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Originalcopyright © 2015 Südpol Verlag

Corinna Böckmann und Andrea Poßberg GbR, Grevenbroich

Autor: Frank Schlender

Illustrationen: Corinna Böckmann

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-943086-60-7

Alle Rechte vorbehalten.

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www.suedpol-verlag.de

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

SF-Glossar

Eine einzelne Schneeflocke tänzelte vorwitzig vom blaugrauen Winterhimmel herab, wurde von einer leichten Brise etwas vom Kurs abgedrängt und landete auf einem verdorrten Birken­blatt, das sich beharrlich an den kleinen Zweig klammerte, an dem es gewachsen und im Herbst zuvor verdorrt war. Die Birke war nicht besonders groß oder imposant, eher etwas kümmerlich. Sie wuchs aus dem Schornstein einer uralten, hölzernen Villa am Ende einer langen, sanft ansteigenden Stichstraße, die einst Hunderte von Bäumen gesäumt hatten. Doch die Allee gab es schon lange nicht mehr. Jetzt standen dort zu beiden Seiten aufgereiht schmucke Einfamilienhäuser, schwach beleuchtet vom Schein der Straßenlaternen. Nur die alte Villa am äußersten Ende des Wendekreises stand abseits und allein im Dunkeln da. Die Bewohner der schmucken Häuser lagen noch tief im Schlaf, als die Schneeflocke von ihrem Birkenblatt geschüttelt wurde. Das Bäumchen erzitterte und die letzten Herbstblätter regneten herab auf die bemoosten Dach­schindeln darunter. Das Zittern steigerte sich zu einem kurzen Beben. Hinter den blinden Fensterscheiben der Bruchbude blitzte es kurz auf. Für Sekun­den­bruchteile war die Straße in gleißendes Schlaglicht getaucht. Das alte Holz der Villa knackte in der Stille, als sich das ganze Gebäude wie nach einem Krampf­anfall zitternd streckte. Irgendwo in der Ferne schlug eine Autoalarm­anlage an. Fast eine halbe Minute plärrte das hysterische Heulen durch die Nacht, dann endete der Alarm mit einem kurzen Piepen. Leise ächzend öffnete sich die Tür der Villa.

Der nagelneue Wecker rappelte, als ob er unbedingt Hirn­brand auslösen wollte. Max öffnete etwas ungläubig und vorsichtshalber erst mal nur ein Auge und starrte aus seiner sicheren Kissenburg zu seinem Nachttisch hinüber. Man konnte ja nicht wissen, welche heimtückischen Monster aus einem Paralleluniversum gerade unterm Bett herumlungerten, um ihre neue, dämonische Gehirnwellenverschraubungs­ma­schine auszuprobieren. Tolles Wort, Gehirnwellenverschr... – Max war immer noch nicht wach genug, um das Wort zu Ende zu denken. Der perfekte Zustand, um ein wenig herumzualbern. Er langte nach seinem mechanischen Handgreifer, der über ihm an der mit Postern, Zeitungsausschnitten und angepappten Gim­micks überladenen Wand hing und griff damit nach der tickenden Zeitbombe, schob sie vorsichtig über die Kante des Dschun­g­el­kliffs und ließ sie hinabstürzen.

„Piuuuuuuh“, pfiff er durch seine Zahnlücke, bis der Wecker mit einem mächtigen FUMPPP tief unten auf dem Teppich aufprallte. Das Ding aus der Hölle gab aber nicht so leicht auf und näselte seinen Alarm unverdrossen weiter. Der große und mächtige Maximus Prime schob sich über die Bettdeckenwüste und lugte über den Rand der Dschungelklippe. Tief unten, zwischen den gefräßigen, wabernden Armen der Flokatiteppich­schling­pflanzen, hatte sich der neue Rappelautomat verfangen wie eine Rettungsboje eines Raumkreuzers auf einem Sumpfmond im Arkturuscluster. Der winzige Schlegel hämmerte unverdrossen auf das glockenförmige Alarmresonanzmodul auf seiner Oberseite und produzierte damit einen infernalischen Lärm. Maximus Prime kratzte sich den gewaltigen, brummenden Roboterschädel und fragte sich, mit welchen heimtückischen Fisimatenten er sich nun wieder herumschlagen musste und ob sein Energievorrat dafür wohl ausreichte. Herrlich, so zu tun, als wäre man noch mal zehn Jahre alt. Breit grinsend schloss Max die Augen und lauschte an seinem Kissen. Die Tür öffnete sich nach einem kurzen Klopfen ruckartig einen Spalt breit und eine herrische Stimme ließ Maximus Prime aufhorchen: „Max! Aufstehen! Mach hin!“

Der Angesprochene räkelte sich noch fünf Sekunden lang, dann schwang er ein Bein hinaus in die kühle Außenwelt und latschte prompt auf das Rappelteil. Das kitzelte. „Hihi.“ Max stellte den Wecker ab und schob ihn wieder auf den Nachttisch. „Was für’n Billigschrott!“, brummte er.

Das war in diesem Schuljahr bereits der dritte Wecker, den seine Mutter nachts heimlich hingestellt hatte. Die beiden Vorgängermodelle hatte Max solange entschärft, bis sie ihren Geist aufgegeben hatten. Max schlurfte in seinem Roboterpyjama in die Küche.

„Ah, der junge Herr gibt sich die Ehre, wie schön.“ Max’ Mutter, kurz Mamu, schmierte wie am Fließband ein Brötchen nach dem anderen und klatschte abwechselnd Schinken, Salami oder Käse auf die Hälften. Bevor sie jedes Brötchen einzeln in eine Zellophanhülle schob und zuklebte, verzierte sie es mit ein paar Scheiben Radieschen und streute ein wenig süßes rotes Paprika drauf. Das war ihr Geheimrezept. Bis zur Mittagspause wurden ihr in den Büros der Innenstadt die belegten Köstlich­keiten fast aus den Händen gerissen. Danach schlüpfte sie in einen roten Kittel und wischte stundenweise Böden im Ge­mein­de­krankenhaus. Manchmal war der Zeitplan auch umgekehrt. Meistens sah Max seine Mamu erst abends wieder.

„Mag heute nicht“, eröffnete er die erste Verhandlungsrunde mit seiner Erzeugerin.

„Ach was.“

Oh weh, Ironie. Das war für Maximus Prime ab einem gewissen Grad tödlich. Vorher schmerzhaft, aber nur für das Selbst­vertrauen. Ein taktischer Rückzug schien angebracht und dennoch ehrenhaft. Max verzog sich in die Nasszelle. Bevor er in die Dusche trat, fummelte er einen dicken Flusenknubbel aus seinem Bauchnabel. Nicht zu lange duschen, sonst würde sein technisch hochgezüchteter, kybernetischer Roboterkörper anfangen zu rosten. Die Erdbeerzahnpasta war auch schon wieder fast alle. Die war eigentlich für kleine Kinder gedacht, aber Max weigerte sich konsequent, auf eine andere Sorte zu wechseln. Vorsichtig betastete er seine Kauleiste. Angeblich würden ihm in den nächsten Jahren so schnell keine Zähne mehr ausfallen. Das letzte Mal lag schon viele Jahre zurück. Da ging er noch zur Grund­schule. Max erinnerte sich noch erschreckend genau. Ein Zahn nach dem anderen wurde erst locker, verschwand dann einfach, blieb in einem Wurstbrot stecken oder Max verschluckte ihn so­gar versehentlich. Die letzten paar Milchnageeinheiten loszuwerden war reichlich anstrengend gewesen. Und dann diese bescheuerten Zahnlücken. Bis zum heutigen Tag hatte er eine zurückbehalten, auch wenn bald neue Zähne nachgewachsen waren. Max fuhr sich durch die Haare. Wofür brauchte man einen Kamm, wenn man passende Finger besaß? Er setzte eine gequälte Miene auf und machte testweise eine Kurve durch die Küche, aber die Königin des bekannten Universums wies nur stumm hinaus, also schlurfte Max ohne anzuhalten wieder zurück in sein Raumschiff. Wohlgefällig ließ er den Blick über seine Sammelwand schweifen. Raumschiffzeichnungen, Aus­drucke von NASA-Fotos, Astronauten, Spiralgalaxien, Super­roboter, Kampfschiffe des Ersten Galaktischen Imperiums, der Rebellen und der Föderation, dazu das große Kampfsternmodell baumelten davor herum, gleich neben dem der ISS und der Orion. Auf der anderen Seite hing eine große Mondkarte mit den Fähnchen aller Landeplätze. Die schräge Sammelwand über seinem Bett mit Zeitungsausschnitten über Ufos sah aus, als ob sie irgendwann nachts über ihm zusammenbrechen und ihn begraben würde. Aber Maximus Prime würde sich mit seinen starken hydraulischen Armen einfach herausbaggern.

Den größten Teil von Max’ Schreibtisch nahm das unvollendete Modell eines gigantischen Robots ein. Den Film dazu hatte Max heimlich bei seinem Kumpel Willi im Internet gesehen. Im Kino war der Film erst ab sechzehn und Max und seine Freunde hatten überhaupt keinen Bock darauf, noch zwei ewig lange Jahre zu warten.

Willi schaute überhaupt eine Menge Kram im Web. Einiges davon war ganz schön gewagt. Jedenfalls behauptete er das.

Der dritte im Bunde war Benjamin, der seinen Namen hasste. Es grenzte schon an ein Wunder, dass er bei den anderen beiden mitmachen durfte. Max und Willi kannten sich seit dem Kin­dergarten, Bämmbämm Ben war erst vor anderthalb Jahren hergezogen und wurde gleich in den Klub der Fantastix aufgenommen. Seine Eintrittskarte war eine geerbte Taschen­buch­sammlung. Fast vierhundert Bücher, rund fünfzig Jahre alt, alles Erstausgaben, alles Klassiker: Asimov, Harrison, Clarke, Vonne­gut, Heinlein, Lem ­– kurz, einfach alle großen Namen der SF-Literatur standen aufgereiht in seinem überlangen Bücherregal. Tagelang konnten die drei bei Ben in den Sitzsäcken hocken und schmökern. Raumschiffe, ferne Planeten, Roboter, Aliens, künst­liche Intelligenz, Mutanten und Monster, es war wie ein Rausch.

Aber jetzt herrschte zwischen Max und den anderen Funk­stille. Er hatte es gewagt, sich über Zombies lustig zu machen, was Ben und Willi nicht lustig fanden. „Zombies sind doch dämlich. Genauso wie Vampire. Das ist was für Weicheier.“ Das war das erste Mal, dass die drei sich so richtig in die Wolle gekriegt hätten, wäre nicht Bens Mutter mit einer großen Dose Krümel­kekse und einer Kanne eiskalter Zitronenlimo dazwischen ge­gan­gen. Die Kekse waren so unglaublich öko, dass sie kaum genießbar waren und die quietschsaure Limo war auch nicht viel besser. Sie hatte es jedenfalls versucht. Jetzt trafen sich Willi und Ben immer ohne Max, um sich heimlich Zombiefilme reinzuziehen. Anschwärzen war natürlich nicht Max’ Ding. Sowas ging ja sowas von gar nicht unter Kumpels. Nur Max’ Mutter schien den Braten zu riechen, weil er lieber an seinem Robot he-rumbastelte, statt rauszugehen. Ja - richtig geraten, alle drei kamen ganz ohne Vater aus. Jedenfalls fast. Willi sah seinen alle drei Monate mal. Der kam dann mit seinem altersschwachen Benz angerattert und brachte immer nur einen Haufen idiotisches Lernspielzeug mit. „Du bist doch kein Baby mehr. Ver­klicker das doch endlich mal deinem Alten!“, hatte Ben Willi angespitzt. War das ein Drama, als Willi das wirklich tat. Seine Mutter flippte völlig aus. Sein Vater hatte das aber gut weggesteckt. Irgendwie war der sogar erleichtert.

Max konnte sich das nicht wirklich vorstellen. Er hatte nur selten Knatsch mit seiner Mutter. Aber die sah er ja auch nur morgens und abends. Solange das mit der Schule wie von alleine lief, war zuhause schönes Wetter. Max war ziemlich gut in Englisch und Geschichte, wobei ihn eher die Geschichte interessierte, die noch nicht geschehen war, also die Zukunft. Und so hatten die drei Jungs auch zusammengefunden, als sie in der Schulbibliothek vor demselben Regal standen und nach demselben Jules Verne-Sammelband griffen. Schräg. Jules Verne war ja eher uralt, also vergangene Geschichte, aber der Typ hatte so viel Fantasie, sich die Zukunft auszumalen, dass er bei unglaublich vielen Sachen richtig gelegen hatte. Tiefseetauchen, Mutanten­monster, Mondfahrt und, und, und - Mannomann.

Max schrieb auch selbst Geschichten, aber die zeigte er keinem, das war ihm doch zu peinlich. Außerdem hatte er erschrocken festgestellt, dass es fast jede Idee für eine Geschichte schon mal gegeben hatte. Egal, ob es um Riesenroboter oder Alien-In­va­sionen oder Computer ging, die die Welt zerstörten. Ver­dammt. Bisher hatte Max noch nichts gefunden, was es nicht schon gab. Für jeden Mist gab es wirklich schon ein Buch oder einen Film oder eine blöde Fernsehserie. Max hätte was dafür gegeben, herauszufinden, wie andere auf neue Ideen kamen. „Da hilft nur lesen. Mach dich schlau.“ Das war Mamus einzige Empfehlung. Na super. Als Max so langsam erkannte, was da für ein gewaltiger Berg von Material auf ihn wartete, um durchgelesen und geguckt zu werden, wurde ihm ganz schlecht. Das konnte aber auch an der großen Packung Schokokekse liegen, die er in seinem Nachttisch seit Weihnachten verstaut und dann innerhalb von zwei Sekunden eingeatmet hatte. Blöd war auch, dass die meisten guten Filme erst ab sechzehn waren. Also, gut im Sinne von Riesenroboteraliencomputermutantenmonster.

Dieser März war schweinekalt. Morgens war der Boden überall mit einer feinen Schicht Reif überzogen. Darauf konnte man prima schlittern. Max stoppte elegant an der Bürgersteigkante. Er wartete einen langsam vorbeirollenden Wagen ab, bevor er hinüberlief. Fast hätte er sich auf die Schnauze gelegt. Da war Licht in der alten Villa! Im letzten Moment fing er sich wieder und hielt sich an einer Straßenlaterne fest. Max rieb sich die Augen. Am Ende der leicht ansteigenden Stichstraße stand eine uralte Villa aus dem letzten Jahrhundert, noch ganz aus Holz gebaut, mit hohen, spitzen Giebeln und einem windschiefen Schornstein, aus dem das blattlose Gerippe einer dürren Birke herausragte. Eine echte Geistervilla. Angeblich waren da mal ein paar ältere Jungs eingestiegen und das war irgendwie nicht gut ausgegangen, wurde auf dem Schulhof gemunkelt. Jedenfalls lebte keiner der Jungs mehr in der Gegend, die Familien waren alle danach hastig fortgezogen, so hieß es.

Einen Augenblick später war das schwache Licht hinter den geschlossenen Fensterläden im oberen Stock verschwunden. Max blinzelte noch mal. Eine Schwade Morgendunst zog vorbei, als ob sie die Bruchbude in einen Umhang hüllen wollte. Ein kitzliges Gefühl in Max’ Nacken irritierte ihn ziemlich. Es ließ nach, als er endlich weiterging. Den Rest des Weges rannte er in einem durch und stolperte hechelnd in den Pausengang.

„Was‘n los?“, fragte Ben, der an seinem Spind lehnte und in einem Manga blätterte. Mit fliegenden Fingern öffnete Max das Schloss seines Spinds und verstaute seinen Rucksack. Dabei erzählt er von seiner Beobachtung.

„Pffh!“ Ben blickte nur kurz von dem Manga hoch. „Da kenne ich aber noch ganz andere Gruselgeschichten.“

„Jaja“, winkte Max ab.

Crazy Willi kam von der anderen Seite herüber. „Na?“

„Big Mäc hat ein Licht gesehen“, plapperte Ben los, bevor Max überhaupt den Mund aufmachen konnte.

„Huhu, mächtig spannend. Ihm ist ein Licht aufgegangen. Sollen wir es tweeten oder gleich die Presse anrufen?“

„Ach was, die Ghostbusters!“, schlug Ben grinsend vor.

„Witzig“, brummte Max. „In der alten Villa war kurz Licht. Das war alles.“

„Ach.“ Willis Kommentar war seltsam einsilbig. „Hier, schaut mal!“ Er hielt den beiden einen großformatigen Bildband hin, den er aus seinem Rucksack fummelte.

Ben und Max lehnten sich vor. „Was ist das denn?“

„Voll schräg“, sagte Max und blätterte eine Seite um. Auch die nächsten beiden Seiten waren mit knallbunten Darstellungen drollig bunter Raketen und seltsam knubbliger, fliegender Autos bedeckt, die über futuristisch glitzernden Hochhäusern schwebten.

„Habe ich in dem alten Buchladen am Einkaufszentrum entdeckt. Ich hab’s gegen drei Silberbände getauscht.“

„Guter Deal“, nickte Ben. „Wie alt ist das? Das muss doch noch vor der Mondlandung rausgekommen sein.“

„Yepp, Ende der fünfziger Jahre.“

„Ich hatte mal ein Puzzle, das sah genauso aus.“

„Hoho, Freakalarm!“

Max und seine beiden Freunde froren ein. Tristan der Schreckliche Rollinger stand hinter ihnen, beide Arme in die Hüften gestemmt. Er trug nicht zu Unrecht den Spitznamen Ver­rollinger. Von den drei Weltraumfans war Ben der längste. Er schaute gelassen zu Rollinger hoch, der immerhin noch einen ganzen Kopf größer war. „Wo ist denn deine Klappliege?“

„Häh?“

„Na, du verbringst so viel Zeit mit Nachsitzen hier, da würde sich sowas doch lohnen mitzubringen.“

Rollinger griff Ben am Kragen und zog ihn hoch. „Haste was zu melden, Kleiner?“

Ben schluckte. Auf Zoff mit Tristan hatte er gerade überhaupt keinen Bock. Der Typ war unberechenbar und legte sich manchmal sogar mit noch Älteren aus der Oberstufe an. Was er damit beweisen wollte, war schleierhaft. Ben zappelte in Rollingers festem Griff und blickte sich hilfesuchend um. Max und Willi standen erstarrt aber mit grimmigem Gesicht dabei und wagten es nicht einen Mucks zu machen. Manchmal half es einfach, Tristan den starken Mann spielen zu lassen, bis er sich wieder beruhigte und man sich unauffällig aus der Schusslinie begeben konnte. Tristan schaute um sich und stellte fest, dass er so gut wie gar kein Publikum hatte, was ihn offenbar noch mehr aufbrachte. Er schüttelte Ben erneut. „Passt bloß auf, ihr Weltraum­spackos!“

„Äh - auf was denn?“ Willi biss sich auf die Zunge, Max stöhnte leise.

Tristan drehte sich langsam zu Max und Willi um. „War da was?“, zischte er.

„Ähemm.“ Direktor Weber stand wie aus dem Boden gewachsen auf der anderen Seite des Ganges und runzelte missbilligend die hohe Stirn. Rollinger setzte Ben wieder ab und verzog sich mit geballten Fäusten. Direktor Weber ging kopfschüttelnd vorbei.

„Was für’n Hirni!“, grummelte Willi.

„Von wegen. Hirn hätte der gerne“, widersprach Max ernsthaft. „Der ist eher ein Troll wie aus dem Buche.“

„Ein geistesgestörter Troll“, ergänzte Ben und massierte sich den Nacken.

„Ein Ork“, schlug Willi vor. Man einigte sich schließlich auf Hirnitrollork. Für Direktor Weber fiel das Urteil immerhin ein wenig gnädiger aus. Aber nur knapp.

Der Tag verlief wie in Trance. Immer wieder drängelte sich die Lichterscheinung in Max’ Gedanken. Auch die erfreuliche Ankündigung einer drohenden Buchbesprechung über Jules Verne hob seine trübe Stimmung nicht wirklich.

„Ich hab’s gesehen, ich hab’s gesehen, ich hab’s gesehen“, wiederholte er auf dem Heimweg immer wieder. Als er an die Straßeneinmündung kam, verstummte er und blieb stehen. Der Himmel hing voll grauer Wolken, vereinzelte Schneeflocken tänzelten herab und verschleierten die Aussicht auf die Villa. Nichts. Duster. Tot. Max fiel zum ersten Mal auf, dass das Grundstück, auf dem die Villa stand, viel größer war als die benachbarten. Der rostzerfressene, eiserne Zaun, der vor über hundert Jahren wohl mal dekorativ gewesen war, war zum größten Teil von Ranken überwuchert oder umgefallen und das bemooste Dach über der vorderen Veranda sah aus, als ob es den nächsten Frühlingswindstoß nicht überleben würde. Max lauschte. Zu hören war aber nur entfernter Straßenverkehr von der Landstraße hinter dem Wäldchen und ein einzelner, zeternder Spatz, der mit einem letzten Quietscher verstummte. Max fror. Er zog die Schnur an seiner Kapuze fester zusammen und stiefelte weiter. „Ich hab’s gesehen!“, brummte er noch ein letztes Mal. Aber es klang irgendwie nicht überzeugend.

Elendig lange zwölf Minuten starrte Max auf den Kochtopf mit den blubbernden Nudeln. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass Wasser schneller kochte, wenn man zuschaute. Das klang zwar reichlich bekloppt, aber ausprobieren kostete ja nix.

Max kippte die Nudeln in ein Sieb und von dort auf einen tiefen Teller und ertränkte sie in einem See aus Ketchup. „Junge, du musst mehr Obst essen!“, nölte er über der dampfenden Spüle, nahm eine Tüte Rosinen aus dem Schrank und leerte sie über den Nudelberg. „Yam, yam.“ Rosinen waren doch mal Obst, oder? Noch einen Spritzer Zitronenlimo, fertig. Diese Kreation war gewöhnungsbedürftig, stellte er nach der dritten Gabel fest. Tapfer arbeitete sich Max bis auf den Tellergrund hinunter. „Mann, werde ich mal groß und stark sein!“ Mindestens so groß wie Rollinger. Irgendwann würde der mal ausrasten. Aber das Trio konnte gut weglaufen. Immerhin.

„Aaah!“, rief Max aus, ließ die Gabel in die Nudeln fallen, lief hinüber in sein Zimmer, fiel vor seinem Bücherregal auf die Knie und zog im untersten Fach einen Bildband nach dem anderen heraus. Da, das war das Buch, das er gesucht hatte. Max blätterte im Schnelldurchgang, hielt an und klatschte mit der Hand auf die Doppelseite. „Der Kandidat hat hundert Punkte!“ Was auch im­mer das heißen sollte. Max starrte auf ein Kinoposter, das in dem Sammelband über alte Horrorfilme abgebildet war. Das Bild zeigte eine düstere Holzvilla in der Dämmerung. Zwei Fens­ter im ersten Stock glühten wie ein Paar teuflische Augen. Max las sich die Beschreibung unter den Szenenfotos durch. „Horror­haus, Mord und Totschlag, junges Ehepaar, Bootshaus, alle drehen in dem Haus mit der Zeit durch. Voll öde.“ Max schüttelte den Kopf. Da kannte er aber wesentlich Gruseligeres wie Shining oder Poltergeist. Aber das Poster hatte schon was Unheimliches an sich. Und genau so hatte auch die Villa drei Straßenzüge weiter ausgesehen. Jedenfalls für einen kurzen Moment. Das musste er unbedingt den anderen erzählen. Max griff zum Telefon und zöger­te. Während er noch überlegte, dudelte sein Quatschofon. Willinilli.

„Bock auf ’ne Runde Galaxy?“

„Ich wollte auch gerade anrufen. Ich habe was entdeckt.“

„Also kein Galaxy?“

„Du kennst doch die alte Villa oben am Berg.“

„Ja, den windschiefen Bau. Was ist denn damit?“

„Da habe ich heute früh ein Licht drin gesehen. Ganz kurz.“

„Ach, das Licht. Und?“

„Jetzt habe ich gerade das Poster von so einem Gruselstreifen in einem alten Jahrbuch über Horrorfilme wiederentdeckt. Das sieht genauso aus.“

„Das habe ich heute früh auch gesehen.“

„Was – den alten Horrorfilm oder das Poster?“

„Na, die Villa. Da brannte Licht.“

Max war für ein paar Sekunden sprachlos. Ach, auf einmal! „Und?“, hakte er nach.

„Nix und. Hat wohl einer das Licht angelassen.“

„Ich denke, das Ding ist schon seit Ewigkeiten unbewohnt? Meine Mutter hat mir erzählt, die Bude steht da schon seit über hundert Jahren. Die ganze Gegend gehörte dazu; das war hier alles mal Wald. Bis runter zum Fluss. Den ganzen Stadtteil gab noch nicht. Die Straßen waren damals nur schmale Waldwege. Gehörte alles einem Holzbaron.“

„Also stand das Haus mal mitten im Wald?“

„Yepp. Als das Sägewerk dann dichtgemacht hat, ist der Holztyp weggezogen und keiner wollte seine olle Villa kaufen.“

„Wer will schon in so ’ner Bruchbude hausen?“

„Was weiß ich? Irgendwelche Penner oder ...“

Max hörte deutlich durch den Hörer, wie Willi mit den Schul­tern zuckte. Im Hintergrund plärrte leise das Galaxy-Geballer vor sich hin.

„Ja dann.“

„Tüdelü.“

Max legte langsam auf, schlurfte zurück in die Küche und rührte in dem halbleeren Teller herum. Die Nudeln waren mittlerweile eiskalt und eklig, also ab in den Müll. Schade um das Obst. Schnell noch den Teller und das Besteck gespült.

Die Farbe auf den schmalen Beinverkleidungen des Roboters war getrocknet. Zehn Minuten später klebten sie an der richtigen Stelle, mit Gummibändern und Wäscheklammern fixiert. Max war ganz zufrieden mit seiner Arbeit. So langsam wuchs der Ro­bot in die Höhe. Fragte sich nur, wohin mit dem Teil, wenn es fertig war. Das Problem hatte er noch nicht gelöst. Zu blöd, dass Mamu bei der Anschaffung zur Bedingung gemacht hatte, dass irgendetwas anderes Platz machen musste. Max schaute sich um. Auf dem obersten Bücherregal reihten sich elf Modelle des Shuttles, der Orion und der Mars One und eine Roswellalien­auf­blaspuppe, die im Dunkeln leuchtete. Jedenfalls anfangs.

Max betrachtete die Ergebnisse jahrelanger Modellbau­aben­teuer. Zu dumm, dass jetzt seine Bude so vollgestopft war, dass nichts mehr an die Decke oder an die Wände passte. Seufzend ergab sich Max seinem Schicksal. Hausaufgaben waren schnell abgehakt. Max schielte aus seinem Fenster. Es schneite. Ohne sich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen, konnte er über die Dächer der Siedlung hinweg den Schornstein der Gruselvilla sehen. Max starrte wie gebannt hinaus. Er kniete sich auf seinen Schreibtischstuhl. „Verdammt!“, entfuhr es ihm und er rieb sich die Augen. Ein dünner Rauchfaden kroch aus dem krummen Backsteingebilde in die Luft, gleich neben dem dürren Birken­stamm, er war kaum zu sehen. Max sprang herunter und holte sein kleines Fernglas aus dem Schrank. Er hatte richtig gesehen. Rauch. Der Zoom seiner Handykamera reichte nicht aus. Max schoss vorsichtshalber ein Foto und vergrößerte es auf seinem Computer. „Hm.“ Das Ergebnis war nicht besonders überzeugend, nur ein matschiger grauer Matsch vor matschigem Hinter­grundmatsch. In der Glotze wurde in den Krimiserien immer ganz lässig vergrößert und scharf gezogen. Was für’n Quatsch. Ab und zu durfte Max sich sowas ansehen, aber so doll fand er diese Mord- und Totschlagserien gar nicht. Meistens wusste er schon nach den ersten Minuten, wer der Täter war und ärgerte seine Mamu damit, es hinauszuposaunen. Die hielt sich nach Max’ erstem Aufstöhnen immer die Ohren zu und sang laut Lalalalala. Schon wieder dudelte es, diesmal der Computer.

„Anruhuhuf“, jodelte Max und rüttelte an der Maus. Der Schirm leuchtete auf. Big Ben.

„Machse?“

„Hausaufgaben, Robo weiterbauen und so.“ Die Videover­bin­dung stotterte ein wenig.

„Kein Galaxy?“

„Kein Bock. Habe in einem Buch ein altes Poster gefunden. Sieht aus wie die alte Villa.“

„Hat mir Willi schon erzählt.“

„Es steigt auch Rauch aus dem Schornstein hoch.“

„Also ist da jemand drin. Na und?“

Max schaltete seine Schreibtischlampe an. Sein Bild auf dem Schirm leuchtete auf. „Du kennst doch die Story von den Typen, die da mal eingestiegen sind.“

„Das ist doch eine Legende.“

„Und wenn nicht?“ Es rauschte ein wenig aus den Laut­sprechern.

„Also kein Galaxy?“

„Ich warte nur drauf, dass es aufhört zu schneien.“

„Was hast du denn vor?“

Max schwieg bedeutungsvoll. Nicht etwa wegen des dramatischen Effekts, sondern weil er nicht wusste, was er antworten sollte. Irgendwie war ihm das nämlich gar nicht so klar. „Weiß noch nicht genau.“

„Na denn.“ Zapp - war Big Ben verschwunden.

Max starrte noch eine Weile auf den schwarzen Schirm. Tief in seinem Unterbewusstsein kitzelte etwas. Das war das gleiche Gefühl wie vor einer Mathearbeit, die frühe Vorahnung, dass eine Katastrophe hinter der nächsten Hausecke lauerte, allzeit bereit zuzuschlagen. „Was soll‘s“, brummte Max und schielte nach draußen. Es hatte wirklich aufgehört zu schneien. Max seufzte. Jetzt konnte er ja schlecht einen Rückzieher machen. Er stieg in seine Schuhe und steckte vorsichtshalber die Spionage­ausrüstung ein, bestehend aus einer Lupe, einem Feuerzeug, von dem seine Mutter besser nichts erfuhr, dem Schweizer Messer, von dem seine Mutter besser erst recht nie etwas erfuhr, einem Böller, den er sich für so eine Gelegenheit aufgehoben hatte und dem Metermaß, das so ein witziges Geräusch machte, wenn man es zurückschnappen ließ. Nicht zu vergessen – Handy und Fern­glas. Derart ausgestattet, traute sich Max mit vollen Jacken­taschen vor die Tür.

Um ganz besonders schlau vorzugehen, nahm er einen Um­weg in Kauf und stand nach zwanzig Minuten frierend im kleinen Wäldchen oberhalb der Siedlung. Fluchend kämpfte er sich gebückt durch das Unterholz. Wenn er richtig kalkuliert hatte, würde er auf der Rückseite der alten Villa herauskommen.

Er hatte richtig kalkuliert. Die Bruchbude sah von hier noch trauriger aus. Ein verglaster Wintergarten war hinten angebaut. Teilweise waren die Glasscheiben erblindet oder fehlten sogar. Der Garten war großflächig mit knorrigen Unkrautranken zugewuchert. Blassbraune Gardinen in den Fenstern im ersten Stock verhinderten jede Einsicht.

Max brauchte eine Weile, um darauf zu kommen, was ihn irri­tierte. Die Fensterläden standen offen! Das wertete Max als erstes echtes Indiz, dass die Bude bewohnt war. Er kniete auf einem Laubhaufen bis er bemerkte, dass er sich dummerweise auf einem Ameisenhaufen niedergelassen hatte. Hastig sprang Max auf und wischte sich fluchend die Krabbelviecher von den Klamotten. Er hasste alles, was winzig war und durch die Natur krabbelte. Die meisten Jungs hatten weniger Probleme mit Insekten. Max sprang schon beim Anblick eines Weberknechts in Deckung. Deshalb hatte ihn die Expedition durch den Wald schon einiges an Überwindung gekostet. Eiligst bahnte er sich seinen Weg zurück in die Zivilisation aus glatten Teerstraßen, sauberen Betonbürgersteigen und aufrecht stehender, einwandfrei funktionierender Straßenbeleuchtung über korrekt gezogenen Zebrastreifen. Max wischte auf dem Weg rund um das Wäldchen immer wieder über seine Jacke. An der Straßenkreu­zung hielt er an und blickte um die Ecke. Dicht an den Häusern entlang schleichend, nutzte er jeden Mülleimer, jede Hecke und jeden Mauervorsprung als Deckung. Nach zwei Dritteln der leicht ansteigenden Straße stand die letzte Hecke. Zu dumm. Ein Bimmeln riss Max aus den taktischen Überlegungen.

Big Ben auf seinem BMX-Rad. „Habe ich mir doch gedacht, dass ich dich hier finde.“

„Gut kombiniert, Watson.“

Ben nickte zur Villa hinüber. „Und – was ist nun? Schon angeklopft?“

„Bist du wahnsinnig? Da kann man doch nicht einfach so reinplatzen.“

„Wie? Angst vor Zombies oder Vampiren?“

Max lächelte nur müde. „Wer hat schon Angst vor Vampiren? Sehe ich aus wie ein Mädchen?“

Als Antwort musterte Ben seinen Freund nur von oben bis unten. „Da krabbelt was auf deiner Jacke.“

Max schnappte nach Luft, schlug wild auf seiner Jacke herum und schüttelte sich.

„Beantwortet das deine Frage?“, versetzte Ben nur und bohrte in der Nase.

„Blödi!“, grummelte Max und stöhnte, als auch noch Willi um die Straßenecke bog. „Na wunderbar! Hast du etwa Willi angerufen?“

Ben studierte inzwischen das Ergebnis seiner Bohrung. „Na klar. Wenn du eine Runde Galaxy ausschlägst, musst du krank sein, habe ich mir gedacht. Und dann noch das Gefasel über die Villa ...“

„Na, ihr Nasen? Was dreht?“

„Du mit deinem ewigen Was dreht. Nix dreht sich hier, nur sein Finger in der Nase.“

„Lecker“, brummte Willi und probierte es gleich selber mal aus. Max zückte kopfschüttelnd die Lupe und ging hinüber zu dem Wendekreis vor der Villa. Die anderen beiden folgten ihm.

Max ging in die Hocke. „Ist schon auffällig, oder?“ Er zeigte in den Wendekreis. Wie mit einem Riesenzirkel halbrund gezogen, standen Grasbüschel entlang einer unsichtbaren Grenzlinie und hatten sich auf beiden Straßenseiten durch jede Ritze der Bürgersteigplatten gedrückt. Innerhalb des Halbkreises wuchs dagegen nicht ein einziger Halm.

„Und wofür brauchst du dabei eine Lupe?“, hakte Ben nach. „Das sieht man doch auch ohne.“

Kommentarlos steckte Max die Lupe wieder ein. „Schaut mal, da!“ Er zeigte auf den windschiefen Briefkasten neben der klapprigen Zauntür.

„Und?“, fragte Willi und zückte einen Schokoriegel, den er sich gleich ins Gesicht steckte.

„Der Briefkasten ist leer!“

„Dein Kopf ist leer“, behauptete Ben und tippte sich an die Stirn.

„Überlegt doch mal“, gab Max beherrscht zurück. „Unsere Briefkästen zuhause quellen doch jeden Tag über vor lauter Werbemüll.“

„Ja, sicher. Bunter Dreck.“

„Und – seht ihr hier irgendwo etwas davon? Jemand leert offensichtlich den Briefkasten.“

Ben nickte. „Ich nehme es zurück, dein Kopf ist doch nicht leer.“

Max grinste zufrieden.

„Und nu?“, beendete Willi schmatzend seinen Schokosnack.

„Wir können ja mal klingeln“, schlug Ben arglos vor.

„Nein, nein! Wir müssen unauffällig vorgehen“, widersprach Max.

Ben und Willi lachten. „Wir stehen schon mitten davor. Auf­fälliger geht’s wohl kaum“, spottete Willi und Ben klingelte mit seiner Fahrradklingel wild drauflos, bis Max eine Hand auf die Klingel legte. „Ihr habt echt eine Schraube locker!“

„Das merkst du erst jetzt?“, lachte Willi.

„D-da!“, stotterte Ben los und erstarrte. Die anderen beiden drehten langsam ihre Köpfe in Bens Blickrichtung und starrten zur Villa hinüber. Da stand jemand im ersten Stock am Fenster und hatte den Vorhang ein Stück beiseite gezogen.

„Ich glaube, wir verziehen uns lieber.“ Die Jungs machten kehrt und eilten die Straße hinab. Sie wurden immer schneller. Max‘ Sneaker peitschten den nassen Asphalt entlang. Er hielt nicht an, bevor er seine Haustür erreicht hatte. Ben und Willi trafen nur Sekunden später ein. Mit fliegenden Fingern holte Max seinen Hausschlüssel hervor und öffnete die Tür. Die drei Jungs quetschten sich gleichzeitig durch den Türrahmen und plumpsten in den Hausflur. Nach einer Schrecksekunde fingen alle drei an zu lachen.

„Was war das denn?“, quetschte Ben als erster hervor.

„Keine Ahnung. Vielleicht ein Geist“, vermutete Max drauflos.

„Bloß nicht“, nölte Willi.

„Hu-huu“, heulte Ben los.

„Lass das, ich hasse das“, bellte Willi zurück.

„Vielleicht eine teilmaterialisierte Präsenz einer ätherischen Phantasmagorie“, vermutete Max trocken.

„Na klar, Dr. Venkman. Wo ist der Rest der Ghostbusters?“

„Jemand wohnt jetzt da drin. Na und?“ Ben reckte sich, dass seine Halswirbel knackten. „Mir wurscht.“

„Wenn’s dir wurscht ist, warum bist du dann weggerannt?“

„Na, ihr doch auch ... Ach vergesst es! Ich geh heim.“ Ben verdrückte sich. Willi und Max gingen hinauf zur Wohnung. „Der hat ein dickes Fell.“

„Ach was, der tut nur so.“ Max zeigte Willi das Buch mit dem Kinoposter.

„Stimmt, sieht so ähnlich aus. Nur die Fenster sind anders. Und es ist kein doofer Film.“

„Schau mal, es steigt wieder Rauch auf.“

„Kein Wunder, wenn jemand drin wohnt“, stellte Willi fest. „Haben wir doch gerade selbst gesehen. Schon vergessen?“

„Würde ich gern.“ Max klappte das Buch zu. „Horrorfilme sind doch alle Quatsch mit Soße.“

Da war Willi natürlich anderer Meinung. „Irgendwelche Leute haben sich die halt ausgedacht. Aber was, wenn jetzt so ein Verstörter da wohnt?“

„Häh?“ Max schüttelte den Kopf. „Wer solche Filme macht, wohnt doch nicht in so einer Schrottbude, sondern in einer fetten Villa in Hollywood.“

Willi nickte langsam. „Stimmt.“

„Hier, schick, was?“ Max präsentierte stolz seinen neuen Robo.

Willi lehnte sich vor und staunte über die Details. „Echt nicht schlecht.“

Max bemerkte wohl, dass Willis Blick wieder zum Fenster hinausging. Er schaute auf die Uhr. „Meine Mam kommt bald heim.“

„Ich hab auch noch was vor, muss noch Milch holen.“ Willi verzog sich und Max ließ schnell seine Spionageausrüstung hinter dem losen Wandbrett unter seinem Bett verschwinden, dann breitete er dekorativ seine Hausaufgaben auf dem Schreibtisch aus und hockte sich vor die Glotze. „Kindersicherung, auweia“, kicherte er. Immerhin vierstellig. Als ob sich Mamu vierstellige Zahlen merken konnte. Max tippte viermal die Neun ein und die restlichen neunhundert Satellitenkanäle waren freigeschaltet. Leicht gelangweilt zappte er durch die Kanäle mit den hohen Num­mern, die mit den halbnackten Frauen und den Zillionen Tele­fonnummern, untermalt von mumpfiger Dudelmusik. Max war schleierhaft, warum man da anrufen sollte. Wer bezahlte schon so viel Kohle für einen Telefonanruf? Da wurde man doch in Lichtgeschwindigkeit arm. Nur um mit Frauen zu quatschen? Völlig bekloppt. Nackte Frauen gab es auch überall im Netz und das komplett für lau. Ausländische Seifenopern waren da schon viel lustiger. Zwei bärtige Männer in seltsam bunten Klamotten brüllten sich hochpathetisch in einer Sprache mit ungeheuer vielen Konsonanten an. Zapp. Jetzt brüllte ein älterer Mann mit zu viel Pomade im Haar und gewaltigen Schweißflecken unter den Armen auf Englisch in die Kamera und schwenkte ein dickes, schwabbeliges Buch dabei. Die russischen und koreanischen Unter­titel halfen nicht wirklich weiter. Zapp. Noch so einer, diesmal in Spanisch. Der bettelte seine Zuschauer um Geld an. Was auch sonst. Zapp. Und Gott sieht alles, nörgelnörgelnörgel. Nur nicht so einen Mist. Und schon gab es eine Werbeunter­brech­ung. Kostenlose Broschüren, gegen eine Spende. Jaja. Zapp. Max stöhnte auf. Der nächste sang zur Klampfe: „Lalala­jesus­lalala“ und lächelte dabei debil und halslos aus seinem beigen Rollkragenpulli hervor. Max zappte rasch durch die ersten zwanzig Kanäle. Die Southpark-Folge auf dem Zeichentrickkanal kannte er schon. Also – wieder die Kindersicherung einprogrammiert und ausgeschaltet. Bis Mamu zurückkehrte, sollte die Kiste sich ausreichend abgekühlt haben, kalkulierte Max mit Blick auf die Wanduhr. Mit dem Föhn auf kalter Stufe nachhelfen konnte er sich vermutlich sparen. Sicherheitshalber legte er den Daddel­kisten-Controller dekorativ aufs Sofa. Das Telefon dudelte und Max’ Mutter gab durch, dass sie später eintrudeln würde als geplant. Max schmierte sich eine dicke Stulle mit Salami und Käse und verzog sich in sein Zimmer. Draußen war es bereits dunkel geworden. Was war das? Schimmerte da was drüben bei der Villa? Hing da nicht so ein Flimmern in der Luft über dem Schornstein? Max rieb sich die Augen und schaltete das Decken­licht aus. Und weg war auch das Glühen. „Menno“, brummte er. Es war nur eine Spiegelung in der Scheibe vom Bilderrahmen aus zerknitterter Alufolie, den er mal vor Urzeiten gebastelt hatte und der genau gegenüber dem Fenster an der Wand hing. Der Schnappschuss mit ihm und seiner Mutter auf der Achterbahn hing schief. Max schob ihn mit einem Finger wieder grade.