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Analytische Psychologie C. G. Jungs in der Psychotherapie

 

Herausgegeben von Ralf T. Vogel

Monika Rafalski

Empfinden, Intuieren, Fühlen und Denken

Die vier psychischen Grundfunktionen in Psychotherapie und Individuation

Verlag W. Kohlhammer

Meinem geschätzten Lehranalytiker gewidmet, der mich in die vielfältige Welt der Grundfunktionen einführte.

 

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028412-8

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-028413-5

epub:   ISBN 978-3-17-028414-2

mobi:   ISBN 978-3-17-028415-9

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Abb. 1: Alles ist Eins

 

Dank

 

 

 

Dank an K. U. Adam für die Akzeptanz der Ergänzung seines wichtigen, bisher einzigen Grundlagenwerks zu den Funktionen, auf das ich mich stützen konnte. Dank meinen Kollegen für wertvolle Anregungen und allen Fortbildungsteilnehmern, aus deren Imaginationen mir so viele wunderbare Bilder zum archetypischen Hintergrund der Funktionen zuflossen. Dank allen Patienten, deren psychische Prozesse mir Einblicke in das biographische Schicksal ihrer Funktionen und in die Entfaltung von verletzten, verdrängten Funktionen gewährten. Bereichernd war besonders, die ›fremde Welt‹ anderer Funktionen-Konstellationen kennen zu lernen. Besonderen Dank auch an Frau A. Grupp, die das entstehende Buch so engagiert und hilfreich lektorierend betreute.

 

Geleitwort

 

 

 

In seiner 1920 verfassten Vorrede zu »Psychologische Typen« erläutert C. G. Jung den Ausgangspunkt seiner Typologie. Sie entspringe den »unzähligen Eindrücken und Erfahrungen« seiner ärztlichen Praxis, der »Auseinandersetzung mit Freund und Feind« und der »Kritik der psychologischen Eigenart« seiner selbst. Allen drei Säulen seines Konzepts liegen somit objektivierbare empirische Beobachtungen wie auch zutiefst subjektive Faktoren zugrunde. Sie beruhen auf Jungs Erfahrung, dass eine Reihe von Schwierigkeiten im Individuationsprozess wie auch in der Beziehungsgestaltung offenbar nicht auf pathologische Gründe zurückzuführen ist, sondern auf typische psychische Unterschiede zwischen den Menschen. Nicht zuletzt waren seine eigenen Erfahrungen im unumkehrbaren Zerwürfnis mit Sigmund Freud wahrscheinlich eine zentrale Motivation, sich mit diesen Fragen der persönlichen Passung zu beschäftigen. Die daraus resultierende Typologie wurde eine Erfolgsgeschichte der Analytischen Psychologie. Begriffe wie Introversion und Extraversion sind längst in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, das Konzept wird modifiziert in der modernen Personal- und Organisationsentwicklung eingesetzt, und es findet auch noch ein Jahrhundert nach seiner Entstehung praktische Anwendung in tiefenpsychologischen und psychoanalytischen Behandlungen.

Doch bereits im 1937 verfassten Vorwort zur 7. Auflage des Werks äußert C. G. Jung die Hoffnung, dass sein Buch Ergänzungen und Verbesserungen erfahren solle, die Untersuchungen erweitert und die begonnene praktische Anwendung in der therapeutischen Arbeit Berücksichtigung finde.

Mit ihrem nun vorgelegten Beitrag zu den psychischen Grundfunktionen erfüllt Monika Rafalski genau diese Anliegen, indem sie die moderne Entwicklung aufzeigt, weg von einer traditionellen, mitunter einengenden Festlegung auf Typen mit sog. Hauptfunktionen, hin zu einem flexiblen Umgang mit den vier psychischen Grundfunktionen, die der Orientierung und zentrierenden Ausrichtung des Ichs dienen. Ihre Ausführungen sind die Quintessenz einer langen therapeutischen Erfahrung und Anwendung des ursprünglichen Konzepts der psychischen Grundfunktionen, aber auch einer intensiven theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema und seiner ganz eigenständigen und originellen Weiterentwicklung in der Lehre an zahlreichen deutschsprachigen und internationalen Instituten der Analytischen Psychotherapie. So kann der Text als Lehrbuch zum Verständnis der psychologischen Grundfunktionen dienen, lässt aber gleichzeitig den Leser das Oszillieren zwischen den verschiedenen Qualitäten des Empfindens, Intuierens, Fühlens und Denkens unmittelbar erleben. Es ist gelungen, die Funktionen eng eingebunden in einen philosophischen und wissenschaftlichen Kontext zu formulieren, aber ihre Darstellung auch mit den jeweiligen Qualitäten zu verbinden, was ganz besonders deutlich bei der Fühlfunktion wird, wo die Zitate tatsächlich beim Lesen direkt etwas von der Qualität der Funktion vermitteln. Auch für die Denkfunktion – bei aller Kritik an ihrem Übergewicht infolge einer falschen Auslegung in unserer Zeit – wird ein differenziertes Verständnis entwickelt, das weit über die üblichen Betrachtungen hinausgeht. In dieser Form und Dichte wurde das Thema bisher noch nicht beschrieben.

Es finden sich zahlreiche Amplifikationen und Verweise auf bildhafte, symbolische, mythologische und erzählende Bezüge neben einem sehr präzisen Umgang mit den Begrifflichkeiten und einer Einordnung in den historischen, kulturellen und geistesgeschichtlichen Kontext. Daraus ergeben sich immer wieder ganz überraschende Einsichten bis hin zu wichtigen Beiträgen zur aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion und Konsequenzen, die aus vereinseitigten Perspektiven auf die Polarität von Gesundheit und Krankheit resultieren können.

Nicht zuletzt wird ausführlich auf die therapeutische Anwendung eingegangen. Anhand anschaulicher praktischer Beispiele und eigens entwickelter Methoden wird aufgezeigt, wie der Zugang zur individuellen Ausrichtung der psychischen Grundfunktionen diagnostisch und therapeutisch genutzt werden kann. Gerade mit diesem Beitrag gelingt es, eine wichtige Lücke in der Literatur zu C. G. Jungs Funktionenlehre zu schließen und den Anschluss eines fast hundert Jahre alten Konzepts an den aktuellen Erkenntnisstand und die Erfordernisse einer modernen Tiefenpsychologie herzustellen. »Empfinden, Intuieren, Fühlen, Denken. Die vier psychischen Grundfunktionen in Psychotherapie und Individuation« wird daher für Therapeuten wie für Studierende und Lehrende und alle an der Tiefenpsychologie Interessierten eine Bereicherung sein.

 

Konstantin Rößler, Februar 2017

 

Inhalt

 

 

 

  1. Dank
  2. Geleitwort
  3. Teil I: Grundsätzliches
  4. Einstimmung
  5. 1 Das dynamische Zusammenspiel der vier Grundfunktionen
  6. Das Modell
  7. Quaternio: Symbol der Ganzheit
  8. Polares Verbundensein der Grundfunktionen
  9. Fünfter Pol: Ich-Bewusstsein als Quinta Essentia
  10. Historischer und symbolischer Hintergrund des Modells
  11. Relevanz für Individuation und Psychotherapie
  12. 2 C. G. Jungs Typologie – Ausgangspunkt
  13. Jungs Intention
  14. Missverständnisse
  15. Teil II: Darstellung der einzelnen Funktionen
  16. 3 Die wahrnehmende Dimension
  17. 3.1 Die Empfindungsfunktion
  18. Exkurs: Gestaltgesetze
  19. Reichtum, Vielfalt der Sinne
  20. Therapeutische Relevanz
  21. Kreativität – Synästhesien
  22. Wahr-nehmend – nicht wertend
  23. Symbolik
  24. Symbolik der einzelnen Sinne
  25. Empfindungsfunktion und Spiritualität
  26. Kollektives Schicksal der Empfindungsfunktion
  27. 3.2 Die Intuitions-Funktion
  28. Ahnungsvermögen
  29. An der Schwelle zum Unbewussten
  30. Charakteristika und Symbole
  31. Quelle von Ideenreichtum
  32. Die Intuition in anderen Wissenschaftsbereichen
  33. Gefahren der Intuition
  34. Nähe zu Komplexfeldern
  35. Intuition und Spiritualität
  36. 4 Urteilende Dimension
  37. 4.1 Fühl-Funktion
  38. Einstimmung
  39. Adäquater Ausdruck
  40. Rehabilitierung des Fühlens
  41. Fühlen und wissenschaftliche Erkenntnis
  42. Umschreibung der Fühlfunktion
  43. Konkretes und autonomes Fühlen
  44. Integrationsfähigkeit
  45. Ständiges Fließen
  46. 4.1.1 Aspekte des Fühlens
  47. Affekt
  48. Psychischer Kern – somatisches Erleben – symbolisches Bild
  49. Ergriffen-Sein – dissoziierende Wirkung
  50. Affekt und Komplex
  51. Therapeutische Zugänge
  52. Emotion
  53. Die ›verlorene‹ emotionale Energie
  54. Emotion zwischen Affekt und Gefühl
  55. Mittler zwischen Bewusstsein und Unbewusstem
  56. Stimmung
  57. Zeitalter der ›Empfindsamkeit‹
  58. Ursprung in der Musik
  59. Vielfalt der Stimmungen
  60. Kollektiver Schatten ›Stimmungsmache‹
  61. Gefühl
  62. Fühlgedächtnis – archetypische Dimension
  63. Nähe zum Bewusstsein
  64. 4.1.2 Beziehungsfunktion Fühlen: Verbundenheit
  65. Gefahren der verdrängten Fühlfunktion
  66. 4.1.3 Spiritualität der Fühlfunktion
  67. Zentrales Symbol Herz
  68. Alchemie des Herzens
  69. Das Herz in der christlichen Religion
  70. Maria – Bild der Gefasstheit
  71. 4.1.4 Therapeutische und gesellschaftliche Relevanz
  72. 4.2 Denkfunktion
  73. Eingrenzung
  74. Verallgemeinerung – Verlust des Werts
  75. 4.2.1 Die Denkfunktion in der Analytischen Psychologie
  76. Aktives und passives Denken
  77. Zur Kritik des mental-rationalen Denkens
  78. Ein umfassendes Verständnis des Denkens
  79. Wert und Potential der Denkfunktion
  80. 4.2.2 Reflexion verschiedener Denkweisen
  81. Denkstil – Denkkollektiv – Denkzwang
  82. Therapeutische Relevanz
  83. Historische Grundlagen
  84. Ursprünge abendländischen Denkens
  85. Entwicklung des rationalen Denkens
  86. »Die Schule von Athen« – Traditionen des Denkens
  87. Der griechische Begriff ›noein‹
  88. Denken in anderen Wissenschaften
  89. 4.2.3 Wert der Denkfunktion
  90. Erneuerung des Denkens
  91. Symbolik der Erneuerung
  92. 4.2.4 Gefahren der Denkfunktion
  93. Therapeutische Relevanz
  94. Dämonie des kalten, berechnenden Denkens
  95. Epilog
  96. 4.2.5 Denken und Spiritualität
  97. Teil III: Die Grundfunktionen und ihre Einstellungsmodi
  98. 5 Die polaren Einstellungsmodi der Grundfunktionen: Introversion – Extraversion
  99. Libido
  100. Introvertierte und extravertierte Einstellung
  101. Exkurs: Terminologie
  102. Individuelle Funktionenkonstellation
  103. Zusammenspiel der vier Funktionen
  104. Selbstregulation – therapeutische Relevanz
  105. Grundfunktionen im Traum
  106. Vorstufen der Einstellungsmodi
  107. 5.1 Introvertierter Einstellungsmodus
  108. Subjektiver Faktor
  109. Verbindung mit dem Selbst
  110. Die archetypische Dimension
  111. Jungs Vision vom Grünen Mann
  112. ›Schicksale‹ der introvertierten Funktionen
  113. Schöpferisches Potential
  114. Notwendiger Freiraum
  115. Charakteristika
  116. Individualwert: Regeneration und Selbstbegegnung
  117. Therapeutische Relevanz
  118. Kultureller Wert
  119. 5.2 Extravertierter Einstellungsmodus
  120. Relativ objektiv
  121. Unabhängig vom Subjektiven Faktor
  122. Orientiert am Kollektiv
  123. ›Lust auf Welt‹
  124. Verlust der Freiheit
  125. ›Umfunktioniert‹ zu Abwehr
  126. Gefahren
  127. 5.3 Diskussion der Merkmale
  128. Ausgangspunkt
  129. Zwei verschiedene Perspektiven der Beschreibung
  130. Introvertierte Funktionen
  131. Extravertierte Funktionen
  132. Überblick
  133. 5.4 Introvertierte und extravertierte Modi im Verlauf der Geschichte
  134. 5.5 Missverständnisse
  135. Therapeutische Relevanz
  136. 6 Phänomenologie der Funktionen in ihrer jeweiligen Einstellung
  137. Imagination: »Die Schlammpfütze«
  138. 6.1 Introvertiertes Empfinden
  139. Vorbemerkungen
  140. Geht unter die Haut
  141. Tiefendimension – der Geist der Materie
  142. Traumtexte
  143. Zeiterleben – Eigenzeit
  144. 6.2 Extravertiertes Empfinden
  145. Relativ objektiv
  146. Differenzierungsfähigkeit
  147. Extravertiertes Empfinden im Traum
  148. Interpretation zur Imagination »Schlammpfütze«
  149. 6.3 Introvertiertes Intuieren
  150. Zugang zum persönlichen Mythos
  151. Traumserie
  152. 6.4 Extravertiertes Intuieren
  153. Orientierung in der Zeit
  154. 6.5 Introvertiertes Fühlen
  155. Paradoxie: Beziehung und Abstraktion
  156. Exkurs: Abstraktionstendenz des introvertierten Modus
  157. Tiefe
  158. Künstlerischer Ausdruck
  159. 6.6 Extravertiertes Fühlen
  160. Kollektivwert
  161. Gefahren
  162. 6.7 Introvertiertes Denken
  163. ›Schicksal‹ des introvertierten Denkens
  164. 6.8 Extravertiertes Denken
  165. Orientierung und Urteilsmaßstab
  166. Intention der Denkprozesse
  167. Stärken und Gefahren
  168. Teil IV: Ausblick
  169. 7 ›Schatten‹ und gegenseitige Ergänzung
  170. 8 Transformation – die ›Mittlere Ebene‹
  171. Integration der Tiefen-Funktion
  172. Therapeutische Relevanz
  173. 9 Das Rote Buch: »Amor triumphat – Das Rad der vier Funktionen«
  174. Literatur
  175. Stichwortverzeichnis

 

 

 

 

 

Teil I:   Grundsätzliches

 

Einstimmung

»Je näher wir uns kennen, umso geheimnisvoller werden wir einander.«

(A. Schweitzer)

Wie von selbst wird der Text – dem Thema und dessen innerer Dynamik entspringend – zu Selbstreflexion anregen. Er wird in allen Funktionen des Lesers1 ein Echo finden, indem er Einfälle, Gefühle, prüfende und kritische Betrachtungen hervorruft. Das kann zu vorübergehender Irritation führen, wie eine Ausbildungsteilnehmerin formulierte: »Ich kam mir am Anfang vor, wie ein Tausendfüßler, der seine Beine beobachtet und verwechselt!« Logik allein verhilft nicht zum Ausweg aus dem Dilemma. Damit würde das Gefühl durch Denken abgewehrt und die Irritation ihres erkenntnisfördernden Impulses beraubt. Denn der »›unsichere‹ Weg ist der vielversprechende und fruchtbare und ist zugleich der einzige, welcher der Wahrheit gegenüber offen und empfänglich bleibt. … Diese ›Ungesichertheit‹ bedeutet – trotz des scheinbaren Widerspruchs – zugleich Freiheit, dadurch Beziehung und Sinn zu gewinnen.« (Fröbe-Kaptayn, 1950, S. 10). Mit dieser Feststellung beschrieb Fröbe-Kaptayn das Anliegen der von ihr und Jung begründeten Eranos-Tagungen. Und Khalil Gibran formuliert: »Sich verwirrt zu fühlen, ist der Anfang des Wissens.« Diesem offenen Geist fühlt sich dieser Text verpflichtet und möchte ermutigen, sich darauf einzulassen.

Tatsächlich kann die Irritation einen unschätzbaren, unerwarteten Wert entfalten, wenn sie ausgehalten wird. Gelingt es, sich unbelastet mit dem Thema zu befassen, so macht sie immer interessanteren Einblicken in ein tieferes Selbst- und Fremdverständnis Platz, indem die eigene Funktionen-Konstellation bewusst wird. Dabei werden auch die eigenen Grenzen konturierter als gewohnt und konfrontieren mit der subjektiven Bedingtheit des eigenen Wahrnehmens und Urteilens. Und sie erhellen, dass die Erlebensweise unseres Nächsten völlig anders geartet sein kann als die eigene, und nicht aus eigener Erfahrung, sondern nur durch Reflexion und wertfreie Akzeptanz des Anders-Seins erschlossen werden kann. Wie der Kleine Prinz leben wir auf unserem eigenen Planeten und müssen durch den Weltraum reisen, um unseren Nachbarn auf dem seinen zu besuchen.

Daraus kann Bescheidenheit und Offenheit für die Andersartigkeit unseres Nächsten erwachsen und die Bereitschaft, sich auf seinen Erfahrungs- und Erkenntnisprozess einzulassen. Diese Bescheidenheit hatte Jung im Sinn, wenn er sagte: »Da … alles Lebendige immer nur in individueller Form vorkommt, und ich über das Individuelle des anderen immer nur das aussagen kann, was ich in meinem Individuellen vorfinde, so stehe ich in Gefahr, den anderen zu vergewaltigen oder selber dessen Suggestion zu erliegen. Ich muss daher …, insofern ich überhaupt einen individuellen Menschen psychisch behandeln will, auf alles Besserwissen … verzichten. Ich muss notwendigerweise ein dialektisches Verfahren einschlagen, welches nämlich in einer Vergleichung der wechselseitigen Befunde besteht.« (Jung, GW 16, § 2)

Um den in der Irritation verborgenen Wert sich entfalten zu lassen, müssen wir den Weg weitergehen, wie Kleist es in einem Gespräch über Grazie seinem Tänzer in den Mund legt: »wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, (findet sich) die Grazie wieder ein«, die dem Menschen im Verlauf seines Bewusstwerdens verloren gegangen war (Kleist, 1964, S.75). Was wir auf diesem Weg u. a. gewinnen, ist die Gewissheit, so einmalig sein zu ›dürfen‹, wie wir es sind.

1     Um der Vereinfachung willen wird hier nur die jeweils männliche Form verwendet, natürlich sind immer Frau und Mann gemeint. Wir bitten um Nachsicht für diese formale Einseitigkeit.

 

1          Das dynamische Zusammenspiel der vier Grundfunktionen

 

 

 

Die weitreichenden Impulse, die von dem Begründer der Analytischen Psychologie ausgingen, wirken in vielerlei Richtungen fort und werden durch seine Nachfolger aufgegriffen und weiterentwickelt. Aus Jungs typologischen Studien zu den vier Grundfunktionen wurde ein Modell entwickelt, welches die Dynamik des Zusammenspiels aller vier Funktionen ins Zentrum des Interesses stellt.2) Es veranschaulicht das komplexe, dynamische System der vier Grundfunktionen in seiner Mehrdimensionalität. Es ist ein System vernetzter, komplementärer Entitäten psychischer Struktur und Energie, dessen innere Ordnung durch ihre wechselseitigen Beziehungen hervorgerufen wird, die als Relationen, nicht als Kausalitäten wirken. Es ist getragen von innerer Gesetzmäßigkeit, die mit dem Prinzip energetischen Gleichgewichts, Komplementarität und Selbstregulation zusammenhängt. Um mit dem System zu arbeiten, ist eine dynamische Sichtweise angebracht, die kontextuell denkt, um prozessuale, komplexe Phänomene zu erkennen, und sich selbstreflexiv darauf einlässt.

Diese dynamische und ganzheitliche Sicht von Empfinden, Intuieren, Fühlen und Denken in ihrem Zusammenspiel entstand innerhalb der Analytischen Psychologie durch Erfahrungen bei Therapie- und Individuationsprozessen, indem die Essenz von Jungs frühen typologischen Forschungen in das Bezugssystem gebracht wurde, das erst in seinem Spätwerk deutlich wird. Das Modell basiert auf dem essentiellen Wissen, dass der psychische Lebensentwurf von Geburt an auf Verwirklichung der persönlichen Ganzheit eines Menschen angelegt ist, wie etwa in dem antiken Motto »Werde, der du bist« formuliert ist. Bezüglich der Grundfunktionen heißt das, dass jede dieser Funktionen ihrer Anlage gemäß belebt und zu differenziert werden will.

Das Modell

Empfinden, Intuieren, Fühlen und Denken sind grundsätzlich voneinander unterschiedene Grundfunktionen der menschlichen Psyche. Unter energetischem Aspekt betrachtet sind sie unterschiedliche Erscheinungsformen der Libido, unter strukturellem Aspekt gesehen sind sie psychische Strukturen des Ich-Bewusstseins, die im Unbewussten wurzeln. Sie entwickeln sich von Geburt an aus den bereits vorgeburtlich angelegten Keimen in Wechselwirkung mit dem jeweiligen Lebensumfeld und Beziehungsnetz. Jede Funktion enthält den energetischen Entwicklungsimpuls, sich der Ganzheitstendenz der Psyche entsprechend im Verlauf des Lebens zu entfalten und ist lebenslang differenzierbar. Durch die Wechselwirkung von angeborener individueller Konstellation und Einflüssen des Umfelds hat jede ihr ganz spezifisches Funktionen-Schicksal, das in komplementärer Beziehung zu den übrigen Funktionen und deren Schicksal steht.

Quaternio: Symbol der Ganzheit3

»Vier Elemente

Innig gesellt

Bilden das Leben

Bauen die Welt.«

(F. Schiller)

Die vier Grundfunktionen sind Grundlage des Ich-Bewusstseins und dienen ihm, sich gemäß seinen subjektiven Gegebenheiten in der inneren und äußeren Welt zu orientieren. Sie ermöglichen dem Einzelnen, die inneren und äußeren Gegebenheiten durch zwei Funktionen (Empfinden und Intuieren) wahrzunehmen, und das Wahrgenommene durch zwei wertende Funktionen (Fühlen und Denken) zu beurteilen. Sie wirken in einem gegenseitigen Ergänzungs-, Kompensations- oder auch Abwehrverhältnis zusammen und sind nicht aufeinander reduzierbar, denn jede Funktion hat ihre eigene Qualität, Dimension, ihren eigenen Inhalt und Erlebensraum, ihr eigenes Gedächtnis. Eine Funktion kann zwar durch andere umschrieben und beschrieben, nicht aber ersetzt oder wesensgemäß verstanden werden. Die Gestaltungen, nicht aber das Wesen einer Funktion, sind durch die anderen Funktionen zu verstehen. So kann z. B. das Wesen des Fühlens nur durch das Fühlen verstanden werden.

»Diese Behauptung steht in …Widerspruch zu der herrschenden Anschauung von der geistigen Allmacht des alles begreifenden Verstandes … Wissenschaftliches Denken kann ein Kunstwerk, also das Ergebnis der Tätigkeit der empfindenden Funktion, einer Betrachtung von allen möglichen Standpunkten aus … unterwerfen … Wer aber behauptet, dass … die Denkfunktion, auch das Wesen und Funktionieren der Empfindung verstehen und begreifen kann, der muss auch das Umgekehrte zugeben und ist dann eingeladen, sich die Möglichkeiten einer Darstellung der … Abstammungstheorie als Sonate oder der Jungschen Funktionenlehre als Wandteppich auszumalen … Die Lehre von den vier Funktionen zeigt uns nicht nur, dass der Mensch diese vier Funktionen als vier verschiedene Möglichkeiten, auf die Umwelt zu reagieren besitzt, sondern vor allem, dass sie zur Ganzheit Mensch gehören und in jedem Augenblick zugleich lebendig sind, wenn auch die Betonung wechseln mag.« (v. Cammerloher, 1934, S. 480)

Der Versuch, die vier Funktionen auf nur eine oder zwei zurück zu führen, dem heutigen Zeitgeist entsprechend etwa auf Sinneswahrnehmung und Denken, ist reduktionistisch, führt zur Einengung des Bewusstseins und blockiert die Entfaltung der psychischen Ganzheit. Dennoch ist im herrschenden kollektiven Bewusstsein die Tendenz verbreitet, ausschließlich Inhalte des Denkens oder der Empfindungsfunktion als ›real‹ anzusehen, Inhalte des Fühlens und der Intuition dagegen als ›irreal‹ und ›subjektive Einbildung‹, womit diesen Grundfunktionen keine eigenständige Bedeutung zuerkannt wird. Tatsächlich ist jede Funktion in ihrer spezifischen Weise auf subjektiv und objektiv Gegebenes bezogen und stellt eine Verbindung her zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Bewusstsein und Unbewusstem zwischen Ich und Selbst.

Die Vierzahl (Quaternio)der Grundfunktionen ist Ausdruck der archetypischen Ordnungsstruktur der Ganzheit, die grundsätzlich aus vier unterschiedlichen Komponenten besteht. Sie bildet die Basis des Ich-Bewusstseins und kann von ihm reflektiert und entwickelt werden. Die Zahl Vier diente seit Beginn der menschlichen Entwicklung zur Orientierung in der Welt, sie ist eines der ältesten Ordnungsschemata, das die Menschheitsgeschichte kennt (vgl. Jung GW, 14 / I, § 255). Bereits in der Altsteinzeit wurde das gleichseitige Kreuz der Weltachsen in Stein graviert als Symbol des vierfach strukturierten Weltganzen. Später wurde das kreuzförmig unterteilte Viereck zum universellen Ideogramm des Grundprinzips der Weltordnung.

Die Archäologin König hierzu:

»Die Vier bildete einen großen Zuwachs an bestimmenden Ordnungen … Da Kosmos und Mensch noch nicht differenziert gedacht wurden, ergab die Vier zugleich ein ungeschriebenes Gesetz für das geistig-sittliche Verhalten und kann vielleicht als Archetyp angesprochen werden … Da die geistige Genese durch diese Grundprinzipien bestimmt wurde, … bekam sie durch diese Weltordnung ein bestimmendes Gesetz mit auf den Weg. Das Einhalten der Vorschrift des rechten Winkels ist uns durch die Bautätigkeit der Neandertalerzeit überliefert worden.« (König, 1981, S. 43)

Grundlegende Voraussetzung dafür war die Aufrichtung des Menschen, Markstein der beginnenden Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Dadurch ergab sich die grundlegende Strukturierung des Raumes in vorne, hinten, rechts und links, ausgehend vom menschlichen Körper als Zentralachse.

»Diese Erfahrung des um einen ›Mittelpunkt‹ orientierten Raumes erklärt die Gliederungen und exemplarischen Unterteilungen von Territorien, Siedlungen und Wohnstätten, wie auch ihren kosmologischen Symbolismus.« (Eliade, 1978, S. 15)

Schon in der Frühzeit zelebrierten die Menschen ›Riten der Orientierung‹, bei welchen ein heiliger Stab als Mittelpunkt für die Gliederung des Horizontes in vier Himmelsrichtungen aufgerichtet wurde. Seit den Anfängen der Kultur symbolisiert die Vier Ganzheit, Vollständigkeit, Vollendung in der materiellen Dimension, Zusammengehörigkeit und Ordnung. Sie spielt in allen Religionen eine besondere Rolle: Alle Paradiesvorstellungen enthalten vier Flüsse, die im Mittelpunkt entspringen und kreuzförmig angeordnet sind. Der Lebensbaum des Buddhismus hat vier Zweige. Den Pythagoräern galt die Vier als ›Heilige Zahl‹. Im Neuen Testament spielen vier Evangelien eine zentrale Rolle, sie stellen aus vier verschiedenen Blickwinkeln Leben und Wirken von Jesus dar. Psychologische Modelle bedienen sich ebenfalls der Vier, wie etwa das motivationspsychologische »Rubikonmodell« von Heckhausen, wonach eine Handlung in vier Phasen unterteilt ist. Jung widmete sein ganzes Lebenswerk der grundlegenden Bedeutung der Vier für die Bewusstseinsentwicklung der Menschheit. (vgl. v. Franz, 1980, S. 109)

Polares Verbundensein der Grundfunktionen

Das dynamische, variationsreiche und entwicklungsfähige System der vier Funktionen wird im modellhaften Bild des gleichseitigen Achsenkreuzes anschaulich. Letzteres ist eine der Figuren der Heiligen Geometrie, die im kollektiven Unbewussten seit frühester Zeit enthalten sind. Es ist universelles Symbol der Gegensätze des Lebens ist, die aus einer gemeinsamen Mitte entspringen und zu ihr zurückführen. In seiner individuellen Ausprägung bildet dieses strukturierte, energetische Feld die je persönliche Grundlage des Ich-Bewusstseins.

Die umgebende Uroboros-Schlange veranschaulicht die Ganzheit des Funktionensystems sowie den sich wiederholenden Kreisprozess der Differenzierung und Wandlung der Funktionen (image Abb. 2). Das Auge in der Mitte repräsentiert das Ich-Bewusstsein als übergeordnete Instanz, die – idealerweise – frei über sie verfügt. Eine Achse bildet die Fähigkeit ab wahrzunehmen mit den Polen des sinnlich- konkreten Empfindens und dem übersinnlich-immateriellem Wahrnehmen der Intuition. Sie wird ergänzt durch die Achse des Urteilens, die auf der vitalen Notwendigkeit beruht, das Wahrgenommene in seiner Bedeutung für das Individuum zu beurteilen. Sie besteht aus den komplementären Funktionen des Fühlens und Denkens. Schon auf vegetativer und animalischer Ebene sind diese

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Abb. 2: Modell der 4 Grundfunktionen. WA = Wahrnehmende Achse, UA = Urteilende Achse, E = Empfindungsfunktion, I = Intuition, F = Fühlfunktion, D = Denkfunktion

unterschiedlichen Vermögen vorhanden. Das Diagramm veranschaulicht die qualitative Gegensätzlichkeit der beiden Funktionspaare mit ihren jeweils komplementären Polen und ihre Verbundenheit im Schnittpunkt der Achsen in einem System, das auf energetisches Gleichgewicht ausgerichtet ist.

Fünfter Pol: Ich-Bewusstsein als Quinta Essentia4

Kreuzungspunkte zweier Linien werden seit Urzeiten als energiegeladenes, wirkmächtiges Feld erlebt, an welchem sich spannungsreiche Gegensätze begegnen:

»Kreuzungen sind eine Matrix von Vereinigung, aber auch von Trennung, Scheiden, Aufteilung, Begegnung und Versabschieden … Eine Kreuzung repräsentiert die Möglichkeit zu vielen Wegen und auch die Bindung an den individuellen Weg… An Kreuzwegen wird man mit der Notwendigkeit der Wahl und der Unermesslichkeit des Schicksals konfrontiert, … (an denen) das Bewusstsein das Unbewusste berücksichtigen muss und gegenüber dem … Selbst…verantwortlich ist.« (Ronnberg & Martin, 2011, S. 716)

Der fünfte Pol in der Mitte repräsentiert das Ich-Bewusstsein als Quinta Essentia auf einer den vier Funktionen übergeordneten Ebene. Es vereinigt sie als bewusst unterschiedene Qualitäten. Figürlich dargestellt wird die Quinta Essentia als Quincunx5 in der quadratische Anordnung von vier Punkten und dem fünften in der Mitte, der das Halt und Balance gebende Zentrum symbolisiert. Das Bewusstsein ist die übergeordnete Instanz, die spielerisch und autonom über alle Funktionen verfügt, wenn es sich gleichmäßig entwickeln kann und mit keiner einzelnen identifiziert ist. Die Zahl Fünf als Qualität fügt der Ganzheit der Vier die Eins der Ureinheit hinzu, stellt also nicht die nur quantitative Addition eines weiteren Elements dar (vgl. v. Franz, 1980, S. 64 ff und S. 114 ff). Damit zentriert sie die Vier in sich und symbolisiert die Integration der Gegensätze. Sie lässt die Fülle zu, gibt jedoch Maß, Ausgleich und Gleichgewicht.6

Die Zahlenqualitäten und ihre symbolische Bedeutung ermöglichen somit im Modell ein grundlegendes Verständnis der wechselseitigen Bedingtheit von Bewusstsein und Grundfunktionen:

»Die Vier bilden … gleichsam den Rahmen des als Zentrum hervorgehobenen Einen. Die Vierheit erscheint daher symbolgeschichtlich als die Entfaltung des Einen …Mit der Entfaltung zur Vier gewinnt es ein Minimum von Eigenschaften und kann daher erkannt werden… Wenn aber der unbewusste Inhalt erscheint, d. h. in den Bereich des Bewusstseins tritt, so ist er auch schon in die ›Vier‹ zerfallen, d. h. er kann nur vermöge der vier Grundfunktionen des Bewusstseins Gegenstand der Erfahrung werden: er wird als etwas Vorhandenes wahrgenommen, er wird als dieses erkannt und von jenem unterschieden, er erweist sich als annehmbar ›angenehm‹ oder das Gegenteil, und schließlich wird geahnt, woher er kommt und wohin es geht.« (Jung, zit. n. v. Franz, 1980, S. 114 f)

Historischer und symbolischer Hintergrund des Modells

Das Modell entspricht dem archetypischen Grundmuster des Radkreuzes, das bereits in der Jungsteinzeit als Ideogramm kosmischer Ordnung rituell gestaltet und verwendet wurde, längst vor einer praktischen Verwendung des Rades. Es ist ein weltweit verehrtes Licht- und Sonnensymbol, dessen vier Segmente die Abschnitte von Tag und Nacht, der Jahreszeiten und des menschlichen Lebens darstellten. In der christlichen Kunst ist es Zeichen der leben- und lichtbringenden Herrschaft von Christus über die Welt, meist als goldener Kreuznimbus hinter seinem Kopf zu sehen. Die Form des Radkreuzes veranschaulicht die Bewegung der sich wiederholenden Wiederkehr. Es symbolisiert das gleichwertige Nebeneinander verschiedener Aspekte, deren Wechselbeziehung im Gegenüber der Positionen sichtbar wird als immer gegenwärtige Potentiale und komplementäre Ereignisse eines fortlaufenden Prozesses.

Bemerkenswert ist bezüglich des fünften Pols in der Mitte der Zusammenhang von Bewusstseinsentwicklung und den fünf Fingern: Zwar haben seit über 340 Millionen Jahren fast alle Landwirbeltiere fünf Zehen, doch erst an der Schwelle zur menschlichen Bewusstseinsentwicklung bildete sich der opponierbare Daumen als Gegenpol zu den vier Fingern. Voraussetzung dafür war die Aufrichtung der Körperachse, womit die Vordergliedmaßen von der Last des Körpergewichts befreit und von der unmittelbaren Verbundenheit mit dem Erdboden gelöst wurden. Dadurch wurde Greifen, Halten und - im übertragenen Sinn - Begreifen möglich. Die Bedeutung der Hand für die Bewusstseinsentwicklung zeigt sich u. a. darin, dass das Herstellen von Werkzeugen und deren Gebrauch dieser Anordnung der fünf Finger erfordert. Dafür spricht auch, dass im menschlichen Gehirn die neuronale Repräsentation von Hand und Fingern einen überproportional großen Raum einnimmt. Hände symbolisieren somit »die souveräne, welterschaffende Reichweite des Bewusstseins, sie verkörpern … Erfindungsgabe, Selbstdarstellung und das Verfügen über einen Willen, der schöpferische oder zerstörerische Ziele verfolgen kann.« (Ronnberg & Martin, 2011, S. 380) Durch ihre umfassende Bedeutung steht die Hand mit allen vier Grundfunktionen in Verbindung. Die kunstvolle Abbildung von Händen in vielen altsteinzeitlichen Höhlen verweist auf den engen Zusammenhang des sich entwickelnden Selbstbewusstseins der frühen Menschen mit der Symbolik der Hand: »die fünf erhobenen Finger (deuten) das expressive Potential des sich herausbildenden menschlichen Bewusstseins an, das durch die Hände wie jene, die diese unvergleichlichen Bildwerke schufen, in Gang gesetzt wurde.« (ebd.) Die ältesten Bilder von Händen wurden vor ca. 40.000 Jahren in einer Höhle in Spanien gestaltet, ihre Wandmalereien gelten als bisher ältestes Kunstwerk der Welt.

Die frühesten Darstellungen der Quincunx, Hinweis auf die Differenzierung des vorher im Bild der Vier dargestellten Weltplans, finden sich in der Mittelsteinzeit. Ihr Bild begleitet seitdem die spirituellen und religiösen Traditionen der Menschheit als Symbol der hervorgehobenen Qualität des Mittelpunkts innerhalb quaternärer Mandala-Strukturen. Eindrucksvoll beschreibt es Ezechiel in seiner Thronvision: Er sieht »die Herrlichkeit des Herrn« auf einem Thronwagen, der von vier Lebewesen mit je vier Gesichtern und Flügeln umgeben ist. Ihre Flügel berühren sich und bilden ein verbundenes Ganzes. »Jedes Lebewesen ging in die Richtung, in die eines seiner Gesichter wies. Sie gingen, wohin der Geist sie trieb, und änderten beim Gehen ihre Richtung nicht.«7 Die Räder des Wagens »konnten nach allen vier Seiten laufen und änderten beim Laufen ihre Richtung nicht… sie waren voll Augen, ringsum bei allen vier Rädern…Sie liefen, wohin der Geist sie trieb.«8 (Ez, 1-20, gekürzt.) Die Vervielfachung der Zahl Vier als Attribut »des Einen« (Ez, 1, 26) und die Fülle der Augen drücken Allwissen und Allsicht des Einen aus, der von der Mitte aus alles lenkt. (Vgl. Jung, GW 13, § 362 ff) Allsicht bedeutet, dass er alle Perspektiven kennt und über sie verfügt, - also über der relativen Sicht des Individuums steht, das durch seine Funktionen-Konstellation begrenzt ist.9 Die spirituelle Bedeutung der Quincunx bezieht sich psychologisch auf das Selbst, das allsichtig die Ganzheit der Psyche ›im Blick hat‹. Ihr Bild erscheint erneut in der Thronvision des Johannes (Off. Kap. 4) und in Darstellungen von Christus im Zentrum der vier Evangelisten, die »sozusagen die Säulen des Thrones Christi« darstellen. (Jung, GW 13, § 366)

Relevanz für Individuation und Psychotherapie

Das Funktionensystem ist bestimmt durch die Selbstregulationskräfte der Psyche, die in der Ganzheitstendenz des individuellen Lebensentwurfs wurzeln und als Impulse aus dem Selbst10 nach dem Motto »Werde der du bist« wirksam werden. Das Bewusstwerden der eigenen Funktionenkonstellation trägt damit wesentlich zur Selbsterkenntnis bei. Das Ich wird flexibler, wenn es sich aus einer unbewussten Identität mit nur ein oder zwei Funktionen befreit und jede Funktion aktiviert. Jung zeigte an einer Traumserie, wie nachdrücklich der Individuationsprozess die bewusste Integration aller vier Funktionen fordert. (Vgl. Jung, GW 12, insbes. 10. Traum § 136 ff, 51. Traum § 286 ff) Der eigene Bewusstseinshorizont erweitert und öffnet sich damit auch für die erstaunlich ›andere‹ Erlebensweise der Nächsten. Zwischenmenschliche Konflikte können besser verstanden und entschärft werden, wenn die meist gegensätzliche Funktionenkonstellation der Partner – ›Gegensätze ziehen sich an‹ – erkannt und mit Akzeptanz beantwortet wird.

Für den klinischen Bereich ist das Modell zweifach relevant: Es ermöglicht ein genaueres Verstehen von Psychodynamik, Diagnostik und Therapie psychischer Störungen. Und es ermöglicht dem Therapeuten, seine Haltung behutsam und genau auf die Funktionenkonstellation des Patienten abzustimmen, um nicht komplexbesetzte und / oder verletzte Funktionen des Patienten mit den entsprechenden eigenen zu überrollen. Grundsätzlich gilt für eine adäquate therapeutische Haltung, dass der Therapeut vorrangig in seinen introvertierten Funktionen im Prozess präsent sein sollte, um das interpersonelle Feld frei zu machen für die introvertierten Funktionen des Patienten anstatt es, mit seinen extravertierten Energien zu besetzen. Und er ist durch diese mit seiner Mitte und seinem Unbewussten verbunden, woraus ihm tiefe Einsichten zufließen können. Wenn Therapeuten vorrangig in ihren extravertierten Funktionen präsent sind, geraten sie in die Gefahr, mit dem Patienten mit zu agieren. Diesen Aspekt gilt es auch in Ausbildung und Supervision von Therapeuten zu beachten, wobei sich interessante Konstellationen ergeben, wenn Supervisor und Supervisand eine gegensätzliche Konstellation der Funktionen haben. Für die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie gibt das Modell Hinweise, welche Funktionen eines jungen Menschen besonders geschützt und gestärkt werden sollten, wenn sie in dessen sozialen Umfeld nicht genügend Entfaltungsraum bekommen. Bei Begegnung und Therapie mit Menschen aus fremden Kulturen ist zu beachten, dass die Ausformung und Wertschätzung der Funktionen sehr verschieden sein kann von der uns vertrauten. In manchen Balkanländern ist die Intuition sehr viel mehr im kollektiven und individuellen Bewusstsein präsent, im Iran, in arabischen Ländern, auch Italien ist es die Fühlfunktion.

Das Beachten des Zusammenspiels der Funktionen ermöglicht somit ein differenziertes und ressourcenorientiertes therapeutisches Arbeiten. Die notwendige Ich-Stabilisierung des Patienten geschieht vorrangig durch die Arbeit mit den Funktionen, u. a. der Entfaltung der verdrängten Funktionen. Im derzeitigen therapeutischen Diskurs wird häufig das Bewusstwerden der Emotionen fokussiert. Diese Haltung steht im Zusammenhang mit der kollektiven Dominanz des extravertierten Denkens und hat ihre Berechtigung als Gegenbewegung dazu, ist bei Patienten mit introvertiertem Fühlen durchaus indiziert. Bei Menschen mit extravertiertem Fühlen ist sie wenig hilfreich, weil sie dadurch nicht zu ihrer eigenen Subjektivität gelangen. Ihr Mit-Fühlen ist ihnen meist durchaus bewusst. Dagegen sollte ihr introvertiertes Denken mehr Raum bekommen, weil dieses im gesellschaftlichen Rahmen meist als zu langsam, zu subjektiv, zu bizarr abgewertet wird.

2     vgl. Eschenbach, 1996; Adam, 2003. Beide Autoren verwenden den Begriff ›Ich-Funktionen‹. Um der Klarheit willen wurde er von mir aufgegeben, weil er zur Bezeichnung anderer Inhalte in der Psychoanalyse verwendet wird, und Verwechslung vermieden werden sollen. Bereits Jung bezeichnete die vier Funktionen als ›psychische Grundfunktionen‹. Gleichbedeutend ist die Bezeichnung ›Orientierungsfunktionen‹.

3     Jung befasste sich intensiv mit der Frage, ob das Hervorheben der Zahl Vier lediglich eine »Erdichtung des Bewusstseins« sei und kam zur Auffassung, es handle sich »um eine spontane Produktion des Objektiv-Psychischen«, einen Kernvorgang der objektiven Psyche. (vgl. GW 12, § 247 u. § 328)

4     ›Das fünfte Seiende‹ bei Aristoteles, den vier irdischen Elementen als masselose, unveränderliche, ewige Substanz des Äthers übergeordnet. In der Alchemie ein Auszug im Sinne von ›feinste Kraft‹, ›Grund- oder Kernstoff‹, vom 18. Jahrhundert an allgemeiner Begriff für ›Ergebnis, Eigentliches, Wesenhaftes‹. Das Bemühen der Alchemisten, die Quinta Essentia zu extrahieren oder herzustellen, galt – unbewusst – der Verbindung des Bewusstseins mit dem Selbst.

5     Von lat. ›quinque‹ (fünf) und uncia (Unze), womit eine Münzeinheit mit dieser Figur bezeichnet wurde.

6     In der Pflanzenheilkunde gelten die fünf-blättrigen Rosengewächse als besonders hilfreich, um die innere Mitte des Menschen zu stärken bzw. sie wieder zu erlangen. (vgl. Haindl, 2000, S. 312.)

7     »Die vier Seraphim (Lebewesen) stellen das Bewusstsein Gottes mit seinen vier funktionellen Aspekten dar.« (Jung, GW 11, § 727)

8     Zur Bedeutung der göttlichen Augen im Zusammenhang von Selbsterkenntnis vgl. v. Franz, 1978, S. 153 ff.

9     Auf diese Begrenztheit durch die Grundfunktionen könnte das rätselhafte Bild » Amor triumphat« im Roten Buch von Jung (2009, Faksimile S. 127) verweisen (image Kap. 9).

10  Der Selbst-Begriff der Analytischen Psychologie als Bezeichnung einer transzendenten Größe ist nicht zu verwechseln mit dem gleichlautenden Begriff der Selbst-Psychologie. »Das Selbst ist nicht nur der Mittelpunkt, sondern auch jener Umfang, der Bewusstsein und Unbewusstes einschließt; es ist das Zentrum dieser Totalität, wie das Ich das Bewusstseinszentrum ist.« (Jung, GW 12, § 44)

 

2          C. G. Jungs Typologie – Ausgangspunkt

 

 

 

»Tradition heißt nicht die Asche aufheben, sondern die Flamme weiterreichen.«

(R. Huch)

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert machte Kast darauf aufmerksam, dass das reiche, kreative Werk von Jung viele noch nicht gehobene Goldkörner enthalte, die sehr anregend auf Klinik und Forschung wirken könnten (Vortrag zum 125. Geburtstag von Jung). Solche Goldkörner sind u. a. in Jungs Untersuchungen zu den vier Funktionen enthalten, die er 1921 unter dem Titel »Psychologische Typen« veröffentlichte, sowie verstreut in seinem späteren Werk.

Persönlicher Hintergrund seiner Forschungen war die als schmerzlich erlebte Trennung von Freud. Anlass dazu war Jungs Relativierung und Erweiterung der Grundannahmen Freuds, insbesondere der Libido-Theorie und der Auffassung des Unbewussten. Jung wollte nun verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass nach Jahren der Freundschaft und des intensiven Austausches diese Erweiterung Freud veranlasste, Jung aus der psychoanalytischen Bewegung auszugrenzen. Diese Erfahrung setzte bei Jung einen Erkenntnisprozess in Gang, der sich auf seine Arbeit und sein Leben auswirkte und ihm ermöglichte zu verstehen, wieweit die individuelle Persönlichkeit eines Wissenschaftlers in dessen Theorie eingeht. Er prägte dafür den Begriff der persönlichen Gleichung, womit er die persönlichen Gegebenheiten, u. a. auch die Funktionenkonstellation, bezeichnete. Gerade in der Psychologie bestehe die große Gefahr, »dass der Forscher seinen subjektiven Voraussetzungen zum Opfer fällt … (Er) muss … in erhöhtem Masse seiner persönlichen Gleichung bewusst bleiben.« (Jung, GW 14 / I, S. 15)

Typologien halfen Menschen seit frühen Zeiten, ihre Erfahrungen zu ordnen und sich selbst darin zu positionieren. Sie haben jedoch immer etwas Schematisches, Vereinfachend-Kollektivierendes an sich. Jung studierte sie auf verschiedenen Gebieten, um seine eigenen Erkenntnisse zu überprüfen und seine Auffassung der vier Grundfunktionen zu entwickeln: »Als Grundfunktionen, d. h. als Funktionen, die sich sowohl genuin wie auch essentiell von andern Funktionen unterscheiden, ergaben sich meiner Erfahrung das Denken, das Fühlen, das Empfinden und das Intuieren.« (Jung, GW 6, 1981. § 7,). Er betonte, dass es sich dabei um eine deduktive Darstellung empirisch gewonnener Einsichten handele.

Jungs Intention

»Wissenschaftliche Theorien sind nur Vorschläge, wie man die Dinge betrachten könnte.«

(Jung, GW 4, § 241)

Aus heutiger Sicht ist zu erkennen, dass Jungs Interesse war, typische Gesetzmäßigkeiten der nicht aufeinander reduzierbaren Grundfunktionen zu erkennen, um das Wesen jeder Funktion zu ergründen und ihrer durch extravertierte oder introvertierte Einstellung bedingten Unterschiede.

Er untersuchte mit diesem Ziel jede Funktion in einer auffälligen Ausprägung, also dominierend in der Erscheinung einer Person, und bezeichnete diese Funktion als Hauptfunktion, die entgegengesetzte als minore bzw. minderwertige Funktion11. Um das Charakteristische einer Funktion herauszuarbeiten, zeichnete er ein typisierendes Bild von Menschen mit jeweils dominanter Hauptfunktion und kam so zu acht verschiedenen Typen. Es ging Jung dabei ausdrücklich nicht um eine individuelle Diagnostik: »Meine Typologie hat … gar keine Absicht, Persönlichkeiten zu charakterisieren, sondern das psychologische Erfahrungsmaterial … in relativ einfache und übersichtliche Kategorien zu fassen. Als charakterologische Methode habe ich meine Typisierung nie gedacht und so auch in dieser Hinsicht nie verwendet.« (Jung, zit. nach Blomeyer, 1988, S. 100; Hervorheb. M. R.).

Aus Jungs Schriften geht hervor, dass er hinsichtlich der individuellen Entwicklung eines Menschen die einseitige Dominanz einer Funktion als Grundlage psychischer Störungen sah und die habituelle Identifikation des Ichs mit nur einer Funktion als zur Neurose führend. Die übrigen Funktionen bleiben dabei relativ unbewusst, brechen situativ mit unbewussten Inhalten aufgeladen ins Bewusstsein ein und werden nach außen projiziert. Jung betonte, dass es eine psychische Notwendigkeit für jeden einzelnen ist, alle Grundfunktionen gleichmäßig zu verwenden, denn durch