MBl_2017-5

Marxistische Blätter 5_2017

Kommentar

Grünes Ende ohne Schrecken

Ulli Gellermann, www.rationalgalerie.de

In gemeinsamer Sache

Eine Urlaubskarte …

… leicht vergiftetes …

… und tatkräftiges Lob

Ein Beitrag macht die Runde

Was brachte der G20-Protest?

Aktuelles

»Die Macht!« – »Dem Volke!«

Der 14. Parteitag der Kommu­nistischen Partei Südafrikas

Manfred Idler

Zur Verteidigung des dialektischen Materialismus

Antworten auf eine »linke« Kritik der kommunistischen Unterstützung Jeremy Corbyns

Nick Wright

Frankreichs veränderte politische Landschaft

Georg Polikeit

Zu Risiken und Nebenwirkungen …

… der Digitalisierung im System der Krankenversorgung

Rudolph Bauer

Fahrverbot für Diesel-Pkw in Städten?

Noch lange nicht durchgesetzt!

Winfried Wolf

Thema: 150 Jahre DAS KAPITAL – Nicht nur für Einsteiger

Editorial

Kapitalismus und Marx‘ Lösung

Alexander B. Voegele

Politische Ökonomie vor Marx

Holger Wendt

Marx’ »Kapital« – eine konstruktive Kritik

Eike Kopf

Work in progress – »Das Kapital«

Die Erstausgabe und ihre weitere Bearbeitung durch Marx

Thomas Kuczynski

Bewirkte Wirkungen

Zur Geschichte der »Kapital«-Rezeption seit 1867

Georg Fülberth

Die Kapitalrezeption der Neuen Marx-Lektüre

Karl Reitter

Aus der Arbeit der Marx-Engels-Stiftung

Clara Zetkin. Wegbereiterin sozialistisch-feministischer Politik

Florence Hervé

Clara Zetkin in der KPD und der Kommunistischen Internationale

Heinz Karl

Trump, Deutschland und die EU

Beate Landefeld

Diskussion

Wie wir aufhören, von einem Gegensatz zu leben

Hermann Jacobs

Widerspruch zu Peter Brandt

Gerrit Brüning

Positionen

Demokratie und Sozialismus

Albano Nunes

Digitalisierung im Kapitalismus

Verschwindet die Arbeit, wie wir sie kennen?

Thomas Hagenhofer

Zur Geschichtspolitik der Partei DIE LINKE

Ludwig Elm

Rezensionen

Michael R. Krätke: Kritik der politischen Ökonomie heute (Klaus Müller)

Eingefrorene Konflikte. Multipolar 1/2017. Zeitschrift für kritische Sicherheitsstudien (Alan van Keeken)

Patrick Schreiner: Warum Menschen sowas mitmachen (Manfred Weißbecker)

Peter Dale Scott: The american Deep State Big Money, Big Oil, and the Struggle for U.S. Democracy (Klaus Wagener)

Stefan Bollinger: Oktoberrevolution. Aufstand gegen den Krieg 1917–1922 (Raimund Ernst)

Chaja Boebel/Lothar Wentzel (Hg.): Streiken gegen den Krieg! (Rainer Venzke)

Marga Voigt (Hg.): Clara Zetkin. Die Briefe 1914 bis 1933. Band I: Die Kriegsbriefe (Hermann Kopp)

Es schrieben diesmal

Impressum

Kommentar

Grünes Ende ohne Schrecken

Ulli Gellermann, www.rationalgalerie.de

Das waren sie mal: Die fundamentale Opposition, die Freunde des Friedens und der Umwelt, die mit den Turnschuhen. Die GRÜNEN. Sie schlugen heftige Wellen im bundesrepublikanischen Teich. Jetzt kräuselt sich der Medienspiegel nur noch ein wenig: Eine grüne Diplom-Finanzwirtin wechselt von der grünen Landtagsfraktion in Niedersachsen zur CDU. Huch. Ein sozialdemokratischer Ministerpräsident verliert seine Mehrheit im Landtag. Das ist der, der seine Regierungserklärung zum Umschreiben an den VW-Konzern geschickt hat…

In einem anderen Auto-Bundesland wäre der Wechsel eines GRÜNEN zur CDU nur konsequent: »Ein grün-schwarzes Bündnis ist für die CDU in Baden-Württemberg eine große Modernisierungschance«, sorgte sich der Grüne Winfried Kretschmann, nachdem die CDU ihm zum Job als Ministerpräsident verholfen hat. Kretschmann fährt Mercedes. Und in allergrößter Not fällt ihm auch schon mal solch ein Satz zu Angela Merkel ein: »Ich bete dafür, dass die Bundeskanzlerin gesund bleibt.« …

Die Grüne Partei auf den sehr katholischen Anpasser Kretschmann zu reduzieren, wäre historisch zu kurz gegriffen. Die GRÜNEN waren ein Kind der 1968er Bewegung. Und bevor sie sich um die Modernisierung der CDU kümmerten, waren sie heftig an der Entrümpelung der alten Bundesrepublik beteiligt: Mit den GRÜNEN stiegen die Frauen zu einem politikfähigen Geschlecht auf, der Parlamentarismus wurde zeitweilig zu einer spannenden Veranstaltung und die später angebetete Angela Merkel verordnete der AKW-Industrie im Ergebnis grüner Umfragewerte immerhin einen Zwischenstopp. »Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch«, rief Joschka Fischer einst dem Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen zu. Und nicht nur weil Fischer wirklich Recht hatte, verdient der Satz an die Tore des Reichstages genagelt zu werden. Dass Fischer später einen mörderisch guten Job erledigte als er die Deutschen in einen NATO-Einsatz gegen Jugoslawien verwickelte, zeigt dann die wirkliche Spannbreite grüner Politik: Vom erheiternden Wortradikalismus bis zur vulgären Kriegsmacherei.

»Wir wollten nur einen besseren Sozialismus«, sagte Bärbel Bohley, eine der Vorzeigefrauen der DDR-Opposition 1990 in die Kamera von Spiegel-TV. DDR-Oppositionelle wie Bohley fanden sich in der Bürgerbewegung des Bündnis 90 ein, die wenig später den ostdeutsch geprägten Flügel der GRÜNEN bilden sollte. Von Sozialismus war dann nicht mehr die Rede. Stattdessen stimmte eine Mehrheit der Bündnis-Grünen dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu und beerdigte so das einstige Pazifismus-Element der GRÜNEN, sodass sie als Teil der Friedensbewegung faktisch ausfielen. Es waren ehemalige Oppositionelle, die in der DDR gegen Wehrerziehung mobil gemacht hatten und Teile der einst machtvollen, oppositionellen westdeutschen Friedensbewegung, die den Weg der grünen Partei in die neue Bürgerlichkeit begleiteten.

»Ich sehe meine politische Zukunft in der CDU«, erklärt die Grünen-Abgeordnete Elke Twesten zu ihrem Parteiwechsel und hat Recht. Denn die Zukunft der Bundesrepublik liegt fraglos schon seit Jahren in den Händen einer übergroßen Koalition von CDU, SPD und GRÜNEN. Es ist an der Zeit eine Einheitspartei zu gründen, die dann auch formal mit der scheinbaren Opposition Schluss macht. Denn in diesen Tagen werden die oppositionellen Experimente von 1968 und 1990, die schon lange kränkelten, zu Grabe getragen. Der kurze Schrecken der Bürger ist dem langen Marsch mit den Institutionen in die Lähmung der öffentlichen Debatte gewichen. Man wird Elke Twesten eines Tages als historische Figur begreifen. Noch hatte die Bundesrepublik keinen weiblichen Bundespräsidenten. Trau Dich, Elke!

In gemeinsamer Sache

Eine Urlaubskarte …

Nicht gemeckert ist genug gelobt, sagt der Volksmund hier und da. Aber Kommunisten können auch anders. »Während einer Urlaubszeit in Österreich hatte ich Muße, das dicke Sonderheft (zur Oktoberrevolution) zu lesen. Es hat sich gelohnt! Donnerwetter, da steckt Arbeit dahinter, chapeau!«, schrieb unser Freund und Genosse Gottlieb Gudopp von Behm aus Frankfurt.

Und Geschichtsprofessor Hans Hautmann aus Wien lobte in einer kurzen Mail: »Das Heft ist wegen seiner Internationalität sehr gut gelungen.«

… leicht vergiftetes …

… kam von Alfred Schröder, Mitautor des Buches »Das Revolutionsjahr 1917« (VSA, 2017). In einem Artikel über »Die Februarrevolution in der linken Publizistik«, urteilt er: »Einzig die Marxistischen Blätter bringen …einen eigenständigen Artikel in der Zeitschrift ›Aufsätze zur Diskussion‹ zur Februarrevolution.« Er sei »noch das Beste, was die Linke in diesem Jahr zum Thema produziert habe«. Bedauerlicherweise enthalte der Artikel sich »jedes über die offizielle marxistische Orthodoxie hinausgehenden Gedankens«, wiederhole »alle bekannten Positionen der sowjetischen Orthodoxie«, meide »jede Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung«, entwickele »keinerlei eigenständige theoretische oder politische Position« und enthalte »nicht einen Versuch zur Neubewertung der russischen Revolutionen«. Schröders Fazit: »Wenn dies der Geist des kritischen und revolutionären Marxismus sein soll, dann ist in einer Leichenhalle mehr Leben zu finden, als im Umfeld der DKP.« (AzD 84, Juli 2017, S. 10f.) Na dann.

Wie lebendig in den Marxistischen Blättern diskutiert wird – auch über die Oktoberrevolution –, kann man übrigens auf den Seiten 108ff. des vorliegenden Heftes nachlesen.

… und tatkräftiges Lob

»Lob durch tatkräftige Unterstützung« gab es auch. Mitglieder der DKP bestellten z.T. gleich mehrere Exemplare des Sonderheftes, für die Bildungsarbeit in ihrer Parteigruppe oder zur Weiterverbreitung im persönlichen Umfeld, z.B. beim Verkauf von Eintritts­karten für die Revolutionsfeier des DKP-Parteivorstandes am 21. Oktober in Berlin. (siehe Umschlagseite 3 in dieser Ausgabe) Bis dato wurden 152 Sonderhefte zusätzlich verkauft. Da ist bis Oktober also noch Luft nach oben.

Ein Beitrag macht die Runde

Der Beitrag unseres Autors Rudolph Bauer über »Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung im System der Krankenversorgung« (siehe Seite 17 dieser Ausgabe) machte wegen seiner Aktualität und Qualität die Runde. Gekürzte Vorabdrucke erschienen nicht nur in der »UZ«, sondern auch in »Forum« (Sept. 2017), dem Mitgliedermagazin des Vereins IPPNW und in der Zeitschrift für soziale Medizin »Gesundheit braucht Politik« (Ausgabe 2/2017).

Übrigens: Das Heft ist insgesamt sehr zu empfehlen für Ärzte, Studis, Pfleger und Patienten (m+w).

Bestelladresse: info@vdaeae.de.

Und: Unser Bestseller »Gesundheitsmarkt – Wie krank ist das denn?« (MBl 1_2017; 252 zusätzlich verkaufte Exemplare) ist weiterhin aktuell und lieferbar.

Bestelladresse: info@neue-impulse-verlag.de

Was brachte der G20-Protest?

Die notwendige, selbstkritische Diskussion darüber ist bei uns ins Sommerurlaubsloch gefallen. Beiträge dazu veröffentlichen wir in der nächsten Ausgabe Anfang November.

Aktuelles

»Die Macht!« – »Dem Volke!«

Der 14. Parteitag der Kommu­nistischen Partei Südafrikas

Manfred Idler

In Ekurhuleni bei Johannesburg fand vom 10. bis 15. Juli der 14. Nationalkongress der Südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP) statt. Unter dem Motto »Die nationaldemokratische Revolution verteidigen, vorantreiben und vertiefen: Die Avantgarderolle der SACP« zogen 1.819 Delegierte – 48 Prozent von ihnen Frauen – eine Bilanz der Entwicklungen im Land und international seit 2012, dem Jahr des 13. Parteitags, und berieten die Strategie für die kommende Periode. Sie vertraten mehr als 280.000 Mitglieder. Eingeladen waren auch 382 Vertreter aus der Regierungsallianz, bestehend aus dem Afrikanischen Nationalkongress ANC, dem Gewerkschaftsdachverband Cosatu und der SACP, aus Massenorganisationen, SACP-nahen Institutionen, dazu aus religiösen Vereinigungen. Auch Vertreter von Veteranenverbänden des Anti-Apartheid-Kampfes und Angehörige von verstorbenen herausragenden Persönlichkeiten der Partei folgten den Beratungen. Der Parteitag fand großes internationales Interesse, Gäste aus 59 Kommunistischen und Arbeiterparteien folgten den Reden und Debatten.

Die SACP hat ihren Mitgliederbestand in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt, beim letzten Parteitag wurden noch etwa 150.000 Genossinnen und Genossen gezählt. Allein seit Dezember 2016 sind 26.000 neue Mitglieder in ihre Reihen eingetreten.

*

In der riesigen Kongresshalle brodelt es. Fast 1.900 Delegierte der Kommunistischen Partei Südafrikas singen Kampflieder, begleitet von Trillerpfeifen, Tanzen, rufen Schmähungen gegen prominente Regierungsmitglieder. 10 Minuten, eine Viertelstunde, 20 Minuten lang. Dann tritt der Versammlungsleiter ans Mikrophon, übertönt die Schlachtrufe: »Amandla!« Noch einmal: »Amandla! Der Hexenkessel brodelt weiter. Ein drittes Mal: »Amandla!« und und aus allen Kehlen die machtvolle Antwort: »Ngawethu!« Und noch einmal »Amandla!«. Ngawethu!« – »Die Macht!« »Dem Volk!«

Die Delegierten, allesamt gekleidet in rote T-Shirts und Hemden, rote Jacken und zum größten Teil mit roten Mützen auf dem Kopf, beruhigen sich, nehmen ihre Plätze ein. Die rote Kleidung hat nicht den Sinn einer Uniformierung, sie soll die Unterscheidung nach der sozialen Stellung verhindern. Die Delegierten stammen aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung, hier sitzt der junge erfolgreiche Kleinunternehmer neben der arbeitslosen Mutter, die die Sorge um die nächste Mahlzeit für ihre nicht Kinder plagt. Hier soll jede Stimme dasselbe Gewicht haben, darum die einheitliche Kleidung.

Die Beratung beginnt. Es geht um viel auf diesem 14. Parteitag. Blade Nzimande, alter und später wiedergewählter Generalsekretär der SACP, umreißt die großen Probleme der Partei und des Landes. Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme, die überbordende Arbeitslosigkeit von – im engeren Sinn – inzwischen 27,7 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Und vor allem die Korruption in Politik, staatlicher Verwaltung bis in die Regierungsspitze, ausgehend von den Mächtigen der Wirtschaft. Tiefe Krisen, in denen Südafrika steckt, und Nzimande spricht von einer vierten Krise, die mit den drei ersten verknüpft ist: Die Gewalt, und besonders die gegen Frauen und Kinder. Der Mehrheit der südafrikanischen Bevölkerung werde dadurch ein grundlegendes Bürgerrecht genommen: das Gefühl der persönlichen Sicherheit. Nzimande geht die Führungsriege des dominierenden Partners in der Regierungsallianz, des ANC, direkt an: »Was geschieht, wenn die Staatsführer ihr Amt missbrauchen? Kommt es zu einer Spaltung des ANC? Für die meisten von uns ist es kaum denkbar, unter der Führung von Gangstern im ANC zu bleiben. Und genauso denken viele im ANC!«

Stürmische Debatte

Die Worte des Generalsekretärs wurden von vielen Rednerinnen und Rednern in den Diskussionen bestätigt. Sie äußerten auch die Sorge, die Entwicklung sei nicht umkehrbar, die durch und durch korrupte Fraktion innerhalb der Führung habe das Ansehen des gesamten ANC bereits so weit beschädigt, dass er seine führende Rolle in der Politik des Landes bei den nächsten Wahlen einbüßen werde. Es bestehe die Gefahr, dass dann eine opportunistische Koalition der Oppositionsparteien mit ihren eigentlich unvereinbaren Positionen das Steuer in die Hand nehmen werde. Und damit würde auch die SACP in den Strudel gerissen werden. Die Erfahrung mit dem ANC seit der Übernahme der Regierung im Jahre 1994 weise auf die Verankerung einer Fraktion des traditionellen bürgerlichen Nationalismus in der Allianz hin. Dessen Ablehnung und die Forderung nach einem revolutionären Patriotismus war eine der Säulen, die die dreiteilige Allianz und die Akzeptanz des ANC als deren führende Kraft tragen. Seit der Übernahme der Führungspositionen durch Zuma und seinen Anhang trete der bürgerlich-nationalistische Flügel immer offener und arroganter auf. Ein Delegierter zog Parallelen zu anderen »Entwicklungsländern«, wo ebenfalls der Kampf um nationale Befreiung zugunsten der Verwertungsinteressen der nationalen Bourgeoisie aufgegeben worden sei.

Yershen Pillay, Vorsitzender des Jugendverbands »Kommunistische Jugendliga Südafrikas« (YCLSA), differenzierte: Man könne nicht mehr von den politischen Repräsentanten einer einzigen kapitalistischen Klasse oder schwarzen Bourgeoisie im ANC sprechen. Es handle sich um eine nationale Bourgeoisie, deren Interesse der Besitz und die Kontrolle des Industriekapitals sei, eine Kompradorenbourgeoisie aus Teilen der schwarzen Mittelschicht, die mit dem Großkapital der USA, Europas und asiatischer Länder zusammenarbeite, um die Beute zu teilen, und eine parasitäre Bourgeoisie, die sich an Staatsmitteln zu bereichern sucht. Diese drei Formationen konkurrieren zwar miteinander, geraten aber dadurch nicht in Widerspruch zueinander. Gemeinsam kämpfen sie um die Dominanz im ANC, dessen Strukturen sie bereits bestimmen. Unweigerlich führt das zum Konflikt mit den Interessen der Arbeiterklasse, der ausgegrenzten Armen in Stadt und Land.

»Das Haus brennt!«

In Südafrika fand der Parteitag große Aufmerksamkeit der Medien, die sehr detailliert berichteten. Den größten internationalen Widerhall fand aber ein Detail, die Gastrede, die der stellvertretende ANC-Vorsitzende Cyril Ramaphosa hielt. In bisher nicht gekannter Schärfe ging er mit dem ANC-Vorsitzenden und Präsidenten der Republik, Jacob Zuma, ins Gericht. Dessen profitable Verbindungen zu dem milliardenschweren Gupta-Clan seien verbrecherisch. Auch andere Regierungsmitglieder, namentlich Bergbauminister Mosebenzi Zwane und Kommunikationsminister Faith Muthambi müssten wegen ihrer illegalen Geschäfte mit der Familie Gupta vor Gericht gestellt werden. Er werde nicht schweigen, wenn eine Handvoll Superreiche den Staat kapern. Die Milliarden Rand, die sich die Guptas mit ihren zahlreichen Firmen ergaunert hätten, müssten zurückgeholt und Gerichtsverfahren gegen alle beteiligten in Politik und Wirtschaft eingeleitet werden.

»Das Haus brennt. Noch als sich hier die die Delegierten versammelten, um über diese Fragen zu beraten«, so Ramaphosa, »kamen immer noch weitere Beweise ans Tageslicht, wie weitgehend unsere staatseigenen Unternehmen geplündert wurden, wie Einzelne in verantwortlichen Positionen von Handlungen profitiert haben, die im besten Fall als unethisch gelten müssen und im schlimmsten Fall kriminell sind. Wir wissen jetzt ohne jeden Zweifel, dass öffentliche Mittel in Höhe von Milliarden Rand in die Taschen von ein paar Leuten umgeleitet wurden. Wir hätten diese Mittel nutzen können, um Schulen und Kliniken zu bauen, die Infrastruktur verbessern, arme Bauern zu unterstützen und Stipendien zu vergeben.« Die Guptas und die Fraktion ihrer Freunde im ANC trügen Schuld an der Spaltung, die sich im ANC abzeichne, und an der Absicht der SACP, eigenständig bei Wahlen anzutreten. »Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das sagt, ›wenn Brüder bis aufs Messer kämpfen, erbt ein Fremder das Haus‹«, warnte er vor einem eigenständigen Antreten der SACP und kündigte an, auf der ANC-Wahlkonferenz im Dezember mit Zuma um die Kandidatur zum Präsidentschaftswahl zu ringen. Dazu benötigt er die Unterstützung der SACP. Auf die des Gewerkschaftsverbands Cosatu kann er bereits zählen, wie dessen Generalsekretär Bheki Ntshalitshali in seinem Grußwort an den Parteitag versicherte.

Die südafrikanische Zeitung »The Star« berichtete unter der Überschrift »Ramaphosa auf dem Kriegspfad«. Der Beifall der Delegierten war dennoch verhalten. Eine deutliche Mehrheit der Basis hatte sich schon entschieden: »Hore Party ya contesta!« »Die Partei stellt sich den Wahlen!« Südafrikas Kommunisten haben kämpferische Reden und große Versprechungen auch schon vom Nachfolger Nelson Mandelas im Präsidentenamt, Thabo Mbeki, gehört. Der schlug dann mit seinem investitionsfreundlichen Programm mit dem wohlklingenden Namen GEAR – Growth, Employment and Redistribution Report – den Weg der neoliberalen Umgestaltung der Wirtschaft ein. Und Jacob Zuma fand ebenfalls klingende revolutionäre Phrasen, als er das Amt übernahm, das er äußerst lukrativ für sich und die Seinen gestaltet.

10 Prozent Provision

Bei den aktuellen Beweisen für die Plünderung des Staates, die Ramaphosa in seiner Rede angesprochen hatte, handelt es sich um eine Enthüllung der südafrikanischen Rechercheplattform AmaBhungane, die exemplarisch zeigt, wie tief sich das System der Korruption in die Handlungsweise der Eliten hineingefressen hat.

Der Fall: Der umsatzstärkste Softwarehersteller außerhalb der USA, das schwäbische Unternehmen SAP, hatte vertraglich mit der kleinen Firma CAD House eine Provision von 10 Prozent vereinbart, falls es zu einem Vertragsabschluss zwischen SAP und dem staatseigenen südafrikanischen Transportunternehmen Transnet in einer Mindesthöhe von 100 Millionen Rand – ca. 7 Millionen Euro – komme. Seit Anfang 2016 hat SAP tatsächlich mehrere Überweisungen an CAD House vorgenommen, die sich zusammen auf annähernd 100 Millionen Rand belaufen, also fast zehn Mal mehr als im Vertrag vorgesehen. Diese Summen verblieben nicht beim Gupta-Unternehmen CAD-House, sondern wurden umgehend an andere Gupta-eigene Firmen weitertransferiert. Welche Leistungen CAD-House erbracht haben soll, um die Zahlungen zu rechtfertigen, dazu will sich der Software-Konzern nicht äußern. Ama Bhungane vermuten, dass darin auch Schmiergeldzahlungen enthalten sind für Auftragsvergaben an SAP durch andere Staatsunternehmen wie den Stromkonzern Eskom. Der Knoten, über den dann die Verbindungen zum Zuma-Clan laufen, ist Duduzane Zuma, der mehreren Gupta-Unternehmen vorsteht und zusammen mit seinem Zwillingsbruder Duduzile die schmutzigen Geschäfte des Vaters Jacob managt.

Die Beschlüsse des Parteitags

Ungeachtet der Warnung Ramaphosas vor dem Ausscheren aus dem gemeinsamen Wahlantritt innerhalb der regierenden Allianz beschloss der Parteitag auf energischen Druck der Basis die eigenständige Kandidatur der SACP im engen Schulterschluss mit dem strategischen Hauptverbündeten, dem Gewerkschaftsverband Cosatu. Diese Orientierung ist jedoch nicht so neu wie es in den Gesängen und Sprechchören auf dem Parteitag klang. Schon 2007 war das Gegenstand der Debatte in der Partei. Dass dieser Weg nicht weiter verfolgt wurde, war laut Blade Nzimande eine Folge des »Polokwane Hype«, der Begeisterung der Massen nach der Wahl von Jacob Zuma zum ANC-Präsidenten. Und auch jetzt handelt es sich mehr um eine Absichtserklärung als einen Beschluss, ein Datum, also ob die SACP schon bei der Wahl 2019 antreten wird, wurde nicht genannt. Erst sollen die Sondierungsgespräche mit möglichen Partnern geführt werden. Und: Ungeachtet des Beschlusses will sich die SACP als stabilste und einheitliche Kraft innerhalb der Regierungsallianz weiterhin um die organisatorische Erneuerung des ANC bemühen.

Blade Nzimande wurde ein weiteres Mal als Generalsekretär bestätigt, doch erst nachdem er auf Druck der Mehrheit der Delegierten auf die Linie des Ausstiegs aus der Koalition eingegangen war. Er nimmt die Funktion seit 1998 wahr. Zum 1. Stellvertretenden Generalsekretär wurde Solly Mapaila gewählt, bisher 2. Stellvertreter und ein Verfechter des genannten Kurses. Er nimmt den Platz von Jeremy Cronin ein, der nach 22 Jahren in dieser Position sich nicht mehr zur Wahl stellte.

Die Abschlusserklärung des Parteitages zählt unter anderem folgende Beschlüsse auf: Das wichtigste strategische Ziel ist die Einleitung einer tiefgreifenden zweiten Phase der nationaldemokratischen Revolution als dem direkten Weg zu einem sozialistischen Südafrika. Diesem Ziel dient auch der Kampf um eine wirkliche und nachhaltige Landreform, um die Anbauflächen für schwarze Kleinbauern zu erweitern. Eine Grundsteuer auf ungenutztes Land und landwirtschaftliche Großbetriebe soll die Mittel zu diesem Zweck erbringen. Die Landreform muss auch der Demokratisierung der Nutzung genossenschaftlichen und öffentlichen Eigentums an Grund und Boden dienen.

Die Wettbewerbsregeln müssen verschärft werden, um den Regulierungsbehörden zu erlauben, Marktabsprachen und monopolistische Marktdominanz in den Griff zu bekommen. Diese Dominanz ist geeignet, die Schaffung von Arbeitsplätzen zu behindern, die Entwicklung kleiner und genossenschaftlicher Betriebe zu verhindern und Wachstum zu ersticken. Die Beschlüsse des Parteitags fordern eine Umorientierung der Wirtschaftspolitik – weg von der exzessiven Förderung privaten Eigentums in der Hand von Schwarzen, hin zu mehr öffentlichem und gesellschaftlichem Eigentum. Südafrikas Reichtum an Bodenschätzen muss allen gehören. Der bisherige Grundsatz, dass ein bestimmter Anteil der Bergbaugesellschaften in den Händen schwarzer Eigentümer sein muss, wird verworfen zugunsten eines nationalen Fonds, damit die Erträge der Ressourcen allen Einwohnern Südafrikas zugutekommen.

Der Parteitag beschloss eine »Roter-Oktober-Kampagne« mit dem Schwerpunkt, in Betrieben und Kommunen gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Gewalt gegen Kinder und junge Menschen aufzutreten.

Der »stille Putsch« parasitärer Plünderung öffentlichen und Staatseigentums verlangt die sofortige Einrichtung einer Untersuchungskommission, die die illegalen Geschäfte aufdeckt und die Täter zur Verantwortung zieht.

Das erweiterte Zentralkomitee hat den Auftrag zur Entwicklung einer gemeinsamen Plattform mit dem Ziel, eine breite Front von Organisationen der Werktätigen und der demokratischen Öffentlichkeit zu schaffen. Dies muss unter Einbeziehung des ANC geschehen.

Die Delegierten verpflichten sich zur Durchführung der Beschlüsse. Und dazu, ihrer Avantgarderolle am Arbeitsplatz, am Wohnort, in Schulen und Universitäten und Schlüsselpositionen gerecht zu werden. Sie werden vertrauensvoll und bescheiden im Dienst der Arbeiterklasse und der Armen wirken.

Die Erklärung endet mit den Worten: »Als patriotische südafrikanische Partei sind wir auch eine Partei des Internationalismus. Wir kämpfen solidarisch gemeinsam mit allen Ausgebeuteten und Unterdrückten. Wir erklären ein weiteres Mal: Die Zukunft heißt Sozialismus! Lasst ihn uns aktiv in den Kämpfen unserer Zeit aufbauen!«

Zur Verteidigung des dialektischen Materialismus

Antworten auf eine »linke« Kritik der kommunistischen Unterstützung Jeremy Corbyns

Nick Wright

Die Ergebnisse der britischen Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres haben für einen beträchtlichen Aufruhr in den bürgerlichen und liberalen Medien gesorgt. Journalisten und dutzende Gelehrte wurden durch die Resultate gezwungen, kriecherische Entschuldigungen für ihre unverschämte Ablehnung Jeremy Corbyns als Anführer der Labour Party und seiner Politik, wie sie sich im Labour-Programm widerspiegelt, zu liefern. Ihnen schlossen sich Viele aus der Labour-Parlamentsfraktion an, die – nunmehr gestärkt in das Unterhaus zurückgekehrt – ihre Existenzen und Karrieren einem Mann verdanken, den sie – monate- und jahrelang – heruntergemacht hatten.

In vielen Fällen sind diese neuen Glaubensbekenntnisse für einen doppelten Zweck bekundet worden: Um den Zorn abertausender Mitglieder der Labour Party – zu denen sich in der jüngsten Zeit weitere Neumitglieder hinzugesellten – abzulenken und um sich selbst genug Spielraum zu geben, um das Parteiprogramm erneut zu untergraben und, insbesondere, Corbyns Bekenntnis, das Referendum zum Verlassen der EU zu respektieren, zu verwässern.

Zu dieser armseligen Menge von Büßern im House of Commons müssen wir alsbald den Autor beziehungsweise die Autoren eines aktuellen Beitrags der ansonsten durchaus hilfreichen Website In defence of Communism (›Zur Verteidigung des Kommunismus‹, Anm. d. Übers.) rechnen. Es ist wert, ihre Darbietung in Gänze zu lesen, aber zum Zwecke der Polemik werde ich sie zusammenfassen. Die selbsternannten Kommunismusverteidiger behaupten: Die Labour Party und die konservativen Tories sind zwei Versionen bürgerlicher Verwaltung. Die Labour Party Jeremy Corbyns ist eine durch und durch bürgerliche Partei, die dem kapitalistischen System dient, die völlig der Förderung kapitalistischer Profite ergeben ist. Mit Labour als auch mit den Tories wird die Bourgeoisie die Absicherung ihrer Interessen im Brexit-Prozess fertigbringen. Corbyns Führerschaft ist keine Ausnahme von der Sozialdemokratie, welche sich selbst hinter radikaler Rhetorik und leeren Versprechen versteckt. Corbyn ist, wie Tsipras, nichts anderes als ein politischer Repräsentant der Sozialdemokratie. Die Briten können wertvolle Lektionen aus den griechischen Erfahrungen ziehen. Schlussendlich: Die Kommunisten, die Marxisten-Leninisten in Großbritannien dürfen sich nicht selbst zu dem Gedanken verleiten, der sagt »Lasst uns Corbyn unterstützen, um die Tories aus der Regierung zu vertreiben«. Das Hauptproblem ist nicht der Verwalter des Systems, sondern das System selbst. Weder Premierministerin Theresa May noch Corbyn – oder irgendein anderer bürgerlicher politischer Führer – kann wirkliche Lösungen für die Probleme der Arbeiterklasse anbieten, weil diese Probleme ihre Wurzeln in der kapitalistischen Produktionsweise haben.

Rat ist immer willkommen und die Erfahrungen der Griechen mit der Gnade der EU waren eine heilsame Lektion für viele britische Arbeiter und spielten zweifellos eine Rolle in der Schärfung der Debatte über den Brexit. Aber es muss in der größtmöglichen Kameradschaftlichkeit gesagt werden, dass dieser Artikel nicht so sehr eine Verteidigung des Kommunismus, sondern eine des Dogmatismus ist. Es ist außerdem eine Übung in ignorantem Getue, das weder die Geschichte der britischen Arbeiterklasse, noch Lenins kreatives Denken über Großbritannien oder heutige Realitäten in Betracht zieht.

Beginnen wir mit einer unanfechtbaren These Lenins. Er sagte 1920 auf dem II. Kongress der KomIntern über die Labour Party: »die Arbeiterpartei [ist] eine durch und durch bürgerliche Partei, denn obwohl sie sich aus Arbeitern zusammensetzt, wird sie doch von Reaktionären geführt – von den schlimmsten Reaktionären, die ganz im Geiste der Bourgeoisie handeln. Es ist eine Organisation der Bourgeoisie, die dazu existiert, mit Hilfe der englischen Noske und Scheidemann die Arbeiter systematisch zu betrügen.« (LW Band 31, S. 247.) Selbstverständlich fuhr Lenin damit fort, zu erklären, dass die britischen Kommunisten um die engste organisatorische und politische Einheit mit dieser Vereinigung kämpfen müssten, welche, im Gegensatz zu den meisten sozialdemokratischen Formationen, in Wirklichkeit eine föderale Vereinigung von mit Wahlrecht an diese angegliederten Gewerkschaften, Kooperativen und politischen Gruppen verschiedener Art ist. Die wichtigste Passage in Lenin Text ist die von mir oben hervorgehobene, wonach die Labour Party »von Reaktionären geführt [wird]«.

Das Problem unserer dogmatischen Genossen von In Defence of Communism ist, dass man, solange man nicht die jahrzehntelange konsequente Opposition Corbyns gegen den imperialistischen Krieg und die kapitalistische Ausbeutung, seine fortlaufende Opposition gegen jede Erscheinung der Klassen-Kollaboration, seine beispielhafte Führung der Anti-Kriegs-Bewegung und seine Herausforderung des rechten Labour-Flügel (und dessen kompromisslosen Widerstand gegen Corbyns Bemühungen) leugnet, nur schwerlich von der heutigen Labour Party behaupten kann, sie würde von Reaktionären geführt werden. Selbstverständlich gibt es einen heftigen innerparteilichen Kampf, der zurzeit wegen Corbyns Popularität, der Anziehungskraft des Wahlprogramms der Partei und des großen Zuwachses an Unterstützung bei Wahlen, ruhig gestellt ist. Worauf es ankommt ist, dass es niemals einen Moment gegeben hat, in dem der Zugriff der klassischen rechten sozialdemokratischen Tendenz innerhalb der Partei und unter den Menschen mehr marginalisiert war als heute.

Man fragt sich, was die folgerichtige Taktik der von In defence of Communism vorgeschlagenen Linie gewesen wäre. Etwa Jeremy Corbyn in exakt dem Moment, in dem die Rechte in seiner eigenen Partei, die bürgerlichen Medien und der Klassenfeind ihre Versuche verstärkten, ihn zu isolieren, für seinen in der Phantasie seiner »linken« Kritiker schon antizipierten Verrat an seinem eigenem Programm attackieren?! Die Wahrheit ist, dass wir mit einer beispiellosen Situation konfrontiert sind, in der eine Krise der bürgerlichen Herrschaft mit einer Situation zusammenfällt, in der die politische Glaubwürdigkeit der rechten Sozialdemokratie in ihrer momentanen neoliberalen Form, die »New Labour« der Tony-Blair-Tendenz, vollständig diskreditiert ist und Millionen von arbeitenden Menschen in der Herausforderung dieser diskreditierten Politik eine Möglichkeit erblicken, ein ›historisches Subjekt‹ zu werden. Es ist auch jetzt gültig, was Lenin in seinen »Briefen über die Taktik« 1917 sagte: »Jetzt gilt es, sich die unbestreitbare Wahrheit zu eigen zu machen, daß der Marxist mit dem lebendigen Leben, mit den exakten Tatsachen der Wirklichkeit rechnen muß, statt sich an die Theorie von gestern zu klammern, die, wie jede Theorie, bestenfalls nur das Grundlegende, Allgemeine aufzeigt und die Kompliziertheit des Lebens nur annähernd erfaßt.« (LW Band 24, S. 27f.)

Die britischen Kommunisten arbeiten unter schwierigen Umständen, unter im Moment zwar für sie nicht physisch gefährlichen Bedingungen, aber mit komplexen ideologischen Herausforderungen, die in einem Land entstehen, das die zweitstärkste der klassischen imperialen Mächte ist. Kurzfristig ist es unser Projekt, Wege zu finden, durch die die Arbeiterklasse wieder in ihrem eigenen Interesse die politische Arena betreten kann. Wege zu finden, in denen die Kräfte, die durch die sich entwickelnde Krise des kapitalistischen Gebildes mit ihren charakteristischen Merkmalen aufgeworfen wurden, beginnen können, die bürgerliche Hegemonie herauszufordern, Branchen- und Klassenkämpfe zu gewinnen, die grundlegenden Klassenorganisationen zu stärken und das Potential einer neuen Lebensweise zu sehen. Wir tun dies nicht für zeitweiligen Fortschritt innerhalb des Kapitalismus oder für stückweise Reformen, so wertvoll diese auch sein mögen, sondern um die Kräfte aufzustellen, die die Diktatur des Kapitals beenden können, wie es durch die vielen Jahrzehnte, in denen wir mit wechselndem Erfolg gegen die Zwillingsgefahren des Revisionismus und des Dogmatismus gekämpft haben, bewiesen wurde.

Dass unsere umfassenden Kämpfe einen wahlpolitischen Anteil haben, ist eine grundlegende Lektion, die wir von Lenin gelernt haben und die gebildeteren von unseren Kritikern könnten Lenins Argumente hierzu aus »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« lehrreich finden… Wie er 1902 in »Was tun?« sagte: »… das Ganze des politischen Lebens ist eine endlose Kette, die aus einer unendlichen Anzahl von Verbindungen besteht. Die ganze Kunst der Politik liegt im Finden und stärkstmöglichen Ergreifen des Bindeglieds, das uns am schwierigsten aus der Hand gerissen werden kann, das eine, das im gegebenen Moment am wichtigsten ist, das eine, das den Besitzern eines Bindegliedes den Besitz der ganzen Kette garantiert.« (LW Band 5, S. 521f.)

Natürlich gibt es keine Garantie, dass das gegenwärtige Niveau der Klassenwidersprüche nicht in Konfusion und Niederlage, oder Kompromiss und Rückzug aufgelöst wird. Aber es gibt alles zu erkämpfen und das werden wir lieber tun als an der Seitenlinie zu stehen. Das momentane Stadium des Kampfes ist von einer noch nie da gewesenen Mobilisierung neuer, vor allem junger Kräfte gekennzeichnet, von Zeichen des Wiedereintritts organisierter Kontingente der Arbeiterklasse in direkte Konfrontation mit den Unternehmern und dem Staat, von Ideen, die die herkömmlichen Auffassungen bürgerlicher Konformität zunichtemachen. Es kann nicht anders sein, wenn Arbeiter und bedeutende Teile der Mittelschichten eine Verschlechterung ihres Lebensstandards, eine Wohnungs-, Gesundheits- und Bildungskrise und schlechtere Aussichten für jede neue Generation erleben. Es kann nicht anders sein, wenn Millionen in Massenaktionen gegen den imperialistischen Krieg und die Austeritätspolitik hineingezogen wurden.

All diese Faktoren verlangen von den Revolutionären die äußerten Anstrengungen, um enge Verbindungen mit diesen Kräften zu entwickeln. Wir streben fortlaufend danach, den größtmöglichen Einfluss auf das Geschehen auszuüben, unterstützt von unserer Tageszeitung, dem Morning Star, für den Jeremy Corbyn ein regelmäßiger Beitragsschreiber war, bevor er der Vorsitzende der Bewegung »Stop the War« wurde. Wir wissen, dass wir kein Monopol auf die Weisheit besitzen, aber wir kennen unsere Arbeiterklasse. Wir streben danach, den Marxismus-Leninismus auf die konkreten Bedingungen, in denen wir uns wiederfinden, anzuwenden und, wie Lenin es uns auferlegte, das Folgende zu vermeiden: »Geradlinigkeit und Einseitigkeit, Erstarrung und Verknöcherung, Subjektivismus und subjektive Blindheit, voilà die erkenntnistheoretischen Wurzeln des Idealismus.« (LW Band 38, S. 344.) Übersetzung: Gerrit Brüning

Frankreichs veränderte politische Landschaft

Georg Polikeit

Die Präsidenten- und Parlamentswahl 2017 in Frankreich bieten für eine Nachwahl-Betrachtung vor allem in zwei Punkten Anschauungsmaterial, das auch außerhalb Frankreichs Stoff zum Nachdenken liefern kann.

Ein Erdrutsch

Das ist erstens die Wahrnehmung, wie schnell sich auch im Rahmen bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse weitgehende Veränderungen in einer gegebenen politischen Landschaft vollziehen können.

40 Jahre lang hatten sich zwei Hauptparteien an der Staatsspitze und Regierung abgewechselt und die Geschäfte des französischen Kapitalismus geführt: die rechtskonservativen »Republikaner« (»Les Républicains«) und die sozialdemokratische »Parti Socialiste« (PS). Nun wurde dieses Machtkartell im Ergebnis der beiden Wahlen im Mai und Juni ziemlich unerwartet aus seinen dominanten Führungspositionen an den Rand des politischen Geschehens verdrängt. Sowohl die »Konservativen« wie die »Sozialisten« waren nicht mehr in der Lage, bei der Präsidentenwahl ihren Kandidaten noch zu einer Präsenz im zweiten Wahlgang zu verhelfen.

Bei der Parlamentswahl kamen die »Republikaner« nach dem desaströsen Abschneiden ihres von Korruptions- und Betrugsaffären beschädigten Kandidaten Fillon bei der Präsidentenwahl nur noch auf 15,77 %. Das brachte 82 Abgeordnete weniger als bei der letzten Wahl.

Noch schlimmer erging es den Sozialdemokraten. Ihr offizieller Kandidat Benoît Hamon erreichte bei der Präsidentenwahl, obwohl er sich als »Frondeur«, also als Gegner des neoliberalen Kurses von Präsident Hollande profiliert hatte, nur noch 6,4%. Bei der Parlamentswahl kam die PS nur noch auf 7,4%, gegenüber 29,4% im Jahr 2012 – und nur noch 30 Sitze im Parlament, gegenüber 280 vor fünf Jahren. 250 führende PS-Leute verloren ihren Job, und mit ihnen hunderte Assistenten. Praktisch ist die Partei nach fünf Jahren Hollande am Boden zerstört. Gegenwärtig versucht nach dem Rücktritt ihres Generalsekretärs Cambadélis eine kommissarisch eingesetzte 16-köpfige Parteiführung, die Restbestände zu verwalten und möglichst bei der Stange zu halten. Ob diese Partei aber in ihrer bisherigen Gestalt als »Parti Socialiste« noch eine Zukunft hat, ist offen. Ein erheblicher Teil der rechtssozialdemokratischen Abgeordneten, die Hollandes neoliberale und antisoziale Politik getragen hatten, ist in das Lager des neuen Staatschefs Macron übergelaufen, darunter Hollandes Regierungschef Valls. Aber auch ihr Präsidentschaftskandidat Hamon ist aus der PS ausgetreten und hat eine eigene »Bewegung des 1. Juli« gegründet. Auch was aus ihr wird, ist völlig unklar.

Um das ganze Ausmaß dieser Veränderungen zu erfassen, sollte man sich mal vorstellen, dass bei der kommenden Bundestagswahl in Deutschland die CDU/CSU auf unter 20% abfällt und die SPD auf 7 bis 8% abstürzt, sodass beide nicht mehr in der Lage wären, in die nächste Bundesregierung zu kommen, auch beide zusammen nicht als »Große Koalition«. Das wäre ein politischer Erdrutsch ohnegleichen. Kaum vorstellbar, welche Folgen das für die weitere Gestaltung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse hätte und welche kontroverse Debatten es auslösen würde.

Ein unerwarteter Aufstieg

Das zweite, vielleicht noch wichtigere politische Merkmal, das die letzten französischen Wahlen kennzeichnet, ist der rasche Aufstieg von »neuen Bewegungen«, die es bisher nicht gab und die ebenfalls ziemlich unerwartet große Wählermassen um sich scharen konnten.

Das gilt sowohl für den strahlenden Wahlsieger Emmanuel Macron und die von ihm ins Leben gerufene Bewegung »En marche« (mittlerweile in »La République en marche!« (LRM) umbenannt) wie für die von dem Linkssozialisten Jean-Luc Mèlenchon initiierte Bewegung »La France Insoumise« (abgekürzt FI wie der gleichlautende griechische Buchstabe φ, den sie zu ihrem Symbol gemacht hat, etwa mit »Das widerspenstige Frankreich« übersetzbar, wörtlich eigentlich »das ununterworfene Frankreich«).

Noch vor einem Jahr hätte wohl kaum jemand große Summen darauf gewettet, dass Macron die Präsidentenwahl gewinnen werde. Der Ex-Rothschild-Banker, von Hollande zum Wirtschaftsberater und 2014 zum Wirtschaftsminister gemacht, hatte zwar im April 2016 die Gründung einer eigenen Bewegung »En marche!« verkündet und war im August aus der Regierung zurückgetreten. Aber erst im November gab er endgültig seine eigenständige Kandidatur zur Präsidentenwahl als »unabhängiger Kandidat« außerhalb des bestehenden Parteienspektrums bekannt. Allerdings genoss er eine ziemlich wohlwollende Behandlung in den Medien und offensichtlich auch beträchtliche finanzielle Förderung aus Unternehmerkreisen.

Nur fünf Monate später und nach einem nicht einmal besonders spektakulären Wahlkampf erreichte Macron beim ersten Wahlgang der Präsidentenwahl am 23. April mit 8,6 Millionen Stimmen und 24% den ersten Platz. Auch die Rechtsextremistin Marine Le Pen vom »Front National« (FN), der zuvor häufig Platz 1 zugeschrieben worden war, verwies er mit 21,3% auf die zweite Stelle. Übrigens ist es einer der erfreulichsten Aspekte der Wahlen, dass der FN nicht nur bei der Präsidentenwahl scheiterte, sondern auch bei der Parlamentswahl nur auf 13,2% und 8 Abgeordnete kam, weit weniger als ewartet. Deshalb wird beim FN nun über eine »völlige politische Neuformierung« gestritten, die auch eine Namensänderung einschließen könnte. Dennoch ist keine Entwarnung angesagt: die rechtsextremistische Formation bleibt weiter eine nicht zu unterschätzende Gefahr.

Mit Macrons Ergebnis im ersten Wahlgang war sein Wahlsieg bei der Stichwahl am 7. Mai praktisch gesichert. Denn nach dem französischen Mehrheitswahlrecht werden nur die zwei Bestplatzierten aus dem ersten Wahlgang dazu zugelassen. Millionen Wählern blieb also nur die Wahl, Macron die Stimme zu geben, um einen Wahlsieg von Le Pen zu verhindern.

Aber auch die nachfolgende Parlamentswahl gewann Macron mit seiner Bewegung LRM bravourös. Vor dem Hintergrund eines drastischen Rückgangs der Wahlbeteiligung auf nur noch 47,6% kam Macrons LRM auch hier im ersten Wahlgang mit 28,2% auf den ersten Platz. Im zweiten Wahlgang konnten die »Macronisten« in 306 von 577 Wahlkreisen den Sieg erringen. Zusammen mit den 40 Abgeordneten des liberalen MODEM, das mit Macron ein Wahlbündnis abgeschlossen hatte, hat der Staatschef damit in der Nationalversammlung eine satte Mehrheit von 346 Abgeordneten. Fast hätte es zur Zweidrittel-Mehrheit (384 Abgeordnete) gereicht.

Welches Erfolgsrezept hatte der Mann, der ein Jahr zuvor Millionen Franzosen noch kaum bekannt war?

Es wäre verkürzt, seinen Wahlerfolg nur auf die Gunst der Umstände, die Schwäche der Rechtskonservativen u.ä. zurückzuführen. Entscheidend für seinen Erfolg war wohl, wie er sich selbst mit Hilfe der Medien der Öffentlichkeit präsentierte. Er inszenierte sich als »junger Mann« (erst 40 Jahre alt) und »unabhängiger Kandidat«, der in das etablierte Parteiensystem nicht eingebunden ist. Er sei »weder rechts noch links«, sondern einfach ein »pragmatischer Modernisierer«, verkündete er, ein Kandidat, der die bestehenden Verhältnisse gründlich verändern will, um Frankreich wieder zu einem wirtschaftlichen Aufstieg und zu neuer Größe zu verhelfen.

Damit traf er offenbar genau die weitverbreitete Stimmung vieler Wählerinnen und Wählern, die nicht nur von den miserablen Ergebnissen der sozialdemokratischen Hollande-Regierung die Nase voll hatten, sondern auch das ganze etablierte Parteiensystem für verlogen und korrupt hält. Diese Stimmungslage in großen Teilen der Bevölkerung wurde ja auch in der enorm hohen Nichtwählerzahl sichtbar. Macrons sorgfältig gepflegtes »Anti-Establishment«- und »Anti-System«-Image griff den in weiten Teilen der Bevölkerung tief sitzenden Missmut auf, der sich aus dem verbreiteten Gefühl sich verstärkender wirtschaftlich-sozialer, ökologischer und politischer Krisenprobleme und zunehmender existenzieller Unsicherheit ergab. Macrons Auftreten entsprach dem tief verankerten Wunsch nach Veränderung der Verhältnisse, ohne dass damit genaue Vorstellungen verbunden gewesen wären, wie eine Alternative tatsächlich aussehen müsste. Es gelang Macron, mit seiner »Weder-rechts-noch-links«- und Anti-Establishment-Demagogie, diese Stimmung in weiten Bevölkerungskreisen für sich zu vereinnahmen und die Menschen über seine wahren Vorhaben hinters Licht zu führen.

Insofern ist Macrons Wahlsieg bei gleichzeitiger Verdrängung der bisherigen Führungsparteien aus ihren hegemonialen Positionen auch das Zeichen für eine »Krise der Politik«, für eine zunehmende politische Instabilität im System kapitalistischer Machtverhältnisse, Ausdruck eines Entwicklungstrends, der nicht nur in Frankreich zu beobachten ist.

»Linkspopulismus«?

Die zweite Erfolgsgeschichte bei den Wahlen war die des Linkssozialisten Jean-Luc Mélenchon und seine Bewegung »La France Insoumise« (FI). 2012 war er, damals Ko-Vorsitzender der von ihm gegründeten, öko-sozialistisch präsentierten »Linkspartei«, im Bündnis mit den Kommunisten (PCF) als Spitzenkandidat der »Linksfront« (Front de gauche) angetreten und auf 11,1% gekommen. Für 2017 hatte er jedoch schon im Februar 2016 bekanntgegeben, ohne vorherige Diskussion mit seinen bisherigen Bündnispartnern, dass er diesmal als »parteiunabhängiger« eigenständiger Kandidat zur Präsidentenwahl antreten wolle, was faktisch die Aufkündigung des Linksfront-Bündnisses mit der PCF und anderen linken Gruppen bedeutete.