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Titelseite

Inhalt

1. Kapitel – Sehr verehrte Fahrgäste, …

2. Kapitel – Ralf Süßholz kramte …

3. Kapitel – Also verkaufst du …

4. Kapitel – Wie jeden Spätnachmittag …

5. Kapitel – Charlie und ihre …

6. Kapitel – Ralf Süßholz hatte …

7. Kapitel – Charlie fühlte sich …

8. Kapitel – An diesem Abend …

9. Kapitel – Ralf Süßholz blickte …

10. Kapitel – War’s das endlich …

11. Kapitel – Der Morgen graute …

12. Kapitel – Charlie, Agathe und …

13. Kapitel – Charlie fand es …

14. Kapitel – Ralf Süßholz streifte …

15. Kapitel – Na, hattet ihr …

16. Kapitel – Süßholz war äußerst …

17. Kapitel – Und du bist …

18. Kapitel – Süßholz hatte gestern …

19. Kapitel – Charlie machte sich …

20. Kapitel – Süßholz hatte es …

21. Kapitel – Betrübt saß Charlie …

22. Kapitel – Ralf Süßholz war …

23. Kapitel – Charlie kauerte mit …

24. Kapitel – Nun drücken Sie …

25. Kapitel – Haaatschi-hatschi-tschi-tschiiii-tschiiiii!“ Agathe …

26. Kapitel – Langsam wurde Süßholz …

27. Kapitel – Oh nein, sieh …

28. Kapitel – Peng! „Nein, nein, …

29. Kapitel – Du bescheuerter, vermaledeiter …

30. Kapitel – Um kurz vor …

31. Kapitel – Ralf Süßholz hatte …

32. Kapitel – Charlie blinzelte. Es …

 

 

 

 

 

Für meine beiden zuckersüßen Wunder

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1. Kapitel

Sehr verehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Glückshausen!“

Charlie rekelte sich in ihrem Sitz. Beinahe wäre sie eingenickt, und das kurz vor dem Ziel. Sie strich sich die kinnlangen braunen Haare aus dem Gesicht und blickte neugierig aus dem Fenster des Zuges. Aber noch war nichts zu erkennen, das nach Stadt aussah: keine Häuser, keine Fabrikschornsteine, Brücken oder Straßen. Stattdessen: Felder, Wiesen und Wälder, wohin das Auge reichte.

„Papa hatte wohl recht“, dachte Charlie, „Glückshausen liegt echt mitten in der Pampa!“

Sie fragte sich, was sie die nächsten Wochen anstellen sollte – in einer Gegend, die sie nicht kannte, und bei einer Tante, der sie noch nie begegnet war. Bestimmt würde es megalangweilig.

„Hätte ich doch eine beste Freundin, bei der ich bleiben könnte“, dachte Charlie traurig. Aber obwohl sie sich mit den meisten aus ihrer Klasse gut verstand, war niemand dabei, bei dem sie die ganzen Ferien hätte verbringen können. Zu allem Unglück war auch noch Lena, die seit Jahren als Putzfrau für Charlies Eltern gearbeitet und schon öfter auf Charlie aufgepasst hatte, vor wenigen Tagen zu ihrem Freund in eine andere Stadt gezogen. Somit war nur noch Tante Agathe als Ferienbetreuung für Charlie infrage gekommen, die ältere Schwester ihrer Mutter.

Der Zug wurde langsamer. Lustlos stand Charlie auf und hängte sich ihre Tasche über die Schulter. Außer ihr machte niemand Anstalten auszusteigen. Bildete sie es sich nur ein oder warfen ihr die anderen Leute im Abteil mitleidige Blicke zu?

„Na toll“, dachte Charlie, „wahrscheinlich ist Glückshausen der letzte Ort auf der Welt, an dem man freiwillig seine Sommerferien verbringt!“

Sie stellte sich ihre Klassenkameraden vor, die mit ihren Eltern ans Meer, in tolle Freizeitparks oder in die Berge fuhren. An ihren letzten Familienurlaub konnte sich Charlie gar nicht mehr erinnern. Ihre Eltern waren zwar ständig rund um den Globus unterwegs, aber nicht, um Ferien zu machen, sondern um Hotels, Einkaufszentren oder andere Gebäude zu bauen. Beide waren Architekten und in diesem Moment gerade für einen neuen Auftrag auf dem Weg nach Frankreich.

„Nächstes Mal nehmen wir dich mit, Kleines, ganz bestimmt!“, hatte ihr Vater versprochen – wie schon so oft.

Die Bremsen des Zuges quietschten. Charlie hievte ihren Trolley vom Sitz gegenüber und wankte zum Ausstieg. Warme Sommerluft schlug ihr entgegen, als sich die automatischen Türen öffneten.

Glückshausen, prangte auf dem Bahnhofsschild. Die „ü“-Pünktchen hatte jemand mit Filzstift in zwei Glubschaugen verwandelt. Charlie musste grinsen.

Dies hier war das einzige Gleis und Charlie konnte vom Bahnhof direkt in die Fußgängerzone schauen. Geschäftshäuser mit bunten Fassaden und Cafés mit Sonnenschirmen schmückten links und rechts eine breite Einkaufsstraße, in der Passanten herumschlenderten. „Wenigstens sieht die Stadt hübsch aus“, dachte Charlie, „richtig freundlich.“ Aber das musste sie schließlich auch, bei so einem Namen!

Charlie sah sich auf dem Bahnsteig um. Noch war keine Spur von ihrer Tante zu sehen.

„Agathe holt dich direkt vom Gleis ab“, hatte Charlies Mutter gemeint, bevor sie heute früh zum Frankfurter Hauptbahnhof gefahren waren. „Du wirst sie schon erkennen, sie sieht aus wie ich, nur mit dunkleren Haaren und wahrscheinlich … na ja, etwas anders gekleidet.“

Ihre Mutter stand eigentlich immer unter Strom, aber an diesem Morgen war sie Charlie noch hektischer vorgekommen als sonst. Ständig war sie sich mit den Fingern durch die blond gesträhnten Haare gefahren und hatte sinnlos irgendwelche Sachen von A nach B geräumt. Bevor Charlie in den Zug gestiegen war, hatte sie ihre Tochter plötzlich ganz seltsam angeschaut – fast ein bisschen ängstlich. Diesen Ausdruck kannte Charlie gar nicht bei ihr.

„Tut uns leid, dass wir dich nicht woanders unterbringen konnten, Charlotte“, hatte sie gemurmelt und nervös ihre Handtasche nach der Dose mit diesen eklig scharfen Pfefferminzdrops durchwühlt, nach denen sie so süchtig war. Dann hatte sie mit einem Seufzer hinterhergesetzt: „Irgendwie habe ich das Gefühl, das werden die verrücktesten Ferien deines Lebens!“

Charlie hätte zu gerne erfahren, was denn an einer Kleinstadt und einer Tante, die Süßigkeiten verkaufte, so verrückt sein sollte. Und auch, warum die beiden Schwestern in den letzten Jahren kaum Kontakt gehabt hatten. Aber leider hatte ihre Mutter sie einfach in den Zug geschoben und ihr keine Chance mehr gegeben, irgendwelche Fragen zu stellen.

„Mmmh!“ Charlie schnupperte. Ein himmlischer Duft stieg ihr in die Nase. Was war das? Sie schloss die Augen. Eine Mischung aus … Rosen, Vanille und –

„Charlotte?“ Charlie blinzelte gegen die Sonne. Eine Frau kam den Bahnsteig entlang auf sie zugehetzt. Sie war weder dick noch rank und schlank wie ihre Mutter. Eher … ganz normal. Um ihre Beine herum wehte ein langer Rock mit Blümchenmuster. Er sah ein bisschen aus wie aus dem letzten Jahrhundert, genau wie die schwarzen Riemchensandalen, die abgegriffene Lederhandtasche und die beige Rüschenbluse. Charlie verstand sofort, was ihre Mutter mit ihrer Bemerkung zu Agathes Kleidungsstil gemeint hatte. Denn Charlies Mutter selbst trug nur Markenklamotten nach dem neuesten Trend.

„Entschuldige bitte, dass ich so spät komme!“ Agathe lächelte und strich sich völlig außer Puste eine dunkelbraune Locke aus dem Gesicht, die sich aus ihrem flüchtig hochgesteckten Haar gelöst hatte.

„Kein Problem, ich bin eben erst angekommen.“ Verblüfft musterte Charlie ihre Tante. Jetzt, wo sie direkt vor ihr stand, erkannte sie die unglaubliche Ähnlichkeit zu ihrer Mutter – mal abgesehen von der Haarfarbe und den Kleidern. Selbst die kleine Stupsnase, die auch Charlie geerbt hatte, war gleich. Nur hatte Charlie ihre Mutter noch nie auf so eine Art lachen sehen. Nicht nur Agathes Mund, sondern auch ihre grünen Augen strahlten. Eigentlich, fand Charlie, wirkte Agathe jünger als ihre Mutter, obwohl sie fast fünf Jahre älter war und nicht halb so viel Schminke im Gesicht hatte.

„Ich hatte gerade noch eine etwas … na ja … komplizierte Kundschaft, weißt du?“ Agathes Stimme klang warm und freundlich, und als sie sich vorbeugte, um nach dem Griff von Charlies Trolley zu greifen, atmete Charlie wieder diesen köstlichen Rose-Vanille-Duft ein.

„Ich freu mich so, dass wir uns endlich mal kennenlernen. Hattest du denn eine gute Fahrt? Du warst fast vier Stunden unterwegs, oder?“

Charlie nickte. „Ich hatte Musik dabei und was zu lesen! Übrigens soll ich dich schön von Mama grüßen. Äh, und von Papa natürlich auch!“, fügte sie schnell hinzu, obwohl beides gelogen war. Ihre Eltern hatten nichts in der Art gesagt, aber Charlie fand, dass es höflich war, es wenigstens zu behaupten.

Wieder lächelte Agathe. Allerdings glaubte Charlie am Blick ihrer Tante zu erkennen, dass sie ihren Schwindel durchschaute.

Toll, das ging ja gut los. Charlie merkte, wie sie rot wurde.

„Hm, was hältst du davon, wenn wir erst mal in der Stadt was zu Mittag essen und uns ein bisschen besser kennenlernen?“, lenkte Agathe zum Glück vom Thema ab. „Das Wetter ist herrlich und so bekommst du auch gleich einen ersten Eindruck von Glückshausen!“

Charlie atmete erleichtert auf. „Gute Idee, ich hab riesigen Hunger!“

„Schön, wir kommen an einer tollen Eisdiele vorbei. Stell dir vor, die haben dreiunddreißig unterschiedliche Sorten!“

Charlie schaute ihre Tante entgeistert an, aber die schien nichts Seltsames an ihrer Aussage zu finden, sondern marschierte bereits mit Charlies Trolley los.

Eis zum Mittagessen? Noch immer leicht verdattert, trabte Charlie hinter Agathe her. Die beiden Schwestern mochten vielleicht die gleichen Nasen haben, aber ansonsten hatten sie nicht viel gemeinsam – so viel stand schon mal fest.

2. Kapitel

Ralf Süßholz kramte einen Handspiegel und einen Kamm aus der Tasche seines marineblauen Jacketts und korrigierte seinen Seitenscheitel. „Perfekt“, murmelte er zufrieden. „Perfekt wie immer.“

Dann befeuchtete er seinen rechten Zeigefinger mit etwas Spucke und brachte damit den feinen schwarzen Oberlippenbart sowie seine sorgfältig gezupften Augenbrauen in Form. Süßholz lächelte seinem Spiegelbild zu – zwei Reihen blendend weißer Zähne blitzten zurück.

Seine neue Zahncreme Brillantweiß Extra mit Frischeformel wirkte Wunder. Als Leiter der einzigen Bankfiliale in Glückshausen war gutes Aussehen ein Muss. Immerhin sollten ihm die Leute vertrauen, und Vertrauen, das wusste Süßholz aus Erfahrung, begann mit einem makellosen Lächeln, einem unwiderstehlichen Augenaufschlag, einer einladenden Geste, einem freundlichen Nicken und einem gebügelten Hemd.

Süßholz kannte die Menschen. Die meisten von ihnen waren erschreckend einfach gestrickt. Sobald man sie mit etwas Höflichkeit und Verständnis für ihre kleinen Problemchen umgarnte, waren sie so dankbar, dass sie einem alles gaben und anvertrauten, was man von ihnen wissen und haben wollte. Ganz freiwillig.

Wehmütig dachte Süßholz an sein liebes Mamilein, das ihm all diese wertvollen Tipps mit auf den Weg gegeben hatte. „Ralfi, mein kleiner Lakritzbär“, hörte er noch immer ihre kratzige Reibeisenstimme, „auch ein Mann deiner Abstammung sollte wenigstens eine Ahnung davon haben, wie ein Bügeleisen funktioniert und was Manieren sind! Du wirst früher oder später verstehen, warum.“

Und wie recht sie doch gehabt hatte. Ihre strenge Erziehung hatte Süßholz vor nunmehr fünfzehn Jahren zu seiner Bankstelle in Glückshausen verholfen – der Heimatstadt seiner Urururahnen. Noch entscheidender aber war: Süßholz’ tadelloses Erscheinungsbild und Benehmen lenkten von dem eigentlichen Job ab, den er ausübte. Fernab von der Öffentlichkeit. Im Verborgenen. Im Dunklen. Im absolut streng Geheimen. Auch wenn er zugegebenermaßen diesen Job in den letzten Jahren etwas hatte schleifen lassen.

„Aber nur deshalb“, rechtfertigte Süßholz seine Bequemlichkeit vor sich selbst, „weil auch so schon genügend schlimme Dinge passieren – sogar hier in Glückshausen.“

Warum sich also unnötig Stress machen? Hauptsache, er rostete nicht ein und das tat er, Ralf Süßholz, ganz gewiss nicht. Auch wenn seine Mutter den Zoowärter Konrad Süßholz geheiratet und seinen Nachnamen angenommen hatte – sie war eine Gebürtige von Rabenschwarz. Und er, Ralf Süßholz, war der letzte Abkömmling dieses mächtigen und gefürchteten Zauberclans, der vor Urzeiten hier ansässig gewesen war. Er fühlte sich fit und bereit, jeden Moment zuzuschlagen, wenn es vonnöten war. Einmal Talent, immer Talent – und zwar garantiert rostfrei!

Ein ungeduldiges Klopfen, Scharren und Kratzen aus dem Garderobenschrank riss Süßholz aus seinen Gedanken.

„Psst, ist ja gut, Meier, ich komm ja schon!“

Seufzend blickte Süßholz auf seine goldene Armbanduhr. Es war Mittag. Ohnehin Zeit, Pause zu machen und die Filiale zu schließen.

Er öffnete die Schranktür, hinter der es immer lauter rumorte, und zog einen alten Besen heraus. Zärtlich fuhr er ihm mit den Fingern durch die zerzausten Borsten und richtete die blaue Seidenschleife, die ganz oben an seinem Besenstielende befestigt war. „Also gut, Meierchen, gehen wir eine Runde Gassi!“

3. Kapitel

Also verkaufst du die Süßigkeiten nicht nur, sondern stellst sie auch noch selbst her?“ Charlie kratzte mit ihrem langen Eislöffel den letzten Rest Sahne aus ihrem Becher.

„Ganz genau!“ Agathe tupfte sich mit einer Serviette Schokosoße von den Lippen. „Hat dir deine Mutter denn gar nichts von der alten Bonbonfabrik erzählt?“

Charlie schüttelte den Kopf. Es war ihr peinlich, dass sie nichts von ihrer Tante wusste, auch wenn dies nicht ihre Schuld war.

„Also, der Uronkel von deiner Mama und mir besaß hier in Glückshausen eine alte Bonbonfabrik am Marktplatz“, erzählte Agathe. „Eigentlich hat er sie uns beiden vermacht. Aber deine Mama hatte kein großes Interesse daran und lernte außerdem bald darauf deinen Papa kennen. Sie zog mit ihm nach Frankfurt und ich … Tja, ich hab mich durch die alten Rezeptbücher unseres Uronkels gewälzt, die Fabrik auf Vordermann gebracht und sie weitergeführt.“

„Verstehe!“ Im Stillen musste Charlie kichern, als sie sich ihre Mutter in einer Schürze beim Produzieren von Bonbons vorstellte. Nein, das war absolut undenkbar. Es sei denn, ihre Mama hätte sich aufs Herstellen von extra scharfen Pfefferminzpastillen spezialisiert. Dann wäre sie auch gleichzeitig ihre beste Kundin geworden.

„Ach, hallo, Ella!“ Agathe winkte einem Mädchen zu, das auf der anderen Seite der Fußgängerzone aus dem Gasthaus Zur fröhlichen Post kam. Es schien zehn, höchstens elf zu sein, also ähnlich wie Charlie. Seine langen blonden Haare hingen ihm strähnig über die Schultern und ließen sein schmales, griesgrämiges Gesicht noch trauriger wirken. Schlaff hob Ella die Hand zum Gruß, verschwand dann aber sofort wieder im Innern des Gebäudes.

Agathe seufzte. „Armes Ding“, murmelte sie betrübt, doch dann hellte sich ihre Miene abrupt wieder auf und sie nahm in ihrem weißen Plastikstuhl Haltung an, als würde die Queen höchstpersönlich an ihrem Tisch vorüberspazieren.

Charlie sah sich stirnrunzelnd nach der Ursache für Agathes Stimmungswechsel um.

„Herr Süßholz“, flötete Agathe mit erstaunlich hoher Stimme, „na, sind Sie wieder als freiwilliger Straßenfeger unterwegs?“

Der schicke Mann im Anzug winkte ab. „Ach was, nur ein kleiner Beitrag zum Allgemeinwohl, der mir nicht wehtut und gleichzeitig fit hält.“ Er klopfte mit seinem linken Fingerknöchel gegen den Stiel seines alten Besens, sodass die Schleife daran hin und her wippte.

Dieser Mann, fand Charlie, gab ein mehr als komisches Bild ab. Er grinste ununterbrochen und so breit wie ein Honigkuchenpferd. Charlie hatte das Gefühl, die gesamte untere Hälfte seines Gesichts bestünde einzig und allein aus einem riesigen, leuchtend weißen Gebiss.

„Heute ausnahmsweise in Begleitung, liebe Agathe?“, fragte Herr Süßholz.

Agathe nickte. „Das ist meine Nichte Charlotte, sie wird ihre Ferien hier verbringen!“

Herr Süßholz reagierte so erfreut auf diese Antwort, als habe er gerade erfahren, dass Glückshausen in die Fußballbundesliga aufgestiegen wäre.

„Wie nett, wie wundervoll!“, rief er und schwang dabei seinen Besen. „Und die junge Dame sieht ebenso entzückend aus wie die werte Tante!“

Agathe kicherte albern. Bildete es sich Charlie bloß ein oder bekam ihre Tante tatsächlich Bäckchen wie reife Tomaten? Dann hatte sie also die gleiche lästige Angewohnheit, rot anzulaufen, wie sie selbst, wenn sie aufgeregt war. Und dass Agathe bis über beide Ohren in diesen grinsenden Schnösel mit Besen verknallt war, konnte sogar ein Blinder erkennen.

Charlie schnüffelte. Igitt, hatte ihre Tante etwa vor lauter Aufregung auch noch gepupst? Charlie wusste nicht, ob es an der Sonne lag oder an dem üblen Geruch, der sie an eine Mischung aus Schweinestall und Käsefüßen erinnerte und irgendetwas … Vermodertem. Jedenfalls wurde ihr mit einem Mal schwindlig. Alles verschwamm vor ihren Augen: die Kellnerin, die Leute am Tisch nebenan, dieser grinsende Herr Süßholz, der ihnen jetzt zuwinkte und vor sich hin pfeifend und fegend weiterlief, das Gasthaus Zur fröhlichen Post, hinter dessen Fenster sich gerade eine Gardine bewegte und diese Ella mit grimmiger Miene zu ihnen hinunterstarrte … Ihr Blick ließ Charlie eine Gänsehaut über den Rücken rieseln.

„Charlotte, ist dir nicht gut?“ Charlie spürte Agathes Hand auf ihrem Arm. Mit einem Schlag war der Schwindel vorbei. Charlie blinzelte ein paarmal. Ella war vom Fenster verschwunden. Dann schnüffelte sie. Auch der eklige Geruch hatte sich verflüchtigt. Jetzt nahm sie zum Glück bloß wieder den angenehmen Rose-Vanille-Duft wahr, den ihre Tante verströmte.

„Nein, nein, alles okay“, stammelte Charlie noch immer leicht benommen. „Mir ist … nur etwas heiß. Vielleicht sollte ich lieber aus der Sonne!“

Agathe nickte und winkte der Kellnerin. „Wir zahlen und dann zeige ich dir dein neues Zuhause für die nächsten Wochen, einverstanden?“

Sie brauchten ewig, um vorwärtszukommen, was nicht an Charlies Gepäck lag, sondern daran, dass sie ständig von irgendjemandem aufgehalten wurden. Anscheinend war ihre Tante sehr beliebt in der kleinen Stadt, denn alle paar Meter wurde sie gegrüßt oder es erzählte ihr jemand irgendeine Neuigkeit.

Schließlich kamen sie aber an einen Platz mit Marktständen, der von weiteren Stadthäusern umgeben war. Ein großes Tor führte von dort in den Stadtpark und zu einem großen Abenteuerspielplatz, wie Agathe Charlie erklärte.

„Siehst du das Gebäude dort am Ende des Platzes, direkt neben dem Tor?“, fragte Agathe nun.

Charlie kniff die Augen zusammen, um gegen die Sonne etwas zu erkennen. „Du meinst das weiße mit der riesigen Uhr und dem goldenen Schweinchenspringbrunnen davor?“

Agathe schüttelte den Kopf. „Das ist das Rathaus“, meinte sie lachend. „Dort haust und regiert unser Bürgermeister Horst-Dieter Mück. Nein, ich meine das Ziegelhaus mit den weißen Sprossenfenstern und den grünen Fensterläden, genau auf der anderen Seite des Tores. Das ist meine Bonbonfabrik und zugleich auch mein Geschäft und mein Zuhause!“

Charlie hörte den Stolz in Agathes Stimme. Das Haus war aber auch wirklich etwas Besonderes und hob sich von allen anderen ab: Mit seinen vielen Erkern und Türmchen und den weißen und gelben Rosen, die an der Ziegelfassade emporrankten, sah es beinahe aus wie ein kleines verwunschenes Schloss. Charlie entzifferte den schnörkligen Schriftzug: Der zuckersüße Wunderladen. Dieser zauberhafte Name passte perfekt, fand Charlie. Die Buchstaben sahen aus wie die Zuckerschrift auf einer Geburtstagstorte. Als sie näher kamen, erkannte Charlie in dem Schaufenster darunter verschiedene weiße Holzregale, in denen sich ein Glas an das andere reihte, allesamt gefüllt mit Bonbons, Geleefrüchten, Marshmallows, Kaugummis, Lakritze, Zuckerstangen, Pralinen, Lollis und anderen Leckereien in sämtlichen Farben, Formen und Größen. Auf einem Tisch standen eine nostalgische Waage mit den dazugehörenden Gewichten und eine alte Kasse.

Charlie merkte, wie ihr bei dem bunten, zuckersüßen Anblick das Wasser im Mund zusammenlief, obwohl sie doch gerade erst ein gigantisches Eis verschlungen hatte. Wenn das ihre Mutter sehen könnte – sie war eine absolute Gegnerin von Süßigkeiten … oder überhaupt von Dingen, die ungesund oder schlecht für Haut, Zähne, Haare oder Figur waren. Aber konnte das der Grund dafür sein, dass sie kaum mehr Kontakt zur ihrer eigenen Schwester hatte? Charlie konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Es musste irgendetwas anderes passiert sein.

„Und? Gefällt dir das Haus?“, fragte Agathe und riss Charlie aus ihren Grübeleien.

Charlie nickte. „Es ist wunderschön. So geheimnisvoll“, murmelte sie.

Agathe lachte leise. „Genau das Gleiche dachte ich damals auch, als ich es zum ersten Mal gesehen habe.“

Charlie schaute sich suchend nach einem Eingang um. „Aber … wie kommt man denn in den Laden? Durch die grüne Tür dort?“

Charlies Tante schüttelte den Kopf. „Die führt zum Labor, zu den Lagerräumen und zu meiner Wohnung im ersten Stock. Nein, ich habe gar kein richtiges Geschäft, ich verkaufe meine Süßigkeiten einfach durchs Fenster. Das ist viel gemütlicher und gleichzeitig bekomme ich mit, was auf dem Marktplatz so vor sich geht. Auf diese Weise wird mir nie langweilig.“

Charlie kam aus dem Staunen nicht heraus. Alles, was sie bisher von ihrer Tante mitbekommen hatte, war ungewöhnlich, oder besser gesagt: komplett anders als das, was sie von zu Hause her kannte. Und genau das gefiel ihr. „So, für heute lassen wir das Süßigkeitenfenster aber geschlossen“, sagte Agathe und kramte einen großen Schlüssel aus ihrer Handtasche. „Die Arbeit kann warten und du bekommst dafür eine kleine Führung durchs Haus!“ Sie zwinkerte ihrer Nichte verschwörerisch zu. „Natürlich mit Kostprobe!“

4. Kapitel

Wie jeden Spätnachmittag fieberte Süßholz dem Moment entgegen, an dem ihm der große Zeiger seiner Wanduhr endlich erlaubte, Feierabend zu machen.