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Altersdemenz

Leben mit dem Vergessen

F.A.Z.-eBook 51

Frankfurter Allgemeine Archiv

Herausgeber: Joachim Müller-Jung

Redaktion und Gestaltung: Birgitta Fella

Zuständiger Bildredakteur: Henner Flohr

Projektleitung: Olivera Kipcic

eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb und Vermarktung: Content@faz.de

© 2017 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main

Titel-Grafik: © wildpixel/iStockphoto.com

ISBN: 978-3-89843-460-7

Einleitung

Die Prognosen zur Demenz-Epidemie

Demenz zählt zu den häufigsten Erkrankungen im Alter. Für den Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit gibt es bislang keine Heilungsmöglichkeiten.

Von Joachim Müller-Jung

Ungünstige Prognosen haben den Vorteil, dass man nachher eher positiv überrascht wird. Das betrifft etwa Zahlen wie diese: 135 Millionen Menschen mit Demenz im Jahr 2050 – dreimal so viele wie heute. Europa allein muss mit 16 Millionen rechnen. So lauteten die Vorhersagen der Internationalen Alzheimer-Organisation ADI vor wenigen Jahren. Niemand kann heute ihre Richtigkeit prüfen, den meisten reicht es, wenn sie schlüssig sind. Auch Wissenschaftler gehen so vor. Das gilt auch für an sich positive Prognosen wie die des weltweit anerkannten Max-Planck-Instituts für demographische Forschung von 2012. Jedes zweite heute geborene Kind kann hundert Jahre alt werden, hatten die Wissenschaftler ausgerechnet. Darin steckte die Annahme, dass die Bedingungen, in denen die Kinder groß und älter werden, nicht bleiben, wie sie sind, denn dann bliebe die Lebenserwartung annähernd konstant bei um die 80. Vielmehr nahmen die Rostocker Forscher an, dass die Lebensverhältnisse und mit ihnen die medizinischen wie hygienischen und ernährungsphysiologischen Bedingungen kontinuierlich besser werden – so wie bisher schon.

Wie schnell aus einer günstigen eine ungünstige Prognose werden kann, hat sich dann rasch gezeigt: Denn aus einer rapide steigenden Lebenserwartung lässt sich rechnerisch ebenso gut auch eine rapide wachsende Zahl von Dementen ableiten. Dann nämlich, wenn man annimmt, dass die Prävention und Behandlung von Alzheimer sich etwa so weiterentwickelt wie bisher – nämlich kaum von der Stelle. Schon diese Annahme ist fragwürdig, ja nicht einmal wahrscheinlich. Dazu muss man keineswegs auf visionäre Projekte wie eine Alzheimer-Impfung verweisen oder die Fortschritte in der Stammzellforschung. Es genügt, die Fortschritte der konventionellen Medizin aufzurufen. Das haben Wissenschaftler um Eric Larson von der University of Washington in Seattle getan. Sie haben zwei amerikanische und drei europäische Studien aus den letzten Jahren aufgearbeitet und kommen zu einem bemerkenswerten Schluss: Obwohl die Häufigkeit von Demenzen statistisch mit dem Alter vor allem ab 80 Jahren stark zunehme, gebe es gute Gründe anzunehmen, dass der Anteil der altersdementen Patienten an der Bevölkerung in vielen Ländern abnehmen könnte. Mehrere Gründe kommen da zusammen: Bildung und Wohlstand hätten sich in den vergangenen Jahren als »Schutzfaktor« gegen Demenz erwiesen – gebildete Menschen erhalten ihre Gesundheit besser, insbesondere in den entscheidenden mittleren Jahren vor Erreichen des hohen Alters. Und in gebildeten, wohlhabenderen Gesellschaften werde das verstärkt kultiviert, was die Forscher die »individuelle Risikofaktoren-Kontrolle« nennen. Das betrifft insbesondere die Risiken für gesunde Gefäße.

Wird also womöglich alles gar nicht so schlimm? Das stimmt erstens nicht für das Individuum, denn wie groß das Risiko der Demenzerkrankung ist, hängt nicht vom statistischen, sondern vom individuellen Risikomanagement ab. Und es wird auch statistisch gesehen für wohlhabende, gut gebildete Populationen in zweierlei Hinsicht nicht zutreffen: Denn zum einen dürfte die Lebenserwartung – eben wegen jener verbesserten Risikokontrolle – insgesamt so schnell zunehmen, dass zwar die Zahl der Demenzkranken anteilig abnimmt, aber in absoluten Zahlen weiter rasant zunimmt. Statt 50 (bei tausend Senioren) wird man 100 (bei dreitausend Senioren) mit Demenz haben. Zum zweiten gilt für die Extrapolation dieser jüngeren Entwicklung, so verlockend sie auch sein mag, das Gleiche wie für alle Vorhersagen: Die Annahmen sind entscheidend.

Eine Prämisse könnte die künftige Prognose nämlich schon zunichtemachen, geben auch die amerikanischen Mediziner um Eric Larson zu bedenken: Schlägt sich die speziell bei Menschen im mittleren Alter rasant steigende Zahl an fettleibigen Patienten pathologisch auf die Gefäßgesundheit nieder, könnte es schon wieder vorbei sein mit der positiven Überraschung in der Demenzprognose. Aber auch dieser enge Zusammenhang hängt, wie gesagt, statistisch noch in der Luft.

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Alzheimer – Die Entdeckung der Vergesslichkeit

Die Patientin im »Irrenschloss«

Der Mediziner Alois Alzheimer verbrachte 15 Jahre seines Lebens in Frankfurt, und eine Begegnung in der Stadt machte ihn weltberühmt: Er untersuchte eine geistig verwirrte Patientin, deren Krankheit später nach ihm benannt wurde.

Von Ingrid Karb

Ausgerechnet die »Krankheit des Vergessens« hat Alois Alzheimer unvergessen gemacht. Weil er als erster Mediziner die Krankheitssymptome beschrieb und die Veränderungen im Gehirn der Kranken entdeckte, wurde diese Form der Demenz nach ihm benannt. Als Synonym für Vergesslichkeit kennt inzwischen fast jeder den Namen des Mannes, der am 14. Juni 1864 im unterfränkischen Marktbreit geboren wurde. In Frankfurt verbrachte Alzheimer 15 Jahre seines Lebens – es waren die prägendsten, sowohl beruflich als auch privat.

Nachdem er 1883 am heutigen Kronberg-Gymnasium in Aschaffenburg das Abitur gemacht hatte, studierte Alois Alzheimer in Würzburg Medizin, mit Abstechern an die Universitäten von Berlin und Tübingen. Die erste berufliche Station führte ihn 1888 als Assistenzarzt an die von Heinrich Hoffmann gegründete »Städtische Anstalt für Irre und Epileptische« in Frankfurt. Im Volksmund wurde die stattliche Villa auf dem Affensteiner Feld am Grüneburgpark, dort, wo heute der Poelzig-Bau steht, das »Irrenschloss« genannt. Dass die Patienten dort zu nichts gezwungen wurden und sich zum Teil im Haus frei bewegen konnten, war für die damalige Zeit revolutionär.

Der junge Arzt verliebte sich in Cecilie Geisenheimer, deren Mann vermutlich auch an der später nach Alzheimer benannten Krankheit verstorben war. Die beiden heirateten 1895, drei Kinder gingen aus der Ehe hervor. Doch das Familienglück währte nur wenige Jahre, bis Cecilie im Februar 1901 an einer schweren Krankheit starb. Der Witwer stürzte sich in die Arbeit und lernte Ende desselben Jahres seine wichtigste Patientin kennen: Auguste Deter.

Die 51 Jahre alte Frau war von ihrem Ehemann in die Anstalt gebracht worden, weil er mit der geistig verwirrten Frau und ihren starken Stimmungsschwankungen zu Hause nicht mehr zurechtgekommen war. Schriftliche Aufzeichnungen der ersten Gespräche mit Alzheimer zeigen, dass Deter weder ihren Namen sagen konnte noch Orientierung über Zeit und Ort hatte. »Ich habe mich sozusagen selbst verloren«, sagte sie zu dem Psychiater. Als »Krankheit des Vergessens« bezeichnete dieser daraufhin das Leiden. Ähnliche Symptome hatte er schon häufig bei älteren Patienten beobachtet, sein wissenschaftliches Interesse wurde vor allem wegen des geringen Alters der Patientin und des schnellen Fortschreitens der Krankheit, die mit Beeinträchtigungen der Sprache und des praktischen Geschicks verbunden war, geweckt.

Die Krankenakte von Auguste Deter mit Gesprächsprotokollen und Fotos war lange Jahre verschollen. Erst 1995 fand Konrad Maurer, der damalige Direktor der psychiatrischen Klinik, die 31 handgebundenen und handgeschriebenen Seiten im Keller der Universitätsklinik. 2000 veröffentlichte er mit seiner Frau Ulrike eine Biographie Alzheimers.

Dieser hatte Frankfurt im Jahr 1902 verlassen und war als wissenschaftlicher Assistent zu Emil Kraepelin an die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg gegangen. Gemeinsam wechselten die beiden 1904 an die Psychiatrische Klinik in München, und im selben Jahr veröffentlichte Alzheimer seine Habilitation über »Histologische Studien zur Differentialdiagnostik der progressiven Paralyse«. Dafür hatte er mehr als 200 Gehirne unter dem Mikroskop untersucht.

In all diesen Jahren ließ Alzheimer den Kontakt nach Frankfurt nicht abreißen. Regelmäßig erkundigte er sich nach dem Zustand seiner ehemaligen Patientin Deter. Als diese im April 1906 an Blutvergiftung nach Wundliegen starb, ließ er sich ihr präpariertes Hirn zuschicken. Bei der Untersuchung entdeckte er einen Schwund des Hirngewebes, Knötchen und Einlagerungen eines eigenartigen Stoffes. Heute weiß man, dass es sich um Beta-Amyloid handelte, ein für Nervenzellen schädliches Eiweißbruchstück. »Mein Fall Auguste D. bot klinisch ein so abweichendes Bild, dass er sich unter keine der bekannten Krankheiten einreihen ließ«, sagte Alzheimer auf einer Fachtagung in Tübingen, wo er am 3. November 1906 die Ergebnisse als eigenständiges Krankheitsbild vorstellte. Schon vier Jahre später führte sein Mentor Kraepelin die Bezeichnung »Alzheimer-Krankheit« ein.

Die letzte berufliche Station Alzheimers war Breslau, wo er 1912 eine Professur für Psychiatrie und Neurologie annahm. Wenige Jahre später bekam er Herzbeschwerden, Nierenversagen und Atemnot. Am 19. Dezember 1915 starb Alois Alzheimer im Alter von nur 51 Jahren und wurde auf dem Frankfurter Hauptfriedhof neben seiner Frau Cecilie beigesetzt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.06.2014

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»Die letzten Tage war’s gut«

Patientin Nr. 1: Auguste Deters erschütternde Krankenakte

Von Tilman Spreckelsen

Als die einundfünfzigjährige Auguste Deter aus Frankfurt, Mörfelder Landstraße 64, am 25. November 1901 in die »Städtische Irren-Anstalt« aufgenommen wurde, stellte sie die dortigen Ärzte vor ein Rätsel, das sich auch im Verlauf der vier Jahre, vier Monate und 14 Tage, die Deter bei ihnen in Behandlung war, nicht lösen lassen sollte.

Einerseits zeigte sie ein derart exzentrisches Verhalten, dass nicht nur der Gatte, ein Eisenbahnkanzlist, an ihrem Verstand zweifelte. Sie hatte ihren Mann – völlig grundlos, wie es schien – beschuldigt, mit einer flüchtigen Bekannten ein Verhältnis zu unterhalten. Sie belästigte Mitbewohner des Hauses und war offensichtlich zu verwirrt, um ihren gewohnten Tagesablauf einzuhalten.

Andererseits aber war sie mit 51 Jahren eigentlich zu jung für Symptome, wie man sie nur von viel älteren Menschen kannte. Auch die eingehende Befragung des Gatten ergab keinen Hinweis darauf, warum sich seine bis dato geistig vollkommen normale Frau seit etwa sechs Monaten so verändert habe. Auguste Deters Eltern waren keine Blutsverwandten, auch seien Geisteskrankheiten, Trunksucht, Selbstmord oder irgendwelche Verbrechen bei Deters Vater, Mutter oder bei ihren Geschwistern bislang nicht beobachtet worden. Nicht einmal »auffallende Charaktere oder Talente« kämen in dieser Familie vor, und unehelich geboren sei Auguste Deter auch nicht.

Immerhin wusste ihr Mann von »Nervenkrankheiten« seiner verstorbenen Schwiegermutter zu berichten. Das war aber auch schon alles. So blieb in der Akte, die in der Klinik unter der Signatur 3580 für sie angelegt wurde, unter der Rubrik »Krankheitsform« nur äußerst unspezifisch »einfache Seelenstörung« einzutragen statt der auf dem Aufnahmeformular ebenfalls vorgeschlagenen Diagnosen wie »paralytische Seelenstörung«, »Imbecillität (angeboren)« oder »Delirium potatorum«. Als Ursache für Deters Zustand vermutete man vage eine »Arteriosclerose«.

Die Akte, die sich seit 2010 im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte befindet, umfasst vierzig Blatt. Den größten Raum nimmt das Protokoll des Assistenzarztes Alois Alzheimer ein, der Deter in den ersten Tagen ihres Aufenthalts in der Anstalt lange und intensiv befragte, bevor er im folgenden Jahr nach Heidelberg ging – spätere Aufzeichnungen zu dieser Patientin sind sporadisch und eher knapp. Alzheimers Protokoll zeigt seine Patientin in wechselnden Graden von Verwirrtheit. Fragen nach ihren Lebensumständen beantwortet sie mal klar, mal unsicher, und oft genug muss eine glücklich gefundene Antwort wie »Auguste« (Vorname) oder »51« (Alter) auch für alle anderen Fragen taugen, ob sie nun auf den Namen des Ehemanns oder den der Tochter oder auf das eigene Geburtsjahr zielen. Auch wenn sie ihren eigenen Namen schreiben soll, hat sie Mühe, über das Wort »Auguste« hinauszufinden.

Doch Alzheimer hielt auch Momente fest, in denen die Patientin angesichts der seltsamen Situation, in der sie sich befindet, verzweifelt nach Karl oder Thekla schreit – ihrem Mann und ihrer Tochter. Einmal sagt sie unvermittelt: »Ich habe keine Lust und keine Zeit.« Auf die Rückfrage »Zu was?« antwortet sie kryptisch: »Das möchte ich mir ausbitten.« Dann wieder kommt es zu einem sinnvollen Dialog: Alzheimer fragt »Wie geht es?«, Deter antwortet: »Die letzten Tage war’s ja ganz gut.« Doch auf die Frage »Wo sind Sie hier?« sagt sie: »Hier und überall, hier und jetzt, Sie dürfen mir nichts übelnehmen.«

Deters Zustand verschlechterte sich rasch. Im Mai 1902 heißt es über sie: »Ganz abwesend, schreit und schlägt, sobald man an sie herantritt, lässt sich nicht untersuchen. Schreit auch spontan oft stundenlang.« Zweieinhalb Jahre darauf notiert man, dass sie sich »fortwährend« verunreinige. Im August 1905 stellen die Ärzte fest: Deter »liegt immer mit angezogenen Beinen im Bett; regelmäßig unrein mit Kot und Urin; spricht nie etwas. Brummt nur vor sich hin. Muß gefüttert werden.«

Was es mit ihrer Krankheit auf sich hatte, blieb bis zu ihrem Tod am 8. April 1906 unklar. Als Todesursache enthält die Akte den Vermerk »Marasma universalis«, also Auszehrung. Außerdem scheint sie an einer durch einen Dekubitus verursachten Blutvergiftung gelitten zu haben. Als dann aber Alzheimer, der mittlerweile in München arbeitete, das Gehirn der Toten untersuchte, wies er dort mit Hilfe neuer Färbemethoden Eiweißablagerungen nach – die typischen Plaques. Wenig später trug Auguste Deters Krankheit den Namen des Mannes, der sie so ausdauernd befragt hatte.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 06.11.2011

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Nicht therapierbar – Ergebnisse aus Forschung und Medizin

Warum wir Alzheimer immer noch nicht heilen können

Und trotzdem auf dem richtigen Weg sind. Die Demenzforschung wird mit systematischen Studien am Menschen zeigen, was die fortschreitende Zerstörung des Gehirns schon in frühen Jahren verursacht – und am Ende auch den Patienten etwas anbieten können.

Von Mathias Jucker

Zu den bedrückendsten Konsequenzen des Alterns gehört die Demenz, die im hohen Lebensalter beinahe zwangsläufig auftritt und Pflegekosten in Milliardenhöhe verursacht. Die Alzheimer-Erkrankung ist die am häufigsten auftretende Demenz. Obwohl die Krankheit seit über einem Jahrhundert bekannt ist und die Forschung inzwischen vieles über die Ursachen und Krankheitsmechanismen zutage gefördert hat, gibt es immer noch keine wirkungsvolle Therapie. Erst vor wenigen Monaten wurde ein weiterer Hoffnungsträger wegen enttäuschender klinischer Resultate aus dem Rennen genommen. Was macht die Alzheimer-Demenz zu einer so schwierigen Erkrankung, und wieso dürfen wir trotzdem auf Therapieerfolge hoffen?

Alois Alzheimer sprach im November 1906 bei einer Tagung in Tübingen erstmals über diese »eigenartige Erkrankung der Hirnrinde«, die heute seinen Namen trägt. Er hatte bei einer dementen Patientin nach deren Tod ungewöhnliche Proteinablagerungen im Gehirn festgestellt – sogenannte Amyloid-Plaques und neurofibrilläre Bündel (Tangles). Auch heute noch definiert sich die Erkrankung über eine Kombination aus Demenz und dem Vorhandensein dieser beiden Proteinablagerungen. Lassen sich keine Plaques und Tangles feststellen, dann ist es auch keine Alzheimer-Krankheit. Was ist aber, wenn wir die Proteinablagerungen im Gehirn durch eine Therapie beseitigen, die klinischen Veränderungen aber bleiben? Haben wir dann die Alzheimer-Erkrankung geheilt, auch wenn die Menschen weiterhin dement sind? Oder wird es solche Fälle gar nicht geben, da die Proteinablagerungen tatsächlich ursächlich für die Erkrankung sind? Im Grunde stellen wir heute noch immer die gleichen Fragen, die sich schon Alois Alzheimer gestellt hat – ein ganzes Jahrhundert an Alzheimer-Forschung und noch immer keine befriedigende Antworten auf diese entscheidenden Fragen. Wie kann das sein?

Alzheimer ist eine altersbedingte Erkrankung. Mit 65 Jahren ist das Erkrankungsrisiko mit ein bis zwei Prozent gering. Mit 90 Jahren ist das Erkrankungsrisiko mit über vierzig Prozent sehr hoch. Vor hundert Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei 50 Jahren. Kein Wunder also, dass die Alzheimer-Forschung lange Zeit ein Schattendasein geführt hat. Heute scheint zwar das individuelle Erkrankungsrisiko zurückzugehen, was hochinteressant ist und Anlass zu Spekulationen über Präventivmaßnahmen gibt, doch die Zahl der Alzheimer-Patienten nimmt wegen der steigenden Lebenserwartung weiterhin zu. Weltweit sollen 2050 über hundert Millionen Menschen an Alzheimer erkrankt sein, also mehr als die derzeitige Einwohnerzahl der Bundesrepublik.

Erschwerend für die Alzheimer-Forschung ist, dass es keine natürlichen Tiermodelle gibt, an denen die Mechanismen der Erkrankung untersucht werden können. Tiere entwickeln keine Alzheimer-Demenz. Auch nicht unsere nächsten Verwandten, die Affen, mit denen uns eine bis zu 99-prozentige genetische Identität verbindet. Man versucht heute auch, herauszufinden, was nichthumane Primaten vor Alzheimer schützt. Affen entwickeln nämlich durchaus Plaques, doch dann scheint sich die Krankheit nicht weiterzuentwickeln. Tangles sieht man bei Affen nur selten, und die typischen klinischen oder »Verhaltensmerkmale« einer Alzheimer-Demenz fehlen völlig. Letzteres ist zwar nicht ganz einfach zu eruieren, aber mit Ausnahme der Sprache können alle klinisch-dia­gnostischen Verfahren auch beim Affen angewendet werden.

Vor 20 Jahren wurden Mäuse dann derart genetisch verändert, dass sie Teilaspekte der Alzheimer-Pathologie abbilden. Dafür machte man sich die Tatsache zunutze, dass es eine Familie in Schweden gibt, die sehr früh und genetisch bedingt an der Alzheimer-Demenz erkrankt. Der Grund dafür ist eine Genveränderung im Amyloidvorläuferprotein, aus dem das Amyloid-beta-Protein, kurz Abeta, herausgeschnitten wird, das sich dann als Plaques im Gehirn ablagert. Die Wissenschaftler haben transgene Mäuse gezüchtet, denen dieses menschliche Protein mit der entsprechenden Genveränderung ins Genom geschleust worden war. Und tatsächlich: Diese Mäuse entwickelten Plaques, und zwar schon nach wenigen Monaten. Etwas später konnte man auch Mäuse mit humanen Tangles züchten. Eine Paarung der Plaque-Mäuse mit den Tangle-Mäusen zeigte dann, dass die Plaques die Tangles induzieren und nicht umgekehrt. Es gibt allerdings auch Formen der Demenz, die nur mit der Bildung von Tangles einhergehen.

Doch wie lässt sich nachweisen, dass die Plaques die Ursache und nicht eine frühe Begleiterscheinung von Alzheimer sind? Der vielleicht überzeugendste Hinweis kommt von der Genetik. Man kennt heute nicht nur die Familie in Schweden, sondern viele andere Familien, die früh und erblich bedingt an der Alzheimer-Demenz erkranken. Bei all diesen Familien treten die Symptome typischerweise schon zwischen 40 und 50 Jahren auf, nicht erst im hohen Alter. Eine genaue Kartierung und Untersuchung dieser Genveränderungen ergab, dass alle Genmutationen – zumindest die in kultivierten Zellen – immer die gleiche Wirkung haben: Sie bringen die Zellen entweder dazu, mehr Abeta aus dem Amyloidvorläuferprotein herauszuschneiden oder aber Abeta-Varianten zu produzieren, die sehr aggregationsfreudig sind. In beiden Fällen lagert sich dann aggregiertes Abeta als Plaques im Gehirn ab. Zumindest für diese familiären Formen der Alzheimer-Erkrankung scheint man die Ursache verstanden zu haben. Die Frage, wie das aggregierende Abeta aber letztendlich zu der Demenz führt, lässt sich bis heute nur teilweise beantworten.

Alois Alzheimer konnte aus der Hirnautopsie kaum Schlüsse auf den Verlauf der Krankheit ziehen. Wir wissen heute, dass mindestens zehn bis zwanzig Jahre vor dem Auftreten der Krankheits­symptome bereits Veränderungen im Gehirn zu finden sind. Dass wir dies wissen, verdanken wir wiederum den Alzheimer-Familien. Man hat die Genträger zu einem Zeitpunkt untersucht, an dem sie noch keinerlei Symptome hatten und die gemessenen Veränderungen zum erwarteten Auftreten der Symptome in Beziehung gesetzt. Da weltweit nur wenige Familien betroffen sind, schloss man sich zu der internationalen »Dian«-Studie (Dominantly Inherited Alzheimer Network) zusammen. Auch Deutschland spielt bei dieser Studie eine entscheidende Rolle. Heute werden weltweit über 500 Probanden (Mutationsträger und deren gesunde Geschwister als Kontrolle) aus mehr als 200 Familien untersucht. Dabei werden neben klinischen Routineuntersuchungen auch Blut und Liquor analysiert und die Veränderungen im Gehirn über Bildgebung bestimmt. Vor allem die Bildgebung hat eine rasante Entwicklung durchgemacht. Man kann heute mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET) das aggregierte Abeta und somit die Plaques sichtbar machen. Seit kurzem können auch Tangles über die PET-Bildgebung dargestellt werden. Die Bildgebung und die Liquor-Veränderungen zeigen unmissverständlich, dass es bereits zehn bis zwanzig Jahre vor den ersten Symptomen Plaques und Tangles gibt und dass es zu einer Verkleinerung bestimmter Hirnregionen kommt. Dabei scheinen Abeta-Ablagerungen die erste messbare Veränderung zu sein. Vieles deutet darauf hin, dass dies auch auf die weitaus häufigere, nicht vererbte, sporadische Form von Alzheimer zutrifft. Doch nicht nur bei der Alzheimer-Krankheit sind Hirnveränderungen Jahrzehnte vor den ersten Symptomen messbar, es scheint bei fast allen altersbedingten neurodegenerativen Erkrankungen Jahre vor dem Auftreten der Symptome bereits zu Veränderungen im Gehirn zu kommen. Während wir bisher maximal zwanzig Jahre vorher Veränderungen im Hirn messen können, ist zu erwarten, dass es in Zukunft immer bessere und sensitivere Tests geben wird, mit denen man diese Veränderungen noch früher erkennen kann.

Eine Früherkennung neurodegenerativer Erkrankungen ist essentiell, damit die Krankheiten vor dem Auftreten der Symptome bekämpft werden können. Allerdings wirft die Möglichkeit einer frühen Diagnose natürlich auch die Frage auf, ob wir uns dann alle testen lassen sollten, um unsere Zukunft besser planen zu können. Doch was passiert mit den Menschen, die diese frühen Veränderungen tatsächlich besitzen, aber noch zehn bis zwanzig Jahre symptom­frei leben können? Wird unser Gesundheitssystem und unsere Arbeitswelt sie als gesund oder als krank einstufen? Derartige Fragen werden wir in Zukunft beantworten müssen. Heute werden Liquoruntersuchungen und Bildgebung normalerweise nur dann eingesetzt, wenn die klinische Diagnose bei symptomatischen Patienten gesichert werden muss. Gibt es keine Anzeichen für Abeta-Ablagerungen oder Veränderungen des Tau-Proteins, das Bestandteil der Tangles ist, wird die klinische Verdachtsdiagnose »Alzheimer« revidiert. Da man sich keineswegs sicher ist, dass Abeta-Ablagerungen unweigerlich zur Demenz führen, werden keine Gesunden außerhalb der klinischen Studien untersucht.

Die nichthumanen Primaten zeigen auch, dass die Entwicklung von Plaques nicht zwangsläufig über Tangles zur Demenz führen muss. In diesem Zusammenhang wird auch oft auf eine Studie mit Nonnen hingewiesen, die ohne Anzeichen einer Demenz gestorben waren. Dennoch besaßen viele von ihnen Abeta-Ablagerungen, die mit denen in einem Alzheimer-Gehirn vergleichbar waren. Man könnte diesen Befund so erklären, dass die Frauen Symptome einer Alzheimer-Demenz entwickelt hätten, wenn sie noch zehn oder zwanzig Jahre länger gelebt hätten. Da sie aber im fortgeschrittenen Alter gestorben sind, könnte es aber auch sein, dass sich die Krankheit in dieser Gruppe langsamer entwickelt hat. Deshalb untersuchen laufende Forschungsprojekte, wie zum Beispiel die »Dian«-Studie, ob es eine Art von Resilienz gibt. Gibt es also Faktoren, die Menschen mit Abeta-Ablagerungen davor schützen, eine Demenz zu entwickeln oder zumindest die Zeit ohne Symptome hinauszögern. Es gibt erste gute Hinweise, dass dies tatsächlich der Fall ist.

Molekularbiologisch ist die Freisetzung von Abeta ein normaler Prozess, dessen physiologische Bedeutung aber bis heute nicht geklärt ist. Wir wissen jedoch, dass Abeta durch zwei Sekretasen – die Beta-Sekretase oder kurz BACE und die Gamma-Sekretase – aus dem Amyloidvorläuferprotein herausgeschnitten wird. Wenn diese Sekretasen zu aktiv sind oder wenn zu wenig Abeta abgebaut wird, kommt es zur Fehlfaltung und Aggregation von Abeta. Die Abeta-Aggregation breitet sich dann im Gehirn nach einem ähnlichen Mechanismus wie bei Prionenerkrankungen aus. Dabei zwingt das fehlgefaltete Abeta den anderen Abeta-Molekülen seine Form auf und bringt sie so ebenfalls zur Aggregation und Plaquebildung. Diese Kettenreaktion beginnt typischerweise in bestimmten kortikalen Regionen und breitet sich dann im gesamten Hirn aus. Auch die Aggregation von Tau und somit die Ausbreitung der Tangles scheint nach dem gleichen Prinzip abzulaufen. Vermutlich ist dieser Wirkungsmechanismus umso eher aufzuhalten, je früher in diesen Prozess eingegriffen wird. Unklar ist, ob die Proteinaggregation die Neurodegeneration kontinuierlich vorantreibt oder ob die Abeta- (und Tau-) Aggregationskeime einen neurodegenerativen Prozess in Gang setzen, der dann unabhängig von der weiteren Proteinaggregation fortschreitet. Letzteres wird für die Prionenerkrankungen postuliert und untermauert die Notwendigkeit einer möglichst frühen Intervention.

Geht man also davon aus, dass aggregiertes Abeta die Ursache der Alzheimer-Demenz ist, dann sind die oben beschriebenen transgenen Mausmodelle, die genau diesen Aspekt der Erkrankung widerspiegeln, geradezu ideal, um Therapien zu testen. Schon kurz nach der Entwicklung dieser Mäuse wurde berichtet, dass Abeta-Antikörper die Abeta-Aggregation und Plaquebildung vermindern können. Man nimmt an, dass die Antiköper nach Verabreichung ins Hirn einwandern und das Abeta binden. Das gebundene Abeta wird blockiert und wahrscheinlich durch im Gehirn vorhandenen Abwehrzellen, die Mikroglia, entfernt. Eine zweite und vielversprechende Abeta-Therapiestrategie sind BACE-Inhibitoren, die die Produktion von Abeta reduzieren. Die Entwicklung solcher Inhibitoren war äußerst schwierig, da es keine vergleichbaren Inhibitoren gibt, die man hätte modifizieren können. Auch sollten andere Sekretasen möglichst wenig gehemmt werden, um unerwünschte Nebenwirkungen zu minimieren. Ging es den Mäusen nach der Abeta-Immunotherapie und dem Einsatz der BACE-Inhibitioren besser? Die meisten Studien bejahen dies, doch da die Mäuse ein Modell für Abeta-Ablagerungen nicht aber für die Alzheimer-Demenz sind, kann die klinische Wirksamkeit nur am Menschen beurteilt werden.

Nachdem eine erste medienträchtige klinische Abeta-Immunotherapie-Studie wegen starker Nebenwirkungen abgebrochen werden musste, gab es auch andere Ansätze, die aufgrund von Nebeneffekten oder verfehlten Zielen nicht weiter verfolgt wurden. Vor wenigen Wochen scheiterte dann auch Solanezumab, ein Antikörper, der sich bereits in der finalen Testphase 3 befand. Dies sind schwere Rückschläge für die Wissenschaftler und Pharmafirmen, aber vor allem auch für die Patienten. Nichtdestotrotz haben diese Studien wichtige Erkenntnisse für laufende und zukünftige Studien gebracht. Solanezumab erkennt zum Beispiel vorwiegend die monomere Form von Abeta, während laufende Studien Antikörper testen, die vorwiegend die aggregierte Form von Abeta erkennen. Auch werden in den aktuellen Untersuchungen Antikörper und BACE-Inhibitoren bei Patienten in deutlich früheren (präsymptomatischen aber PET-Abeta-positiven) Krankheitsstadien eingesetzt. Rück­blickend gibt es gute Gründe dafür, dass viele der klinischen Studien keine positiven Resultate geliefert haben. Auch war das Wissen über die präsymptomatischen Stadien beim Beginn vieler Studien noch nicht vorhanden gewesen, und es mussten auch erst Erfahrungen mit der Planung solcher neuartigen Alzheimer-Studien gesammelt werden, was nun berechtigte Hoffnung auf bessere Erfolge für die neu geplanten Studien gibt.

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