Ashley Carrington
Die Irrwege der Liebe
Roman
In den frühen Morgenstunden schien es so, als hätte die Regenflut endlich ein Ende. Doch die Hoffnungen der Siedler entlang des Hawkesbury River erwiesen sich als trügerisch. Zwar ließ der Regen spürbar nach, doch der Wasserstand stieg unaufhaltsam weiter, wenn auch bedeutend langsamer als am Tag zuvor.
Es regnete sechs Tage und sieben Nächte. Eine riesige Wasserwüste bedeckte das tiefer gelegene Land in den weiten Tälern am Hawkesbury. Ganze Wälder verschwanden unter den Fluten, die alles niederrissen, was Menschenhand errichtet hatte.
Es vergingen noch viele Tage, bis die Fluten das überschwemmte Land wieder freigaben. Überall auf den Farmen begannen nun die Aufräumarbeiten, die Suche nach den verstreuten Herden und die Instandsetzung beschädigter Gebäude und Zäune. So auch auf Seven Hills und auf der Randell-Farm. Bevor Steve jedoch eigene Arbeiten in Angriff nahm, half er den obdachlosen Randells, ein neues Haus und winterfeste Unterkünfte für ihre Sträflinge auf dem landeinwärts gelegenen Plateau zu errichten. Steve verlor nicht ein Wort der Klage darüber, dass fast alle seine Männer für Wochen auf fremdem Boden zu tun hatten, während die Arbeit auf Seven Hills vorerst unerledigt blieb. Und murrenden Bemerkungen seiner Leute begegnete er mit einer zurechtweisenden Schärfe, die sogar Jessica in Erstaunen versetzte.
»Viele von denjenigen, die heute in unsere Kolonie als erfolgreiche und erfahrene Siedler hohes Ansehen genießen, haben zu Beginn schwere Fehler gemacht«, erklärte Steve ihr. »Und so manch einer hätte ohne die tatkräftige Hilfe seiner Nachbarn die ersten Jahre nicht überstanden. Zudem ist diese Hilfe nicht ganz selbstlos. Uns kann nicht daran gelegen sein, neue Siedler in diesem Gebiet zu verlieren. Jeder neue Farmer, der dieses Land entschlossen unter den Pflug nimmt, bringt uns allen mehr Sicherheit.«
Entschlossenheit war den Randells nicht abzusprechen. Noch bevor der Winter am Hawkesbury River Einzug hielt, standen Unterkünfte, Stallungen und ein neues Blockhaus auf sicherem Grund. Und sie gaben ihrer Farm den verheißungsvollen Namen New Hope.
Monate gingen ins Land, ohne dass sich etwas Außergewöhnliches ereignete. Und niemand war dafür dankbarer als die Siedler am Hawkesbury.
Jessicas Tage waren ausgefüllt mit vielfältigen Arbeiten im Haus und mit der Erziehung von Edward und Victoria. Die Kinder gediehen so prächtig, und sie waren so gesund, dass ihnen das nasskalte Wetter nichts anhaben konnte. Sie schienen dieselbe Widerstandskraft und Wildheit in ihrem Blut zu haben, die dieses Land auszeichnete. Und das erfüllte Jessica mit Stolz.
Der Frühling kam. Und während sich die ›Sträflingskolonie am Ende der Welt‹, wie manche Europäer New South Wales abschätzig zu bezeichnen pflegten, auf einen neuen, trockenen Sommer einrichteten, machte Lord Nelson Weltgeschichte.
Der Oberbefehlshaber der britischen Flotte, skandalumwittert durch seine aufsehenerregende Affäre mit Lady Hamilton, führte am 21. Oktober 1805 seine siebenundzwanzig Linienschiffe bei Trafalgar gegen die vereinigte französisch-spanische Flotte in die Schlacht.
Die Schlacht bei Kap Trafalgar musste über die britische Vorherrschaft auf den Meeren und über die Zukunft Europas entscheiden, das sich im Würgegriff des ebenso genialen wie machtbesessenen Tyrannen Napoleon wand. Wurde die britische Flotte geschlagen, war die Invasion Englands nicht mehr aufzuhalten.
Lord Nelson führte seine Schiffe mit großartigen Manövern ins Gefecht, durchkreuzte die Pläne seiner Gegner und fügte Napoleon eine vernichtende Niederlage zu. Doch Nelson erlebte das Ende der Entscheidungsschlacht nicht mehr. Die Kugel eines französischen Musketenschützen streckte ihn an Deck seines Flaggschiffes Victory nieder. Der Admiral, der nach seinem Sieg von Trafalgar noch mehr als zuvor zum Helden seines Landes werden sollte, starb noch vor Einbruch der Dunkelheit.
In New South Wales ahnte niemand etwas von dem grandiosen Sieg der britischen Flotte. Nachrichten aus der Heimat waren meist über ein halbes Jahr alt, wenn sie die entlegene Kolonie erreichten.
Und so waren in diesen Hochsommermonaten des Jahres 1805/1806 auch nicht Trafalgar, Lord Nelson und Napoleons gescheiterte Invasionspläne das Gesprächsthema der Kolonie, sondern das sich zäh haltende Gerücht, Gouverneur Phillip King würde sein Amt schon bald niederlegen. Und dann wurde aus dem Gerücht Gewissheit. Der Gouverneur selbst ließ verlauten, dass er in einigen Monaten nach England zurückkehren werde.
Wer sich auch nur im Entferntesten für die politischen Vorgänge in New South Wales interessierte, den überraschte diese Nachricht nicht. Der Gouverneur war nicht in der Lage gewesen, seine Stellung gegenüber den Offizieren des New South Wales Corps zu behaupten. In dem Bemühen, die Macht des Rum-Corps zu brechen und das wirtschaftshemmende Syndikat zu sprengen, hatte er sich unter vielen anderen auch Major Johnstone, den Kommandanten der Truppen, und John McArthur zu erbitterten Feinden gemacht. John McArthur bekleidete nicht nur den Rang eines Captain im Corps, sondern war auch der mächtigste Großgrundbesitzer der Kolonie. Seine Verdienste als Schafzüchter waren unbestritten. Er war der Erste gewesen, der erkannte hatte, dass die wirtschaftliche Zukunft der jungen Kolonie in der Aufzucht von Schafen lag. Und die erstklassigen Wollproben seiner Merinos hatten ihm die Unterstützung der einflussreichen englischen Wollfabrikanten bei Hof gesichert. Doch als Mitbegründer des alles beherrschenden Syndikats und Vertrauter von Major Johnstone hatte er so viel Macht an sich gerissen, dass er als die graue Eminenz der Kolonie galt.
Phillip Kings Versuche, MacArthurs Macht auf das Maß zu beschneiden, das einem Offizier und Grundbesitzer zustand, waren kläglich gescheitert. Befehle, die er erteilte, wurden nicht ausgeführt oder geschickt boykottiert.
Mit Beginn des neuen Jahres wurde bekannt, wer Kings Nachfolger sein würde. Es war Ian McIntosh, der die Neuigkeit von einer Fahrt nach Parramatta nach Seven Hills brachte. Und die Überraschung hätte nicht größer sein können.
»Captain William Bligh?«, vergewisserte sich Steve, als er mit dem Iren bei einem Glas Madeira im kühlen Wohnraum saß. »Der Bligh?«
Ian McIntosh nickte. »Ja, Brotfrucht-Bligh … oder Bounty-Bligh, wie sie ihn auch nennen.«
Steve nahm einen kräftigen Schluck, schüttelte den Kopf und lachte dann. »Mein Gott, das wird unseren Rum-Offizieren so wenig schmecken wie Essig und Galle!«
Der Ire schmunzelte. »Kann nicht behaupten, dass mir dieser Leuteschinder sympathisch ist. Aber vielleicht ist er genau der Mann, den diese Kolonie braucht.«
»Eins ist sicher, Ian«, sagte Steve. »MacArthur und Konsorten werden sich die Haare raufen, dass sie ihr Spiel mit Gouverneur King zu weit getrieben und ihn um sein Amt gebracht haben. Gegen Bligh wird sich King wie ein zahnloser Köter ausnehmen.«
Der Aufseher stimmte ihm zu. »Da, wo King gekläfft hat, wird Bligh zubeißen.«
»Verdient haben es diese Schurken!«, sagte Steve mit grimmiger Genugtuung. »Bounty-Bligh wird ihnen schon beibringen, was es heißt, des Offiziersrock zu tragen.«
Steve wurde nachdenklich. Er drehte sein Glas in den Händen. »Man braucht wohl kein großer Hellseher zu sein, um unserer Kolonie unruhige Zeiten vorauszusagen.«
Ian McIntosh trank sein Glas leer. »Nein. Bounty-Bligh ist für jede Überraschung gut … vor allem für unangenehme«, sagte er und erhob sich. »Das hat er in der Vergangenheit zur Genüge bewiesen.«
Im August 1806 lief ein aus fünf Schiffen bestehender Konvoi in den Hafen von Sydney ein. Es war ein kühler, aber klarer und sonniger Nachmittag. Die kleine Flotte brachte Versorgungsgüter aller Art, Sträflinge – und den neuen Gouverneur der Kolonie.
Phillip King beobachtete von seinem Amtszimmer im Gouverneurspalast aus die Ankunft seines Nachfolgers. Er fühlte jetzt weniger Verbitterung denn Erleichterung darüber, dass seine Zeit in New South Wales abgelaufen war. Nun denn, soll sich Bounty-Bligh mit diesem Gesindel, das sich Offiziere nennt, herumschlagen, dachte er mit der inneren Ruhe eines Mannes, der wusste, das er sein Bestes gegeben hatte. Meinen Segen hat er.
Die Bevölkerung war unten am Hafen zusammengelaufen und wartete darauf, den berühmt-berüchtigten Captain Bligh zu Gesicht zu bekommen. Es herrschte Festtagsstimmung. Das New South Wales Corps, einzig und allein an der Rumfront erprobt, war mit seinen Offizieren zur Begrüßung von Bligh angetreten, ebenso die Militärkapelle.
In Paradeuniform wartete Gouverneur Phillip King in seinem Arbeitszimmer auf die Meldung seines Dieners, dass die Kutsche vorgefahren war. Und während er wartete, ging er einige Papiere durch, die man ihm zur Kenntnisnahme und zur Unterschrift vorgelegt hatte. Unter ihnen befand sich auch ein Gnadengesuch von Steve Brading zugunsten seiner Frau Jessica.
Mit einem Federstrich begnadigte Phillip King die Deportierte Jessica Jakes/Brading und gab ihr die uneingeschränkte Freiheit zurück. Es war seine letzte Amtshandlung.
An einem Nachmittag im Februar des Jahres 1807 näherten sich vier Reiter im wilden Galopp der Brading-Farm. Tief über die Hälse ihrer Pferde gebeugt, jagten sie über die Landstraße.
Jessica bemerkte die Staubwolke, die die Reiter aufwirbelten, als sie aus dem Vorratsschuppen in die noch immer gleißende Sonne trat. Mit der flachen Hand beschattete sie die Augen. Wer immer da kam, er hatte es sehr eilig, und das war kein gutes Zeichen. Bei dieser Hitze trieb kein vernünftiger Mensch sein Pferd zu solchen Höchstleistungen an. Es sei denn, er hatte einen guten Grund, weshalb er das Letzte aus seinem Pferd herausholte.
Das wilde Trommeln der Pferdehufe kam schnell näher. Die vier Reiter galoppierten die Auffahrt zum Plateau hoch. Jessica konnte nun schon Einzelheiten ausmachen. Und ihre Unruhe wuchs. Die Männer waren bewaffnet! Die Sonne warf funkelnde Reflexe auf das Metall der Musketen. Und dann erkannte sie Richard Stuart. Sein siebzehnjähriger Sohn Andrew ritt an seiner Seite. Die anderen beiden gehörten zu seinen Farmarbeitern.
Augenblicke später preschten die vier auf den Hof und brachten ihre schweißnassen Pferde vor Jessica zum Stehen. Die Flanken der Tiefe zitterten vor Anstrengung, und Schaum stand ihnen vor dem Maul. Von der Stuart-Farm nach Seven Hills war es ein langer Ritt.
»Um Gottes willen, Richard!«, rief Jessica, als sie die Erschöpfung auf den Gesichtern der vier Männer sah. »Sie sind ja geritten, als wäre der Teufel hinter Ihnen her.«
»Ich wünschte, es wäre nur der Teufel, Jessica«, stieß Richard Stuart hervor. Mit verschwitzter, staubbedeckter Kleidung hockte er im Sattel. »Ich bringe schlechte Nachrichten.«
Jessica bezwang ihre Unruhe und bat die Männer ins Haus. »Sie werden durstig sein … und die Tiere ebenfalls. Ich rufe einen Knecht, dass er sich um Ihre Pferde kümmert.«
Ablehnend schüttelte Richard Stuart den Kopf. »Dafür ist keine Zeit«, sagte er. »Wir müssen sofort wieder zurück, Jessica. Wir sind nur gekommen, um Sie vor den Rebellen zu warnen.«
Jessica wurde blass. »Rebellen?«
Andrew, der seinem Vater so frappierend ähnlich sah, nickte mit grimmiger Miene. »Die verdammten Iren haben sich mal wieder zusammengerottet und unter den Sträflingen einen Aufstand angezettelt«
»Nein!«, rief Jessica erschrocken.
»Es ist leider wahr«, bestätigte Richard Stuart die Worte seines Sohnes. »Es ist die Rede von rund zwanzig Sträflingen, die sich mit Stichwaffen und einigen geraubten Pistolen und Musketen bewaffnet haben. Sie hatten einen Anschlag auf Gouverneur Bligh vor, der zurzeit in Parramatta weilt. Doch das Komplott ist aufgeflogen. Gestern ist es zu einer Schießerei zwischen den Aufständischen und den Soldaten gekommen. Die meisten der Rebellen sind entkommen. Sie sind in den Busch geflüchtet.«
»Sie sollen sich jetzt hier in der Gegend herumtreiben«, fügte Andrew hastig hinzu. »Sie werden versuchen, Pferde, Lebensmittel und noch mehr Waffen zu rauben. Keine Farm ist vor ihnen sicher.«
»Hat man Soldaten zum Hawkesbury geschickt?«, fragte Jessica.
Richard Stuart verzog das Gesicht. »Auf die Rotröcke ist kein Verlass, Jessica. Sie wissen doch, wie schwach die Garnison in Parramatta besetzt ist. Außerdem zeichnet sich unser Corps nicht gerade durch Kampfesmut und schnelles Handeln aus. Das wissen Sie ja selbst.«
»Natürlich«, murmelte sie, von den alarmierenden Nachrichten aufgewühlt. »Danke, dass Sie Gefahr und Strapazen auf sich genommen haben, um uns zu warnen.«
»Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. In solch gefährlichen Zeiten müssen wir fest zusammenstehen«, erklärte Richard Stuart ernst. »Bevor wir zurückreiten, möchte ich noch mit Steve sprechen. Es wird ratsamer sein, die Arbeiter von den Feldern zu holen und unter Aufsicht zu halten, bis wieder Ruhe in der Kolonie herrscht.«
Jessica sagte den Stuarts, auf welcher Weide Steve zu finden war. Dann rissen die vier ihre Pferde herum und sprengten davon. Steve tat genau das, was Richard Stuart vorgeschlagen hatte. Er ließ seine Leute von den Feldern und Weiden holen. Die Zwangsarbeiter erhielten den Befehl, sich nicht von ihren Unterkünften zu entfernen. Als die Männer auf das Plateau zurückkehrten, las Jessica in vielen Gesichtern ernstliche Besorgnis. In den Augen einiger Sträflinge glitzerte jedoch höhnische Schadenfreude.
Schon auf dem Heimweg hatte sich Steve mit Ian McIntosh über die zu treffenden Maßnahmen abgesprochen. Im Laufe der Jahre war die Zahl der auf Seven Hills beschäftigten Arbeiter auf dreiundzwanzig gestiegen. Neun davon waren Freie, die für guten Lohn auf der Brading-Farm arbeiteten, Ian Mcintosh eingeschlossen. Und das waren die Männer, auf die Verlass war.
»Wir werden bewaffnete Wachposten aufstellen«, unterrichtete Steve Jessica, während er den Waffenschrank im Wohnzimmer aufschloss. Er enthielt fünf Gewehre und drei Pistolen. »Rund um die Uhr. Jeweils vier Mann, die alle vier Stunden abgelöst werden.«
»Was können vier Mann nachts ausrichten?«, fragte Jessica beklommen. »Die Stuarts haben von mindestens zwanzig Rebellen gesprochen.«
»Aber nur einige von ihnen haben Feuerwaffen. Wir werden hier rund um das Plateau sechs große Scheiterhaufen errichten und nachts in Brand setzen. Dieses Gesindel wird sich also nicht im Schutz der Dunkelheit anschleichen können«, beruhigte er sie. »Ian ist schon dabei, die entsprechenden Stellen auszusuchen und abzuflämmen, damit die Nachtfeuer nicht übergreifen können.«
»Ich habe Angst, Steve«, sagte Jessica leise.
Es lag nicht allein an der drückenden Hitze, dass Jessica keinen Schlaf finden konnte. Wach und mit offenen Augen lag sie auf ihrem verschwitzten Laken. Dabei fühlte sie sich abgekämpft und todmüde wie schon lange nicht mehr. Ihre innere Unruhe war jedoch stärker als das Bedürfnis ihres Körpers nach Schlaf. Ihr war, als läge eine atemlose Spannung über der Farm. Und es war still.
War es die Stille vor dem Sturm?
Eine Tür klappte. Dann hörte sie zwei gedämpfte Stimmen im Wohnraum. Steve und Ian. Irgendetwas klirrte metallisch. Dann ein kurzes Lachen. Freudlos und irgendwie bitter.
Jessica schwang sich aus dem Bett, fuhr schnell in Kleid und Schuhe. Es war sinnlos, den Schlaf herbeizwingen zu wollen. Diese Nacht würde sie kein Auge zutun. Es war besser, irgendetwas zu tun, als sich unruhig von einer Seite auf die andere zu wälzen.
Steve und Ian waren schon wieder gegangen, als Jessica in den geräumigen Wohnraum trat. Vermutlich gingen sie jetzt die Posten ab, die über Seven Hills Wache hielten. Einen Augenblick stand sie unschlüssig da und blickte auf die geweißten Wände und den Schatten, den die Öllampe auf dem Tisch an die rustikale Decke warf. Sie überlegte, womit sie die Stunden bis zum Morgengrauen ausfüllen sollte. Mit Lesen? Ihr Blick wanderte zu Steves Sekretär neben dem Kamin. Mehrere Dutzend ledergebundene Bücher standen in den Fächern des Aufsatzes mit den bleiverglasten Türen. Nein. Sie würde sich nicht auf die gedruckten Zeilen konzentrieren können.
Sie beschloss, nach draußen zu gehen und Steve zu suchen. Vielleicht konnte auch sie Wache halten. Steve hatte ihr vor Jahren schon beigebracht, wie man mit einer Muskete umging. Sie war zwar nicht gerade sehr treffsicher, aber darauf kam es nicht an. Sie hatte zwei gute Augen. Und wenn sie irgendetwas Verdächtiges bemerkte, konnte sie doch immerhin einen Warnschuss abgeben, der die anderen alarmierte.
Jessica fand, dass das ein guter Gedanke sei. So würde sie die restlichen Nachtstunden auf sinnvolle Art verbringen und ihren Beitrag zum Schutz von Seven Hills leisten.
Ein warmer Wind umfing sie, als sie auf die vordere Veranda hinaustrat. Ein schwacher Duft von Eukalyptus lag in der Luft. Der unruhige Feuerschein eines mächtigen Scheiterhaufens erhellte direkt vor ihren Augen die breite Auffahrt, die zum Plateau hochführte, und den jenseits vom Feuer liegenden Waldsaum. Niemand würde sich der Farm von dort unbemerkt nähern können. Auch zu ihrer Rechten und Linken sah sie den Widerschein von großen Feuern am Nachthimmel.
Jessica atmete ruhiger. Sollten sich die Aufständischen wirklich auf ihrem Land herumtreiben, würden die lodernden Scheiterhaufen ihnen sagen, dass Seven Hills auf einen Überfall eingestellt war. Und nur ein Narr würde dennoch einen Angriff wagen. Aber waren diese entlaufenen Sträflinge nicht alle Narren?
Grübelnd wandte sich Jessica nach rechts und ging die Veranda bis an die Ecke des Herrenhauses hinunter. Vermutlich hielt sich Steve auf dem hinteren Hof bei den Schuppen und Scheunen auf. Die Rückfront war die gefährdetste Seite des Plateaus, befanden sich dort doch die vielen Nebengebäude sowie die nun insgesamt zwölf Sträflingsunterkünfte. Zwangsläufig musste die Rückfront besonders intensiv bewacht werden.
Jessica bog um die Hausecke.
Im selben Augenblick sprangen zwei Gestalten aus dem tiefschwarzen Schatten, den der breite Küchenkamin warf. Jessica wich erschrocken zurück, wollte schreien und spürte eine brutale Hand auf ihrem Mund. Kalter Stahl presste sich gleichzeitig gegen ihre Kehle.
»Wenn du auch nur’n Ton von dir gibst, schlitz’ ich dich auf!«, zischte eine hasserfüllte Stimme.
Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Ekelhafter Rumatem schlug ihr ins Gesicht, als die beiden Männer sie gegen die Hauswand pressten. Und plötzlich wusste sie, mit wem sie es zu tun hatte: Pat Sullivan und Gilbert Doggett. Beide waren Iren.
Es war Doggett, der ihr den Mund zuhielt und die Messerklinge schmerzhaft gegen die Kehle drückte.
»Sieh an, die hübsche Herrin der verfluchten Brading- Farm«, flüsterte Sullivan mit rauer Stimme und lachte leise. »Besser hätten wir es gar nicht treffen können, Gil.«
»Los, schaffen wir sie ins Haus«, raunte Doggett mit gehetzter Stimme. »Da können wir unseren Spaß mit ihr haben. Werd’ schon dafür sorgen, dass sie stillhält und keinen Mucks nicht von sich gibt.«
»Später, später«, sagte Sullivan hastig. »Ich hab’ ne teuflisch gute Idee. Erst holn wir uns Steve Brading, diesen Drecksengländer. Dann rechnen wir mit beiden ab.«
»Mann, wie willst’n das machen?«
»Wirst schon sehen.«
Jessica sah nun, dass Sullivan eine Muskete in den Händen hielt. Angst kroch in ihr hoch. Wie war er zu der Waffe gekommen? Hatten Sullivan und Doggett vielleicht schon Kontakt zu den Aufständischen?
Sullivan wechselte das Gewehr in die linke Hand und griff mit der rechten in ihr Haar. Er zog ihren Kopf nach hinten. »Gil wird gleich die Hand von deinem Mund nehmen, wenn ich es sage. Und du wirst stumm sein wie ein Fisch, verstanden? Ein Mucks, und Gil schneidet dir deinen zarten Hals auf. Wir haben nichts zu verlieren. Vergiss das nicht!« Drohend blickte er sie an. Dann nickte er seinem Komplizen zu.
Mit einem Zaudern zog Doggett seine Hand zurück. Jessica stand wie erstarrt und wagte nicht, sich zu bewegen. Die Klinge drückte ins Fleisch, und sie fürchtete, sich im nächsten Augenblick übergeben zu müssen.
»Wo steckt dein Mann?«, stieß Sullivan gedämpft hervor. »Na los, mach den Mund auf. Aber sprich verdammt leise!«
»Ich … ich … weiß es … nicht«, krächzte Jessica, benommen vor Angst.
»Komm mir nicht mit so ‘nem Unsinn!«, zischte Sullivan. »Ich geb’ dir noch ‘ne Chance. Und ich rate dir, sie zu nutzen!«
»Ich … weiß es wirklich nicht«, stammelte sie hastig. »Ich konnte nicht schlafen und … und … bin aufgestanden, um ihn zu suchen … er … muss hier … irgendwo sein … mit McIntosh … mein Gott, was soll das alles? Was haben wir … euch getan? Ihr wisst doch, dass Steve kein Sklaventreiber ist. Und ich … ich … bin auch eine Deportierte.«
»Einen Dreck bist du!«, fauchte Sullivan. »Hältst dich für was Besseres, weil Steve Brading dich in sein Bett genommen hat. Nein, heute rechnen wir ab mit euch Bradings und Verrätern wie McIntosh. Mulhall hat für seinen Verrat schon bezahlt, dieser Schweinehund. Haben ihn aufgeschlitzt und ihm die Muskete abgenommen. Und das ist erst der Anfang!« Unbändiger Hass und das Verlangen nach blutiger Rache für die Jahre der Verbannung sprachen aus seiner Stimme.
»Pat, was is’n nun?«, drängte Doggett nervös.
»So, du weißt also nicht, wo Steve ist«, sagte Sullivan höhnisch. »Dann werden wir ihn eben gemeinsam finden. Jessy. Wenn wir ihn in unserer Gewalt haben, haben wir auch Seven Hills. Hör mir jetzt gut zu. Du wirst gleich nach deinem Mann rufen, aber ohne hysterisches Schreien, ist das klar? Und versuch bloß keine Tricks, wenn du nicht an deinem eigenen Blut ersticken willst!«
Sullivan und Doggett zerrten Jessica an die Seite des breiten Kamins. Sullivan kauerte sich in die Ecke, die Muskete im Anschlag. Und Doggett stellte sich so, dass auch ihn der tiefe Schatten schützte. Er packte ihr Kleid im Rücken und presste ihr die Messerklinge von hinten zwischen die Rippen.
»Tu, was Pat gesagt hat!«, herrschte er sie an.
Heiß pochte das Blut in Jessicas Schläfen. Gedanken jagten sich hinter ihrer schweißkalten Stirn. Sie sollte Steve in die Falle locken. Gelang es ihnen, Steve in ihre Gewalt zu bekommen, war Seven Hills verloren. Niemand würde aus Angst, das Leben der Geiseln zu gefährden, gegen Sullivan und Doggett vorgehen. Nicht, solange einer von ihnen am Leben war. Doch wenn sie es nicht tat, würde sie sterben.
»Ich zähle bis drei«, zischte Sullivan. »Wenn sie bis dahin den Mund nicht aufgemacht hat, stichst du sie ab, Gil.«
»Mit Vergnügen«, flüsterte Doggett.
Jessica öffnete den Mund.
»Eins … zwei …«, zählte Sullivan mit drohender Stimme.
»Steve? … Steve? … Wo bist du?«
»Das ist schon besser!«, höhnte Sullivan. »Noch mal. Und schön mit Gefühl, Herzchen! Los!«
»Steve? … Wo bist du?« Jessica war, als hörte sie die Stimme einer Fremden.
Fast augenblicklich wurde ihr Ruf beantwortet. »Jessica?«, Steves erstaunte Stimme kam von jenseits der anderen Hausecke. Sand knirschte unter Stiefeln.
»Er kommt!«, stieß Doggett hervor.
»O Gott, wie hab’ ich all die Zeit auf diesen Moment gewartet!«, raunte Sullivan und packte die Muskete fester.
Komm nicht, Steve!, schrie alles in Jessica. Bleib da, Steve!
Steve trat um die Ecke, die Muskete mit zum Boden gerichtetem Lauf in der rechten Armbeuge. Zehn, zwölf Schritte trennten ihn von Jessica, die scheinbar an der Kaminmauer lehnte. Ohne Eile kam er auf sie zu. »Ich dachte, du schläfst, Jessica. Aber diese Nacht.«
Edward und Victoria!, schoss es Jessica in diesem Moment mit heißem Entsetzen durch den Kopf. Wenn sie uns beide haben, ist niemand mehr da, der die Kinder vor ihnen schützen kann. Nein, das darf nicht passieren. Nie! Um keinen Preis!
Die Angst um das Leben ihrer Kinder verdrängte ihre eigene Todesangst. »Steve! … Komm nicht! … Niiicht! «, gellte sie. Ihr markerschütternder Schrei schallte über den Hof. Ein scharfer Schmerz jagte durch ihre Seite, und instinktiv riss sie sich los, taumelte vorwärts und stürzte zu Boden.
Die Ereignisse überstürzten sich. Jessicas Schrei ließ Steve abrupt stehen bleiben. Schreck und Verwirrung lähmten ihn für einen winzigen und doch entscheidenden Augenblick.
Fluchend stürzte Sullivan hinter dem Kamin hervor. »Verrecke, Brading!«, schrie er.
Steve riss seine Muskete hoch. Und er drückte ab, als ihn das Mündungsfeuer aus der Waffe des Iren blendete. Die beiden Schüsse klangen wie ein einziger. Sullivan stürzte neben dem Kamin in den Sand.
Auch Steve war getroffen. Die Kugel schlug in seine Brust ein. Er wankte zwei Schritte zurück. Die Muskete entglitt seinen plötzlich kraftlosen Händen. Fast zögernd knickte er in den Knien ein, kippte dann nach links, versuchte sich vergeblich mit der Hand abzustützen und sackte in sich zusammen.
Jessica schrie auf, als sie Steve zu Boden sinken sah. Sie sprang auf und stürzte zu ihm. Mit zitternden Händen drehte sie in auf den Rücken. Ein unsagbarer Schauer durchlief sie, als ihre Hand auf seiner Brust etwas Warmes, Feuchtes spürte – Blut.
Sie begriff nicht mehr, was um sie herum geschah. Sie sah nicht, wie Doggett im Feuer von zwei Musketen starb. Und sie hörte auch nicht, wie Ian McIntosh die Wachen mit scharfer Stimme auf ihre Posten zurückschickte und den wachfreien Männern Befehle erteilte.
Jessica kniete neben Steve, der tödlich getroffen war. Er hatte schreckliche Schmerzen, doch war er noch bei Bewusstsein. Er wusste, dass er den kommenden Sonnenaufgang nicht mehr erleben würde. Sein Atem ging röchelnd.
Ian McIntosh brachte ein Licht. Sein Gesicht war eine starre Maske, als er das blutgetränkte Hemd sah. »Steve, wir tragen dich ins Haus«, sagte er mit beherrschter Stimme.
Steve schüttelte mühsam den Kopf. »Nein, lass mich hier, Ian. Ich … mache es nicht mehr … lange. Lass mich … mit Jessica allein … Mir … bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Nein, nein, nein«, murmelte Jessica kopfschüttelnd, als wollte sie abschütteln, was sie sah und wusste.
Der Ire ergriff Steves Hand, doch kein Wort kam über seine Lippen.
»Rebellen? … Waren … es … Rebellen?«, wollte Steve wissen.
Ian räusperte sich, bevor er antwortete. »Nein, es waren Sullivan und Doggett. Sie haben Mulhall erstochen. Wollten sich wohl die Gelegenheit zunutze machen. Ich bete zu Gott, dass sie für alle Ewigkeit in der Hölle Folterqualen leiden mögen!«
Steve krümmte sich unter Schmerzen und schloss stöhnend die Augen. »Ian.«
»Ja?«
»Du weißt, was du zu tun hast«, keuchte Steve. »Pass auf Seven Hills auf. Immer. Ohne dich … hätte … ich … es nie geschafft.«
»Unsinn.« Der Ire biss sich auf die Unterlippe.
»Es ist wahr. Versprich es mir, Ian! … Versprich, dass du bleibst! Jessica wird dich brauchen!«
»Du weißt, was mir Seven Hills bedeutet«, antwortete Ian McIntosh leise, und seine Stimme klang schwer und dunkel. »Ich bleibe, solange ich gebraucht werde.«
»Du wirst immer … gebraucht … immer«, hauchte Steve. »Jessica … sag es ihm.«
Jessica nickte nur stumm. Tränen erstickten ihre Stimme.
Steve drückte die Hand seines Aufsehers. »Danke für alles, Ian … Du warst mir mehr als nur … ein guter Freund. Und nun lass mich mit Jessica allein.«
Ian McIntosh gab nur widerstrebend die Hand des Sterbenden frei. »Gottes Segen, Steve«, murmelte er. Dann erhob er sich und ging.
Jessica kauerte im Schein der Laterne neben Steve. Eine entsetzliche Leere erfüllte sie. Steve war vom Tod gezeichnet, doch etwas in ihr weigerte sich, die Unabänderlichkeit des nahenden Endes zu akzeptieren. Schreckliche Selbstvorwürfe quälten sie. War sie nicht schuld, dass Steve im Sterben lag?
Es war, als hätte Steve ihre Gedanken intuitiv erraten. »Ich war ein Narr, Jessica … Sullivan … Er hasste mich … all die Jahre. Und obwohl ich es wusste, habe ich ihn behalten. Es war eine … Dummheit … eine tödliche Dummheit.«
»Nein, es ist meine Schuld!«, brach es aus Jessica heraus. »Ich habe dich gerufen und …«
Er tastete nach ihrer Hand und schüttelte den Kopf. »Sag das nicht!«, beschwor er sie. »Es war nicht deine Schuld. Niemals! … Es ist außerdem sinnlos … Keine Zeit für Wenn und Aber … Habe … viele Fehler begangen, Jessica. Und nun ist es zu spät, sie wieder … gutzumachen.« Er rang verzweifelt nach Atem, und sein Gesicht verzerrte sich.
Minuten vergingen, ehe er die Kraft fand, weiterzusprechen. »Meine größte Schuld ist, dass ich … dir niemals gesagt … habe, wie viel du mir … wirklich bedeutest, Jessica. Du hast mir so viel mehr gegeben … als ich dir zurückgeben konnte … Habe im Leben … nie gelernt, zu sagen … ich liebe dich … Ich konnte es … einfach nicht sagen … nur im Stillen … in Gedanken … zu mir allein … habe es oft gesagt … Ich liebe dich, Jessica …« Er lächelte unter Schmerzen. »Und jetzt fällt es mir … so leicht … verzeih mir.«
»Steve! Steve! Du darfst nicht sterben, hörst du mich?«, rief Jessica, und die Verzweiflung schien sie in ihrem Innersten zerreißen zu wollen. »Du musst bei mir bleiben … und bei unseren Kindern!«
Doch Steve hörte sie schon nicht mehr. Die Schmerzen hatten ihn in die Bewusstlosigkeit gezogen. Langsam, aber unaufhaltsam rann das Leben aus seinem Körper. Und Jessica konnte nichts weiter tun, als bei ihm zu sitzen und lautlos zu weinen.
Noch einmal kam er zu Bewusstsein. Seine Hände krallten sich in einer letzten Kraftanstrengung um ihren Arm. »Jessica!«, keuchte er.
»Ich bin bei dir, Steve. Ich bin hier.«
»Edward … Victoria«, stieß er mit rasselndem Atem hervor. »Sie sind unsere Zukunft! … Hier ist ihre Heimat! … Lehre sie, das Land zu achten und zu lieben!«, beschwor er sie. »Alles andere … wir Menschen … alles vergänglich, hörst du!?«
»Ja, ich höre, Steve«, flüsterte Jessica.
»Alles … wird … zu … Staub … nur das Land bleibt.« Seine Stimme wurde leiser und leiser. »Nur das Land, Jessica … nur das … Land …«
Der Tod zog ihn sanft mit sich fort. Jessica schloss ihm die Augen und küsste ihn auf den Mund, der noch warm auf ihren Lippen war.
Als der Morgen heraufdämmerte und die Scheiterhaufen ausglommen, kniete Jessica noch immer auf dem Hof an seiner Seite.
Im Kamin prasselte ein Feuer, das der morgendlichen Kühle im Herrenhaus die Schärfe nahm. Kraftlos stand die herbstliche Sonne über Seven Hills.
Jessica saß neben dem Kamin am Sekretär und trank ihren Tee. Vor ihr lagen Bauzeichnungen, die Steve wenige Monate vor seinem Tod angefertigt hatte. Kein Baumeister hätte seine Pläne besser zu Papier bringen können.
»Es wird Zeit, dass Seven Hills ein richtiges Herrenhaus erhält. Wir werden noch mehr Kinder haben«, hatte er voller Stolz verkündet. »Und sie sollen in einem Haus aufwachsen, das der Stellung der Bradings in diesem Land entspricht.«
Im kommenden Frühjahr hatte er mit den Arbeiten beginnen wollen. Jonas Duckworth hatte schon den Zuschlag für den Transport der Steine aus den Brüchen und Sydney erhalten. Und Steve hatte auch geplant, nach der Fertigstellung des neuen Herrenhauses einen Privatlehrer für Edward einzustellen.
Ja, er war von einem schier unerschöpflichen Tatendrang beseelt gewesen. Und er hatte weitreichende, vorausschauende Pläne gehabt. Pläne für das nächste Jahrzehnt und die Zeit, da Edward alt genug war, um einen Teil der Verantwortung zu übernehmen. Doch Sullivans Kugel hatte allen Hoffnungen und Plänen ein jähes Ende bereitet.
Jessica hatte das Gefühl, als läge Steves Tod schon lange einsame Jahre zurück. Dabei waren gerade erst acht Wochen vergangen. Doch der Schmerz der Trauer und die innere Leere, die sein Tod in ihr zurückgelassen hatten, konnten aus Stunden endlose Zeiten der Verlassenheit machen.
Sein Tod war so sinnlos gewesen.
Die Aufständischen waren nicht einmal in die Nähe von Seven Hills gelangt. Wie später bekannt wurde, kam es unter den entlaufenen Sträflingen zu Meinungsverschiedenheiten über das weitere Vorgehen. Schließlich teilte sich die Bande in zwei Gruppen, die in verschiedene Richtungen zogen.
Schon am Tag nach Steve Bradings Ermordung wurde der Hauptteil der Aufständischen mehrere Meilen unterhalb der Stuart-Farm von einer Einheit Soldaten gestellt und umzingelt. Nach einem kurzen Gefecht, das zwei Tote unter den Sträflingen forderte, ergaben sich die Übrigen. Die Männer der zweiten, kleineren Gruppe erfreuten sich ihrer Freiheit nicht viel länger. Die Soldaten überraschten sie, als die Aufständischen das Lager für ihre Nacht aufschlugen. Nicht ein Schuss fiel. Und damit war der Aufstand der Iren wie ein Strohfeuer in sich zusammengefallen. Vier der Rädelsführer sollten später in Sydney öffentlich gehängt und die anderen ausgepeitscht werden.
Steves Beerdigung fand am Tag nach der Niederschlagung des Aufstandes statt.
Fast zweihundert Trauergäste wohnten der Beerdigung bei. Viele reisten zu Pferd oder mit der Kutsche aus Parramatta, Sydney und anderen Siedlungen an. Und obwohl Jessica wie betäubt war, bewegte sie diese überwältigende Beileidsbekundung.
Jessicas Hand zitterte, als ihre Gedanken zur Totenfeier zurückwanderten. Schnell setzte sie die Tasse ab. Nie würde sie den dumpfen Klang der schweren Erdbrocken vergessen, als sie auf den Sarg polterten. Und das Weinen der Kinder, die noch zu jung waren, um wirklich zu begreifen, was geschehen war, aber dennoch spürten, dass diese Zeremonie etwas Endgültiges an sich hatte.
Ein Räuspern hinter ihr ließ sie aus ihren schmerzvollen Gedanken aufschrecken. Sie wandte sich um. Ian McIntosh stand in der Tür, seinen Filzhut in der Hand.
»Sagen Sie, wenn ich störe, Jessica. Die Sache, wegen der ich komme, eilt nicht.«
»Nein, kommen Sie nur herein, Ian.« Jessica war geradezu dankbar für die Ablenkung. »Ich bin nur einige Papiere durchgegangen. Das heißt … Ach, Ian, in Wirklichkeit habe ich nur einfach dagesessen und mich meinen Gedanken überlassen.«
Der Ire trat in den Raum. »Wir haben dieses Jahr eine hervorragende Ernte. Es ist ein prächtiger Anblick, die voll beladenen Wagen zu sehen. Sie sollten sich mehr draußen im Freien aufhalten … so wie früher. Es täte Ihnen bestimmt gut.«
Jessica nickte schwer. »Ich weiß, Ian. Ich bin wirklich keine große Hilfe auf Seven Hills. Seit Steve tot ist, lastet alles auf Ihren Schultern. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne Sie tun würde.«
»Acht Wochen sind eine kurze Zeit.«
»Es sind die längsten Wochen meines Lebens gewesen.«
»Ja, weil Sie sich von allem abkapseln und kaum das Haus verlassen.«
»Soll ich da weitermachen, wo ich vor Steves Tod aufgehört habe?«, fragte Jessica mit einem Anflug von Unwillen. »Als wäre nichts geschehen?«
»Jessica, ich kenne Ihren Kummer. Aber der Tod ist etwas Unwiderrufliches, und Sie müssen lernen, sich damit abzufinden. Für uns geht das Leben mit all seinen Pflichten weiter. Auch für Sie.«
Jessica gab keine Antwort.
»Steve hat Ihnen sein Vermögen und die Farm hinterlassen. Ich kann verstehen, dass Sie die Leitung der Farm im Augenblick als gewaltige Bürde empfinden. Aber diese Aufgabe ist gleichzeitig auch eine Herausforderung. Und ich weiß genau, dass Sie ihr gewachsen sind. Sie werden es schaffen, wenn Sie es nur versuchen – und von ganzem Herzen wollen.«
»Aber vielleicht will ich es nicht«, erwiderte Jessica in schroffem Tonfall.
Ian McIntosh zog die Augenbrauen hoch. »Seven Hills ist Steves Lebenswerk, und es war sein erklärter Wunsch, dass seine Kinder …«
Jessica unterbrach ihn. »Ja, das ist mir bekannt, Ian. Edward und Victoria sind die Erben von Seven Hills. Ich kenne das Testament. Mir obliegt nur die Verwaltung bis zu Edwards fünfundzwanzigstem Lebensjahr.«
»Eine Verfügung, die ganz bestimmt nicht gegen Sie gerichtet war«, erklärte der Ire. »Bei Landgütern dieser Art ist es üblich, dass das Erbe direkt auf die Kinder übergeht, besonders dann, wenn ein Stammhalter vorhanden ist.«
Ein Ausdruck von Unwillen trat auf ihr Gesicht. »Sie haben mich wohl falsch verstanden, Ian. Von dieser Testamentsverfügung wusste ich schon lange vor Steves Tod. Und ich habe sie immer für vernünftig gehalten. Darum geht es auch gar nicht. Aber lassen wir das. Was gibt es, das Sie mit mir besprechen wollen?«
Ian McIntosh räusperte sich. »Ja, nun, es geht um unsere Rumdestille.«
»Um was?«
Der Ire wirkte ein wenig verlegen. »Es gibt auf Seven Hills eine geheime Rumdestille. Schon seit fast zehn Jahren.«
Jessica blickte ihn sprachlos vor Überraschung an. »Eine Rumbrennerei auf unserer Farm?«, stieß sie schließlich hervor. »Seit fast zehn Jahren? Das ist ja … Mein Gott, warum erfahre ich erst jetzt davon?«
Ian lächelte unsicher. »Es ist in der Kolonie nun mal verboten, Rum zu brennen und zu verkaufen. Das Syndikat hält das Alkohol- und Tabakmonopol. Das illegale Rumgeschäft ist daher nicht ganz ungefährlich. Und Steve wollte nicht, dass Sie sich sorgten, wenn er seine Fahrten machte.«
Jessica begriff plötzlich. Die vielen Fahrten mit dem schweren Ochsengespann bekamen nun ihren Sinn. »Steve ein illegaler Rumhändler.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Es fällt mir schwer, das zu glauben. Und dabei hat er doch so auf das Rumsyndikat der Offiziere geschimpft.«
»Steve hat einen ehrenhaften Handel betrieben!«, sagte McIntosh mit Nachdruck. »Nicht was Steve getan hat, ist zu verurteilen, sondern das, was diese Halsabschneider im Offiziersrock seit vielen Jahren treiben. Sie kaufen den Rum, den die Schiffe bringen, für fünf Shilling pro Gallone auf und verkaufen sie für zwanzig und mehr. Und wer nicht zum Syndikat gehört, muss ihren Preis zahlen. Sie wissen doch selbst, dass das New South Wales Corps die Wirtschaft unserer Kolonie so zerstört hat, dass man ohne Rum kaum etwas kaufen kann.«
»Ja, das ist leider nur zu wahr«, murmelte Jessica. »Aber dass Steve am Rumelend der Deportierten verdient hat.«
»Unser Erzeugnis ist sein Geld wert! Wir haben keinen billigen Fusel geliefert, wie andere, die ihren Rum mit gebranntem Zucker und Tabak versetzen und noch einen Löffel Vitriol in jedes Fass gießen!«
»Unser?«, fragte Jessica Stirn runzelnd.
Ian McIntosh nickte. »Ich habe die Destille betrieben, während Steve mehrmals im Jahr unsere Stammkunden beliefert hat.«
»Sie verstehen sich aufs Rumbrennen?«
»Ein Handwerk, das ich von meinem Vater gelernt habe«, sagte der Ire voller Stolz. »Schon mein Großvater war bekannt für seinen Whiskey, der der Beste im ganzen Bezirk war. Und mein Vater stand ihm in der Kunst der Whiskeybrennerei in nichts nach.«
Jessica blickte ihn kopfschüttelnd an. »Offensichtlich war auch Ihr Vater ein guter Lehrmeister.«
»Der Beste!«
»Und ich habe all die Jahre nichts davon gewusst.« Es schmerzte sie, dass Steve dieses Geheimnis nicht mit ihr geteilt hatte.
»In den letzten fünf Jahren haben wir den Rumhandel nur noch in sehr beschränktem Umfang betrieben. Eigentlich beugten wir uns mehr dem Wunsch unserer Stammkundschaft, die unbedingt weiterhin mit unserem Rum beliefert werden wollte, als dass es für uns eine notwendige Einnahmequelle gewesen wäre.«
»Steve hat Harper’s Inn und Mollys Schenke in Sydney beliefert, nicht wahr?«
»Ja, Sam und Molly gehören zu unseren Stammkunden.«
»Wie ist Steve dazu gekommen, sich in so ein Risiko einzulassen?«, wollte Jessica wissen.
»Die Farm stand im zweiten Jahr ihrer Existenz vor dem Ruin. Der Sommer war zu heiß gewesen, und der Herbst hatte eine verheerende Überschwemmung gebracht«, berichtete Ian. »Steve brauchte dringend Geld, um dieses katastrophale Jahr zu überstehen und noch einmal neu anfangen zu können. Und da machte ich ihm den Vorschlag mit der Rumdestille. Anfangs wollte er nichts davon wissen, doch letztlich siegte seine Liebe zu Seven Hills. Und so begannen wir. Ich fand ein paar Meilen von hier ein geeignetes Versteck für die Anlage, und Steve nutzte seine Beziehungen in Sydney. Bald waren wir gut im Geschäft, denn unser erstklassiger Rum kostet nur zehn Shilling. Und unsere Bezieher wissen, dass ihre Kunden von unserem Gesöff nicht erblinden.«
»Und wie hat Steve Sie am Profit beteiligt?«
»Wir hatten rund zwei Shilling Kosten pro Gallone. So blieben für jeden von uns vier Shilling«, erklärte er.
»Und dieses Geschäft haben Sie zehn Jahre betrieben?«
»Ja, fast.«
Jessica zögerte einen winzigen Augenblick, bevor sie ihre Verblüffung in Worte fasste. »Dann müssen Sie ja in all den Jahren beinahe ein ebenso großes Vermögen verdient haben wie Steve!«
Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Ja, das habe ich in der Tat, Jessica. Und das ist etwas, was ich ihm nie vergessen werde. Er hat mich wie einen gleichgestellten Partner behandelt. Und solange ich noch Sträfling war, legte Steve auf meinen Wunsch hin meinen Gewinn in Land und Unternehmen in Sydney an.«
Jessica brauchte einen Moment, um die Erkenntnis zu verdauen, dass Ian McIntosh ganz und gar nicht derjenige war, für den sie ihn gehalten hatte. Das Vermögen, dass ihr Steve hinterlassen hatte, war beträchtlich. Doch höchstwahrscheinlich war Ian McIntosh noch vermögender, wenn man den Wert außer Acht ließ, den Seven Hills darstellte.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Jessica verwirrt. »Warum sind Sie als Aufseher auf Seven Hills geblieben, wo Sie sich doch schon längst eine eigene Farm hätten aufbauen können?«
Der Ire zuckte die Achseln. »Ich war schon über fünf Jahre auf Seven Hills, als ich wieder ein freier Mann wurde. Ich war vom ersten Tag an dabei, Jessica. Ich habe die bitteren Jahre durchlitten und erlebt, wie die Farm zu gedeihen begann und zu dem wurde, was sie jetzt ist. Die Antwort auf Ihre Frage ist vermutlich simpel und sentimental, Jessica. Ich liebe die Farm wie ein eigenes Kind. Aber vielleicht habe ich auch einfach nicht den Mut, den Steve besessen hatte, auf eigenes Risiko mit dem Aufbau einer großen Farm zu beginnen.«
Jessica schwieg eine Weile nachdenklich. »Ich bin dankbar, Sie als Verwalter zu haben, Ian.«
»Ich bin Aufseher, nicht Verwalter«, korrigierte er sie höflich, aber bestimmt.
»Sie möchten jetzt sicher wissen, was mit der Destille werden soll.«
»Ja.«
»Welche Alternativen haben wir?«
»Die Entscheidung liegt völlig bei Ihnen, Jessica.«
»Müssen wir mit Protesten oder gar mit indirekter Erpressung vonseiten der Stammkunden rechnen, wenn die Lieferungen gestoppt werden?«
Ian verneinte. »Niemand weiß, dass ich den Rum gebrannt habe. Ich galt bestenfalls als Steves Gehilfe. Unsere Abnehmer gehen seit seinem Tod davon aus, dass die guten alten Zeiten vorbei sind und sie nie wieder preiswerten Rum von uns beziehen werden.«
»Aber Sie könnten sie überzeugen, dass Steve Ihnen ein hervorragender Lehrmeister gewesen ist, nicht wahr?« Leichter Spott schwang in ihrer Stimme mit.
Der Ire schmunzelte. »Sicher, davon ließen sie sich bestimmt gern und schnell überzeugen – solange Qualität und Preis stimmen. Schließlich haben alle, die an diesem Rumhandel beteiligt waren, gut verdient.«
Jessica musterte ihn aufmerksam. »Wir könnten unser Vermögen in einigen Jahren leicht verdoppeln, nicht wahr?«
»Ja, das könnten wir«, antwortete er zögernd und wirkte enttäuscht. »Wenn das Ihr Wunsch ist. …«
»Nein, das ist ganz und gar nicht mein Wunsch«, fiel Jessica ihm ins Wort. »Es war reine Neugierde, die mich diese Frage stellen ließ. Ian, ich möchte, dass Sie die Rumbrennerei nicht wieder aufnehmen. Zumindest nicht vom Brading-Land aus. Wenn Sie den Handel auf eigene Faust fortzuführen gedenken, muss ich darauf bestehen, dass Sie die Destille auf Ihrem eigenen Grund und Boden betreiben.«
Der Ire lächelte geradezu erleichtert. »Ich hatte gehofft, dass Sie so entscheiden würden«, gestand er. »Ich werde die Anlage in den nächsten Tagen zerlegen. Vielleicht wäre es ganz ratsam, wenn ich unsere Stammkunden persönlich aufsuchen würde.
Ich möchte keine Zweifel darüber lassen, das mit Steve auch das lukrative Rumgeschäft gestorben ist.«
Jessica nickte zustimmend. »Eine gute Idee.«
»Ja das war eigentlich alles.« Ian McIntosh wandte sich zum Gehen.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun, wenn Sie nach Sydney kommen?«, fragte sie.
Der Ire blieb stehen. »Aber sicher doch. Was kann ich für Sie in Sydney erledigen?«
»Erkundigen Sie sich doch bitte, wann das nächste Schiff nach England geht.«
Verständnislos sah er sie an. »England?«
»Ja.«
»Sie wollen eine Passage buchen?«, fragte er, noch immer völlig verwirrt.
»Ja, das habe ich vor!«, erklärte sie mit fester Stimme.
»Und … Edward und Victoria?«
»Was soll mit ihnen sein? Natürlich lasse ich meine Kinder nicht zurück.«
»Aber Sie werden nicht für immer weg sein, nicht wahr?«, fragte er leise. »Ich meine, Sie besuchen die alte Heimat, und in zwei Jahren kommen Sie wieder zurück.«
»Das kann ich Ihnen nicht versprechen, Ian.«
Er war blass geworden. »Aber Jessica! Das kann unmöglich Ihr Ernst sein! Seven Hills ist Ihr Zuhause, das Lebenswerk Ihres verstorbenen Mannes und Ihre neue Heimat!«
»England ist meine Heimat, Ian! Nach New South Wales bin ich deportiert worden. Und diesen Unterschied habe ich nicht vergessen.«
Sein Gesicht verhärtete sich. »Haben Sie auch vergessen, was Ihnen dieses Land gegeben hat?«
Trotzig begegnete sie seinem herausfordernden Blick. »Was hat es mir denn gegeben, Ian? So sagen Sie schon, was hat es mir gegeben? Nichts! Oh, doch, das ist die Wahrheit. Dieses Land hat nur genommen. Es hat mir meine erste Liebe genommen!«, brach es wild aus ihr heraus. »Es hat mir meinen Rest Selbstachtung genommen. Es hat mich immer wieder gedemütigt und in den Dreck geworfen.«
»Und Steve?«, rief Ian mit erhobener Stimme. »Haben Sie vergessen, was er Ihnen gegeben hat? Er hat Sie geachtet und geliebt, ja angehimmelt hat er Sie. Er hat Ihnen die Freiheit und die Selbstachtung wiedergegeben, und er hat Ihrem Leben als Mutter von Edward und Victoria und als Herrin von Seven Hills einen neuen, tiefen Sinn gegeben. Haben Sie all das schon vergessen? Mein Gott, ich hatte Sie für dankbarer gehalten. Wie habe ich mich nur so in Ihnen täuschen können?«
Jessicas Gesicht verzerrte sich vor Seelenschmerz. »Nichts davon habe ich vergessen! Und gerade um dieses Glück hat mich diese verfluchte Kolonie betrogen! Eine Kolonie, die auf Unrecht und Gewalttätigkeit aufgebaut ist – und in der auch Gewalt und Unrecht regieren. Was wissen Sie schon davon, was Steve mir bedeutet hat! Dieses Land hat mich einige Jahre glauben lassen, es könnte für mich doch noch ein Leben in Liebe und Erfüllung geben. Und es waren wunderbare Jahre an seiner Seite, trotz harter Arbeit und der Launen der Natur. Doch es sollte nicht sein, Ian! Gerade als ich meinte, mich auf ein beständiges Leben zusammen mit Steve einrichten zu können und wir näher zueinander gefunden hatten, musste er sterben. Keine fünf Jahre war ich seine Frau. Und dafür soll ich dankbar sein? Dass ich schon wieder alles verloren habe?«
»Das war ein tragisches Unglück, Jessica.«
Heftig schüttelte sie den Kopf. Tränen ließen ihre Augen glänzen. »Nein, daran kann ich nicht mehr glauben, Ian. Alles, was mir auch nur etwas lieb und wert war, hat mir dieses Land genommen. Alles. Und ich will nicht, dass ich meine Kinder eines Tages auch noch verliere. Bei einem Aufstand, bei einem Buschfeuer, während einer Überschwemmung oder durch den Biss einer Kobra. Nein, den Gedanken kann ich nicht ertragen. Ich werde mit Edward und Victoria nach England segeln, Ian. Ob Sie mir nun behilflich sind oder nicht. Meine Kinder haben ein Recht darauf, in einem zivilisierten Land aufzuwachsen, das nicht von einem Dutzend Rum-Offizieren regiert und von marodierenden Aufständischen und Naturkatastrophen heimgesucht wird.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen.
Schweigend und mit betroffener Miene stand Ian McIntosh vor ihr. Eine ganze Weile war ihr unterdrücktes Schluchzen der einzige Laut in der Stille.
»Ich hoffe inständig, Sie überlegen es sich noch einmal und bleiben«, sagte er schließlich ruhig. »Sollten Sie jedoch bei Ihrem Entschluss bleiben, werde ich Ihnen in jeder Hinsicht helfen, Arrangements für die Passage und die Verwaltung der Farm zu treffen.«
Jessica wischte sich die Tränen aus den Augen. »Danke, Ian. Sie sind wirklich ein Freund«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich wünschte, ich hätte Sie auch in England in meiner Nähe.«
»Mein Platz ist hier, Jessica. Dies ist meine Heimat.«
»Warum nur nimmt uns das Schicksal immer das, woran unser Herz am stärksten hängt?«, fragte Jessica grübelnd.
Ian McIntosh seufzte schwer. »Sowie ich hier abkömmlich bin, reite ich nach Sydney. Doch es kann sein, dass Sie bis zum Frühjahr warten müssen. Der Winter steht vor der Tür. Und kein Captain, der nicht guten Grund hat, wird sein Schiff auf die Südroute schicken.«
»Ein Schiff, Ian, besorgen Sie mir ein Schiff – auch wenn es erst im Frühjahr segelt!«
Die SouthwindSouthwind