwei Kinder wuchsen miteinander auf. Das aber, das auf dem Baum gefunden worden war, und weil es ein Vogel weggetragen hatte, wurde Fundevogel geheißen. Fundevogel und Lenchen hatten sich so lieb, nein so lieb, daß, wenn eins das andere nicht sah, ward es traurig.

 

Der Förster hatte aber eine alte Köchin, die nahm eines Abends zwei Eimer und fing an Wasser zu schleppen, und ging nicht einmal, sondern viele mal hinaus an den Brunnen. Lenchen sah es und sprach 'hör einmal, alte Sanne' was trägst du denn so viel Wasser zu?' 'Wenn dus keinem Menschen wieder sagen willst, so will ich dirs wohl sagen.' Da sagte Lenchen nein, sie wollte es keinem Menschen wieder sagen, so sprach die Köchin 'morgen früh, wenn der Förster auf die Jagd ist, da koche ich das Wasser, und wenns im Kessel siedet, werfe ich den Fundevogel nein, und will ihn darin kochen.'

 

Des andern Morgens in aller Frühe stieg der Förster auf und ging auf die Jagd, und als er weg war, lagen die Kinder noch im Bett. Da sprach Lenchen zum Fundevogel 'verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht;' so sprach der Fundevogel 'nun und nimmermehr.' Da sprach Lenchen 'ich will es dir nur sagen, die alte Sanne schleppte gestern abend so viel Eimer Wasser ins Haus, da fragte ich sie, warum sie das täte, so sagte sie, wenn ich es keinem Menschen sagen wollte, so wollte sie es mir wohl sagen: sprach ich, ich wollte es gewiß keinem Menschen sagen: da sagte sie, morgen früh, wenn der Vater auf die Jagd wäre, wollte sie den Kessel voll Wasser sieden, dich hineinwerfen und kochen. Wir wollen aber geschwind aufstehen, uns anziehen und zusammen fortgehen.'

 

Also standen die beiden Kinder auf, zogen sich geschwind an und gingen fort. Wie nun das Wasser im Kessel kochte, ging die Köchin in die Schlafkammer, wollte den Fundevogel holen und ihn hineinwerfen. Aber als sie hineinkam und zu den Betten trat, waren die Kinder alle beide fort: da wurde ihr grausam angst, und sie sprach vor sich 'was will ich nun sagen, wenn der Förster heim kommt und sieht, daß die Kinder weg sind? Geschwind hinten nach, daß wir sie wiederkriegen.'

 

Da schickte die Köchin drei Knechte nach, die sollten laufen und die Kinder einfangen. Die Kinder aber saßen vor dem Wald, und als sie die drei Knechte von weitem laufen sahen, sprach Lenchen zum Fundevogel 'verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht.' So sprach Fundevogel 'nun und nimmermehr.'Da sagte Lenchen 'werde du zum Rosenstöckchen, und ich zum Röschen darauf.' Wie nun die drei Knechte vor den Wald kamen,so war nichts da als ein Rosenstrauch und ein Röschen obendrauf, die Kinder aber nirgend. Da sprachen sie 'hier ist nichts zu machen,' und gingen heim und sagten der Köchin, sie hätten nichts in der Welt gesehen als nur ein Rosenstöckchen und ein Röschen oben darauf. Da schalt die alte Köchin 'ihr Einfaltspinsel,ihr hättet das Rosenstöckchen sollen entzwei schneiden und das Röschen abbrechen und mit nach Haus bringen, geschwind und tuts.'

 

Sie mußten also zum zweiten mal hinaus und suchen. Die Kinder sahen sie aber von weitem kommen, da sprach Lenchen 'Fundevogel, verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht.' Fundevogel sagte 'nun und nimmermehr.' Sprach Lenchen 'so werde du eine Kirche und ich die Krone darin.' Wie nun die drei Knechte dahin kamen, war nichts da als eine Kirche und eine Krone darin. Sie sprachen also zueinander 'was sollen wir hier machen, laßt uns nach Hause gehen.' Wie sie nach Haus kamen, fragte die Köchin, ob sie nichts gefunden hätten:so sagten sie nein, sie hätten nichts gefunden als eine Kirche, da wäre eine Krone darin gewesen. 'Ihr Narren,' schalt die Köchin, 'warum habt ihr nicht die Kirche zerbrochen und die Krone mit heim gebracht?'

 

Nun machte sich die alte Köchin selbst auf die Beine und ging mit den drei Knechten den Kindern nach. Die Kinder sahen aber die drei Knechte von weitem kommen, und die Köchin wackelte hinten nach Da sprach Lenchen 'Fundevogel, verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht.' Da sprach der Fundevogel 'nun und nimmermehr.' Sprach Lenchen 'werde zum Teich und ich die Ente drauf.' Die Köchin aber kam herzu,und als sie den Teich sah, legte sie sich drüber hin und wollte ihn aus saufen. Aber die Ente kam schnell geschwommen, faßte sie mit ihrem Schnabel beim Kopf und zog sie ins Wasser hinein: da mußte die alte Hexe ertrinken.

 

Da gingen die Kinder zusammen nach Haus und waren herzlich froh; und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch

 

Unser Bewusstsein wacht!

Das Märchen vom Fundevogel aus der Sammlung der Brüder Grimm von 1857 ist schon eine etwas außergewöhnliche Geschichte. Viele dieser bekannten Märchen beginnen meist mit einer Handlung, die nicht gleich vermuten lässt, dass es sich um ein Märchen handelt. Es könnte sich ebenso um eine ganz gewöhnliche Geschichte drehen, die alltäglich passiert. Etwas anders verhält es sich beim Fundevogel.

 

Es war einmal ein Förster, der ging in den Wald auf die Jagd,und wie er in den Wald kam, hörte er schreien, als obs ein kleines Kind wäre. Er ging dem Schreien nach und kam endlich zu einem hohen Baum, und oben darauf saß ein kleines Kind. Es war aber die Mutter mit dem Kinde unter dem Baum eingeschlafen, und ein Raubvogel hatte das Kind in ihrem Schoße gesehen: da war er hinzugeflogen, hatte es mit seinem Schnabel weggenommen und auf den hohen Baum gesetzt.

 

Ein Förster geht durch den Wald und findet ein kleines Kind in einer Baumkrone, das von einem Raubvogel seiner Mutter fortgenommen wurde. Diese eigenartige Situation wirft uns gleich mit den ersten Sätzen in die Wunder des Märchens hinein, da es sich um etwas handelt, was höchst unwahrscheinlich in der reellen Welt geschieht.

 

Wenn wir uns den Förster, insbesondere seine Berufung, etwas näher anschauen und dabei bedenken, dass das Märchen niemals wahllos oder zufällig einen solchen Beruf auswählt, dann bekommen wir schon leise eine Ahnung davon, auf welchen inneren Prozess uns das Märchen führen oder vorbereiten könnte.

 

Ein Förster hat die Aufgabe, im Wald nach dem rechten zusehen, zu schützen und gegebenenfalls dort einzugreifen, wo die Ordnung gestört ist oder werden könnte. Er hat in seinem Revier den sogenannten „Durchblick“, der sich in erster Linie auf den Wald bezieht. Der Wald wird im Märchen meist als Rückzugsort oder als Gebiet beschrieben, in dem man sich verirren, die Orientierung und schließlich sein Ziel verlieren könnte.

 

Jener Ort kann mit dem „Dschungel“ unserer Emotionen, unseren Stimmungsschwankungen, unzähligen Gedanken, Ablenkungen und unserer Ziellosigkeit verglichen werden.

 

Da wir nicht genau wissen, welchem Tier der Jäger nachstellt und auch sonst die Jagd nicht näher thematisiert wird, so wäre der Prozess des „Jagens“ etwas näher zu durchleuchten. Dabei geht es jetzt nicht um ein sinnloses Abschlachten von Tieren, sondern um die Haltung, die der Förster im symbolischen Sinne einnimmt.

 

Die Tätigkeit des Jagens deutet darauf hin, wie zielgerichtet und ausdauernd jemand sein sich selbst gesetztes oder seiner Berufung nach bestimmtes Ziel verfolgt, ohne sich durch andere Dinge ablenken zu lassen. Wenn wir einen kleinen „Abstecher“ins Tierreich unternehmen und dort einmal Tiere beobachten, wie sie andere Tiere jagen, so können wir z. B. bei einem Raubvogelerkennen, dass dieser höchst konzentriert, von nichts anderem mehr abgelenkt, sein Ziel im Visier hat und ausdauernd verfolgt. Ein Raubvogel hat sehr gute Augen und kann schon aus weiter Entfernung selbst das kleinste Ziel scharf erkennen.

 

Zwischen Förster und Raubvogel gibt es in dieser Beziehung wohl mehr Parallelen, als wir eingangs vermutet hätten. Und doch ist da ein wesentlicher Unterschied. Beim Raubvogel selbst war uns die Absicht nicht gleich bewusst, die jener hatte. Wir wissen nicht, ob der kleine Junge ihm als Futter hätte dienen oder ob er anstelle eines Raubvogel-Kükens dort oben in der Krone des Baumes hätte großgezogen werden sollen.

 

Dem Förster hingegen war alles sogleich ganz bewusst, welches weitere Schicksal den Jungen erwartet. So zögerte er nicht lange, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Und dass dies am Ende genau das richtige war, wird uns das Märchen in allen Einzelheiten noch schildern.