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Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

Soziale Marktwirtschaft weiter denken

Bausteine für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

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© 2018 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort

Aart De Geus

Die Soziale Marktwirtschaft weiter denken

Stefan Empter, Andreas Esche

Soziale Marktwirtschaft heute: Wo stehen wir?

Herausforderungen und Handlungsfelder für eine zukunftsfähige Soziale Marktwirtschaft

Thieß Petersen, Armando García Schmidt

Wie inklusiv ist die Soziale Marktwirtschaft?

Andreas Peichl, Manuela Barišić

Soziale Marktwirtschaft morgen: Bausteine für die Zukunft

Fünf Wege zu Inklusivem Wachstum

Armando García Schmidt, Manuela Barišić, Henrik Brinkmann

Beschäftigung im Wandel

Daniel Schraad-Tischler

Nachhaltiges Regieren und soziale Gerechtigkeit

Daniel Schraad-Tischler

Soziale Marktwirtschaft in der Welt von heute

In einer veränderten Weltwirtschaft

Thieß Petersen, Cora Jungbluth

Soziale Marktwirtschaft in Entwicklungs- und Transformationsländern

Hauke Hartmann

Die Agenda 2030 als Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft

Christian Kroll, Robert Schwarz, Matthias Kaspers

Die Autorinnen und Autoren

Abstract

Vorwort

»Die Begründung für eine Soziale Marktwirtschaft liegt doch darin, dass man davon ausging, dass dieses Wirtschaftssystem bessere Ergebnisse erzielt, die Gesellschaft zu einem ganz anderen Lebensstandard kommt und damit die Politik viel sozialer und menschlicher handeln kann.«

Reinhard Mohn

Die deutsche Gesellschaft und die deutsche Wirtschaft haben in den zurückliegenden 70 Jahren große Herausforderungen bewältigt: von der Stunde null zum Wirtschaftswunder, vom Schock der Ölkrisen zum Boom der späten 1980er, von den Anstrengungen der Wiedervereinigung zum Exportweltmeister in einer globalisierten Weltwirtschaft. Dies sind nur wenige Schlagworte. Doch sie rufen sicher bei vielen Erinnerungen wach – Erinnerungen an persönlich Durchlebtes, aber auch an die intensiven öffentlichen Debatten, die jeweils geführt wurden.

Kennzeichen all dieser Debatten ist, dass sie immer einen klaren Referenzpunkt hatten: die Soziale Marktwirtschaft. Zunächst war sie als grundlegendes Konzept erdacht worden, das die Gestaltung einer effizienten Wettbewerbsordnung garantieren sollte. Doch die Soziale Marktwirtschaft wurde rasch viel mehr. Sie wurde zum grundlegenden Strukturprinzip der deutschen Wirtschaftsordnung, die sich etwa in der Rolle der Sozialpartnerschaft zum Ausdruck bringt, wie es sie in kaum einem anderen Land gibt. Und sie wurde zum Anspruch und Leitprinzip für einen Staat, der nicht allein nur als Wächter über effiziente Märkte fungiert, sondern immer wieder neu aufgefordert ist, die Grundlagen für einen auch global erfolgreichen Wirtschaftsstandort zu legen – damit alle Menschen in Deutschland die Chance haben, an den gemeinsam erwirtschafteten Wohlstandszuwächsen teilzuhaben.

Heute ist Deutschland auf einem guten Pfad. Keiner spricht mehr vom »kranken Mann Europas«. Ganz im Gegenteil: Die Wirtschaft eilt von einer Erfolgsmeldung zur nächsten und über die steigende Beschäftigung haben auch wieder mehr Menschen teil am Wachstum.

Doch wir können uns nicht auf diesen Lorbeeren ausruhen. Denn wesentliche Veränderungen – allen voran die Megatrends Globalisierung, Digitalisierung und demographischer Wandel – fordern unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem heraus, schneller und tiefgreifender als jemals zuvor. Wir müssen diese Herausforderungen annehmen, denn sie können nicht nur unsere Wirtschaftsleistung und damit die Grundlage unseres Wohlstandes schmälern, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.

Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es strukturelle Verschiebungen gibt, deren Folgen wir nicht ansatzweise absehen können. Um dennoch rechtzeitig darauf reagieren zu können, müssen wir uns immer wieder neu die Frage stellen, was genau sich verändert und wie wir angemessen damit umgehen können. Falsch wäre es zu glauben, dass wir uns auf dem einmal Erreichten ausruhen könnten und sich die Ordnung, wie wir sie kennen, von allein fortschreiben würde. Wir müssen sie gestalten und kontinuierlich weiterentwickeln.

Reinhard Mohn, dem Gründer der Bertelsmann Stiftung, war die Soziale Marktwirtschaft zeit seines Lebens ein wichtiges Anliegen. Das zeigt das Eingangszitat, entnommen einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin »impulse« aus dem Jahr 1996. Bereits vier Jahre zuvor hatte Reinhard Mohn in einem Vortrag darauf hingewiesen, dass die Soziale Marktwirtschaft nur überlebensfähig ist, wenn sie sich immer wieder den sich wandelnden Rahmenbedingungen anpasst. In seinen Worten: »Das Ausruhen auf bewährten Ordnungen der Vergangenheit verspricht für die Zukunft weder Erfolg noch Kontinuität.«

Reinhard Mohns Aufruf, angesichts tiefgreifenden Wandels eingefahrene Denkmuster zu verlassen und altbekannte Strukturen infrage zu stellen, verfolgt die von ihm selbst ins Leben gerufene Bertelsmann Stiftung seit nunmehr 40 Jahren. Seit Gründung der Stiftung ist es daher ein zentrales Anliegen, die Soziale Marktwirtschaft als Leitprinzip immer wieder neu zu denken und die Anpassungsnotwendigkeiten, mit denen unser Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell umgehen muss, zu konkretisieren. Mit gedanklichen Impulsen, empirischen Studien und Foren, in denen interessierte Bürgerinnen und Bürger mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft diskutieren können, hilft die Bertelsmann Stiftung der deutschen Gesellschaft bei der Bewältigung dieser beständigen Anforderung.

Was sind die tiefgreifenden Veränderungen der kommenden Jahrzehnte für unsere Art zu wirtschaften und unser gesellschaftliches Zusammenleben? Wo sind die Konfliktfelder, die Risiken, aber auch die Chancen, die sich daraus ergeben? Diese Fragen bilden den Rahmen für die aktuelle Projektarbeit der Stiftung zur Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft. Das vorliegende Buch bündelt zentrale Ergebnisse der Arbeit der Stiftung und beantwortet auch die Frage, was getan werden kann, um den Herausforderungen von morgen schon heute zu begegnen.

Aart De Geus

Vorsitzender des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung

Die Soziale Marktwirtschaft weiter denken

Stefan Empter, Andreas Esche

Eine gute Nachricht vorweg: Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie haben sich bewährt. Sie sind robuster als jedes andere Wirtschafts- und Gesellschaftssystem – und wir sollten uns ihres unschätzbaren Wertes bewusst sein. Das zeigt sich gerade in Zeiten, in denen wir unsere Art zu leben und zu wirtschaften wieder entschieden gegen Zweifel und Angriffe verteidigen müssen. Für die Mehrheit in Deutschland steht fest, dass Demokratie und Soziale Marktwirtschaft auch künftig den Rahmen für Wohlstand und Freiheit bilden. Genauso steht aber auch fest, dass sie anpassungsfähig bleiben und wir sie zukunftsfest machen müssen gegen die Krisen und Herausforderungen, die unseren Gesellschaften bevorstehen. Das vorliegende Buch will zeigen, dass und wie die gestaltenden Akteure aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft dazu beitragen können.

Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft sind das Fundament für den Wohlstand in Deutschland. Denn sie haben über 60 Jahre lang garantiert, dass die deutsche Wirtschaft stabil und leistungsfähig ist. Diesen Prinzipien liegt die Idee zugrunde, dass Markt und Wettbewerb sich so frei wie möglich entfalten müssen, dass sie aber gleichzeitig ordnungspolitisch gestaltet werden müssen. Das heißt konkret: Die Soziale Marktwirtschaft basiert zum einen auf der Freiheit der Märkte, dem Privateigentum und dem Haftungsprinzip sowie auf dem Wettbewerb zwischen den Anbietern von Gütern und Dienstleistungen. Dieses Zusammenspiel gewährleistet eine starke wirtschaftliche Dynamik und ermöglicht ein hohes Maß an materiellem Wohlstand und Fortschritt. Zum anderen zielt die Soziale Marktwirtschaft mit einem Steuer- und Transfersystem darauf ab, Risiken abzufedern und den gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstand möglichst so zu verteilen, dass alle Bürger daran partizipieren und gleiche Teilhabechancen bekommen.

Auf eine Formel gebracht: Die Soziale Marktwirtschaft verbindet wirtschaftliche Stärke mit dem Anspruch nach möglichst großer sozialer Teilhabegerechtigkeit. Sie will Wohlstand für alle möglich machen. Wirtschaftswachstum ist also kein Selbstzweck, sondern soll der gesamten Gesellschaft dienen und stets von sozialem Ausgleich begleitet werden. Dafür greifen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik ineinander. Denn diese Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stellt den Menschen in den Mittelpunkt.

Der Erfolg der Bundesrepublik ist der beste Beleg dafür, wie gut diese Idee ist. Und sie ist nach wie vor berechtigt, denn die Soziale Marktwirtschaft erweist sich auch in Krisenzeiten als überaus robust. So wächst auch heute die deutsche Wirtschaftsleistung konstant – anders als in einer Reihe vergleichbarer Industrienationen. Der deutsche Arbeitsmarkt boomt. Unsere internationalen Partner und Wettbewerber schauen nach Deutschland mit der Frage, was diesen Erfolg wohl ausmacht, und erkennen das Erfolgsrezept in den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Und so zeigt sich der Erfolg dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystems auch darin, dass es zum Vorbild und Modell geworden ist – für Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ebenso wie für viele Schwellenländer. Langfristiger wirtschaftlicher Erfolg, das hat die Bundesrepublik gezeigt, muss nachhaltig sein und allen Bürgern zugutekommen.

Niemand zweifelt momentan an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands. Doch es ist auch klar: Viele Herausforderungen setzen Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit schon heute unter Druck. Strukturwandel in einer bisher nicht gekannten Intensität wird der Wirtschaft und der Gesellschaft große Anpassungsleitungen abverlangen. Die Herausforderung, Wachstum in einer Balance zu halten mit der Verteilung von Chancen und Wohlstand in der Gesellschaft, wird unter diesen Bedingungen nicht kleiner, sondern größer.

Allen voran wirbeln Globalisierung und Digitalisierung viele Grundsätze durcheinander, auf die bislang Verlass zu sein schien. Diese beiden Megatrends erfassen alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie machen die Welt komplexer, unberechenbarer und anfälliger für Krisen. Nicht nur muss die Wirtschaft immer innovativer werden, um sich in einem weltumspannenden Wettbewerb zu behaupten, der längst dem hohen Tempo pausenlos arbeitender Algorithmen folgt. Auch die Gesellschaft muss auf den immer rasanteren Wandel in der Wirtschafts- und Arbeitswelt reagieren oder – das wäre der bessere Weg – ihn antizipieren.

In Industrienationen wie Deutschland und auch manchen Schwellenländern steigern die internationale Arbeitsteilung und der zunehmende Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Technologien das Wirtschaftswachstum. Allerdings produziert der vermehrte globale Wettbewerb auch Verlierer. In den Industrienationen sind das vor allem gering qualifizierte Arbeitskräfte und Beschäftigte in Bereichen, die in besonderem Maße in Konkurrenz mit Schwellenländern stehen, in die die Produktion von Gütern und Dienstleistungen verlagert wird. Und es profitieren auch nicht alle Länder im gleichen Ausmaß von der globalen Arbeitsteilung. Viele Länder, etwa in Afrika, sind von den Entwicklungen der globalen Wirtschaft abgehängt.

Auch die Digitalisierung zeitigt schon heute ambivalente Effekte. So ist es der deutschen Wirtschaft bisher besser als vielen anderen gelungen, den Wettbewerbsdruck positiv zu nutzen und die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen mit hohem Qualitätsanspruch in Deutschland zu halten. Die Digitalisierung wird in hoch entwickelten Industrienationen wie Deutschland jedoch tendenziell dazu führen, dass Maschinen und Computer menschliche Arbeitskraft ersetzen. Diese Entwicklung dürfte in den kommenden zehn bis 15 Jahren noch moderat ausfallen; langfristig jedoch könnten besorgniserregend viele Arbeitsplätze verloren gehen. Betroffen sind davon zunächst gering qualifizierte Arbeitnehmer, zunehmend aber auch Beschäftigte in anspruchsvolleren Berufen.

Zwei weitere umfassende Trends kommen hinzu: zum einen demographische Trends wie der Alterungsprozess in entwickelten Industrienationen und globale Wanderungsbewegungen sowie zum anderen eine Dynamik in Wirtschaft und Gesellschaft, die soziale Ungleichheit in und zwischen Ländern verschärft.

In Deutschland bewirkt der demographische Wandel, dass die Bevölkerungszahl tendenziell schrumpft und die Menschen immer älter werden. Noch ist nicht auszumachen, wie eine alternde und schrumpfende Gesellschaft unser Wirtschaftsmodell verändert. Abzusehen ist allerdings bereits, dass sich regionale Ungleichgewichte durch diese Entwicklung verschärfen werden. In wirtschaftlich prosperierenden urbanen Zentren wird die Bevölkerung stark wachsen. In den ländlichen Räumen schrumpft die Bevölkerung in den kommenden Jahren dafür zum Teil dramatisch. Diese Entwicklung wird es erschweren, annähernd gleiche Lebensbedingungen im gesamten Land sicherzustellen.

In der Stadt verschärfen sich die sozialen Gegensätze durch hohe Lebenshaltungskosten bereits stärker als auf dem Land. Menschen in der Peripherie, wo Infrastruktur nicht mehr erhalten werden kann oder sogar abgebaut wird, dürften sich auf der anderen Seite zunehmend als Verlierer sehen. Zudem wird eine wachsende Zahl älterer Menschen bei abnehmender Beschäftigung die sozialen Sicherungssysteme erheblich belasten. Zuwanderung nach Deutschland wird es unter diesen Bedingungen unbedingt geben müssen. In welcher Beziehung stehen die Kosten und der Mehrwert von Zuwanderung und Integration? Dies wird eine der zentralen gesellschaftlichen Fragen der kommenden Jahrzehnte sein.

Seit Mitte der 1980er-Jahre hat die Ungleichheit in den entwickelten Industrienationen zugenommen. Die Markteinkommen und in den meisten Fällen auch die Nettoeinkommen sind zunehmend ungleich verteilt. In Deutschland nahm die Einkommensungleichheit vor allem zwischen 1995 und 2005 zu. Seitdem stagniert sie auf einem mehr oder weniger konstanten Niveau und ist im OECD-Vergleich relativ niedrig. In der Tendenz steigen die Einkommensunterschiede zwischen den Beschäftigten im Industriesektor und den in der Regel weniger produktiven Beschäftigten im Dienstleistungssektor.

Wir können auch sehen, dass sich unsere Arbeitswelt und die Basis unserer Wertschöpfung verändern. Künftig wird es mehr Dienstleistungen geben und weniger Industrie und verarbeitendes Gewerbe, worauf unser wirtschaftlicher Erfolg bislang beruht. Der verstärkte Einsatz moderner Maschinen und Technologien erhöht die Anforderungen an die Beschäftigten. Der Kapitaleinsatz in der Produktion nimmt zu, während der Einsatz an menschlicher Arbeitskraft eher zurückgeht, was die Lohnentwicklung dämpft. Dies trifft gegenwärtig vor allem auf gering qualifizierte Beschäftigte zu, mit fortschreitendem technologischen Fortschritt aber zunehmend auch auf besser qualifizierte Gruppen. Menschen werden vermehrt einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, wodurch die Jahreseinkommen zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten auseinandergehen.

Hinzu kommen die globale Erwärmung und der Klimawandel. Sie sorgen neben den zu erwartenden verheerenden ökologischen Folgen für eine verschärfte Diskrepanz zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, da gerade viele Länder des globalen Südens in besonderem Maß von den Folgen der klimatischen Veränderung betroffen sind. Ebenfalls werden die nicht erneuerbaren Ressourcen zunehmend knapp – eine enorme Herausforderung für unser gesamtes Wirtschaftssystem, dessen Abkopplung von fossilen Brennstoffen erst am Anfang steht, während gleichzeitig der Atomausstieg beschlossen ist. Die Zahl derer, die vor Armut und Klimawandel flüchten, wird zunehmen. Daraufmüssen sich die entwickelten Industrienationen Europas vorbereiten.

Unsere Verortung

Diese Veränderungen werfen nicht nur die Frage auf, ob dieselben Instrumente wie bisher für sozialen Ausgleich sorgen können. Sie greifen auch die Fundamente des wirtschaftlichen Erfolgs an und stellen die demokratische Regierungsform vor eine Bewährungsprobe. Das ist eine gewaltige Herausforderung für Deutschland und die anderen entwickelten Marktwirtschaften in der EU sowie der OECD, aber auch für alle Schwellen- und Entwicklungsländer. Und sie verlangt, dass die maßgeblichen gesellschaftlichen Akteure aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sich ihrer Gestaltungsaufgabe bewusst sind. Sie sind gefragt, eine zukunftsfähige Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen. Die Bertelsmann Stiftung will mit dem Programm »Nachhaltig Wirtschaften« bei diesen Gestaltungsaufgaben unterstützen.

Dabei werfen wir den Blick sowohl auf Deutschland als auch auf die weltweite Entwicklung. Für Deutschland arbeiten wir daran, die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft an die aktuellen Herausforderungen anzupassen. Dies soll dabei helfen, Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und Wohlstand sowie Teilhabe für alle Menschen zu gewährleisten. International verfolgen wir das Ziel, wesentliche Entwicklungen der Globalisierung durch wissenschaftliche Analysen und globales Monitoring aufzuzeigen.

In unserer Arbeit konzentrieren wir uns auf drei Ziele:

Eine tragfähige und wettbewerbsfähige Wirtschaft

Wir wollen dem steigenden Druck auf Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit begegnen. Die Weltwirtschaftskrise von 2008 war ein Fanal dafür, dass die Bedingungen für wirtschaftlichen Erfolg sich rasant verändern. Die Wirtschaft ist insgesamt unberechenbarer und krisenanfälliger geworden. Wenn die Marktwirtschaft es nicht schafft, dem etwas entgegenzusetzen und sich anzupassen, stellt das ihre Legitimität infrage. Die genannten Probleme wie der demographische Wandel, nachlassende Innovationsfähigkeit oder die Folgen des Klimawandels kommen hinzu. Wenn Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Zusammenspiel nicht wahren kann, droht die Wirtschaft zu stagnieren oder gar zu schrumpfen.

Wirtschaftswissenschaftler sprechen schon heute von der Möglichkeit einer säkularen Stagnation. Viele der übrigen EU- und OECD-Staaten stehen vor ähnlichen Problemen. Sie zeigen zum Teil auch jetzt schon, wie es abwärtsgehen kann, wenn im Krisenfall nicht die richtigen Instrumente zur Verfügung stehen. Auch glauben wir, dass Deutschland internationaler denken muss. Den Industriestaaten ist nicht geholfen, wenn ihr Zuwachs an Wohlstand die Möglichkeiten von Schwellen- und Entwicklungsländern auf eine soziale und prosperierende Marktwirtschaft untergräbt.

Wir untersuchen die Folgen der Globalisierung und des internationalen Handels auf die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und bringen uns mit diesen Erkenntnissen in die Debatte nicht nur in unserem Land ein. Unser Projekt »Global Economic Dynamics« untersucht diese Folgen auf der Grundlage wissenschaftlicher Modelle und will die Debatte über Chancen und Risiken internationaler Handelsabkommen versachlichen. Wir analysieren zudem, welche möglichen Folgen einschneidende Ereignisse wie etwa der Brexit für Handel und Wettbewerbsfähigkeit nach sich ziehen. Ebenso zeigen wir auf, welche Wirtschaftsleistungen die EU- und OECD-Staaten sowie die Schwellen- und Entwicklungsländer erbringen, wie Globalisierung und technologischer Wandel wirken und welche Instrumente und Strategien zu nachhaltigem Wachstum beitragen können.

Soziale Teilhabe und inklusives Wachstum

Das exportgetriebene Wachstum Deutschlands profitiert aktuell von Globalisierung und technologischem Wandel. Wir beobachten aber auch, dass – während das Tempo dieser beiden Prozesse zunimmt – die Chance auf Teilhabe aller Menschen auch in Deutschland immer weniger Schritt halten kann: Unsere Gesellschaft wird ungleicher. Viele andere EU- und OECD-Staaten zeigen ein ähnliches Bild. Die unterschiedliche Verteilung von Einkommen und Vermögen dürfte auf längere Sicht noch weiter zunehmen. Wird jedoch das Ungleichgewicht zu groß, leidet nicht nur der soziale Zusammenhalt, sondern auch das künftige Wirtschaftswachstum.

Hinzu kommt, dass Arbeit ihre identitätsstiftende soziale Rolle zumindest zu weiten Teilen einzubüßen droht. Wird sie weniger werden kann sie nicht mehr wie bisher soziale Teilhabe gewährleisten. Über Lösungen muss also gesprochen werden, wenn dieser Trend nicht – wie bereits in anderen Volkswirtschaften geschehen – zu einer tiefen Legitimationskrise führen soll. Die Frage ist, wie sich soziale und wirtschaftliche Teilhabe künftig organisieren lassen. Unsere Sorge muss auch den Entwicklungs- und Schwellenländern gelten. Sie profitierten zwar mitunter von hohen Wachstumsraten; allerdings wurde meist wenig für den sozialen Ausgleich gesorgt. Daher ist es auch im deutschen Interesse und dem der Partnerländer in EU und OECD, dass die Handelspartner ihre Marktwirtschaften auf eine soziale Basis stellen.

Das Programm »Nachhaltig Wirtschaften« analysiert, warum die Ungleichheit in Deutschland und anderen EU- und OECD-Staaten zugenommen hat und die Gesellschaft zunehmend polarisiert. Und wir untersuchen die Auswirkungen, zum Beispiel mithilfe des jährlich erscheinenden »EU Social Justice Index (SJI)«. Mit Studien der Reihe »Inklusives Wachstum für Deutschland« vertiefen wir einzelne zentrale Themen und entwerfen Strategien für ein Wachstum, das alle Menschen teilhaben lässt. Im Projekt »Beschäftigung im Wandel« geht es darum, politische Strategien zu entwickeln und zu diskutieren, etwa wie die Arbeitsmärkte mehr Menschen zu Arbeit verhelfen und durchlässiger werden können oder wie hohe Erwerbstätigkeit in Zeiten stärkerer Zuwanderung, von Strukturwandel und Digitalisierung stabil gehalten werden kann. Schließlich stoßen wir in Deutschland Debatten dadurch an, dass wir Regierungen und Volkswirtschaften im internationalen Vergleich darauf prüfen, wie nachhaltig sie sind. Dabei helfen die »Sustainable Governance Indicators (SGI)«, der »Transformation Index der Bertelsmann Stiftung (BTI)« und der globale »SDG Index«.

Demokratie und gute Regierungsführung

Sorge bereitet uns, dass die Spielräume für staatliches Handeln enger werden. Das gilt für die entwickelten Industrienationen ebenso wie für die Entwicklungs- und Schwellenländer. Und wir fragen uns, ob und wie Deutschland weiter wichtige Impulse geben kann. Welche Instrumente stehen künftig noch zur Verfügung, um die wirtschaftliche Leistungskraft zu unterstützen und sozialen Ausgleich zu gewährleisten? Wir sind der Überzeugung, dass Investitionen in relevante Zukunftsbereiche notwendig sind. Der Staat muss selbst mehr in Bildung, aber auch in eine funktionierende Infrastruktur investieren und Anreize für private Investitionen verbessern. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass auch künftige Generationen unter dem Einfluss des wirtschaftlichen, sozialen und technischen Wandels Wohlstand und Beschäftigung erwarten können. Die Regierung sollte eine langfristige Agenda verfolgen, um die Soziale Marktwirtschaft gegen Risiken zu schützen, die aus den Veränderungsprozessen erwachsen. Eine wichtige Grundlage dafür ist und bleibt ein demokratischer und rechtsstaatlicher Rahmen. Diesen braucht Deutschland, dieser muss aber auch in allen EU- und OECD-Staaten weiterhin verteidigt werden.

Investieren wäre einfacher, müssten nicht auch die öffentlichen Haushalte konsolidiert werden. Wir analysieren diesen Zielkonflikt im Projekt »Inklusives Wachstum für Deutschland« und legen Optionen dar, welche wichtigen Zukunftsinvestitionen dennoch getätigt werden sollten. Global ergeben sich noch andere finanzielle Ungleichgewichte und Abhängigkeiten, etwa in der Eurozone, die wir mit dem Projekt »Global Economic Dynamics« untersuchen. Mit den Indexprojekten BTI, SGI und SDG-Index können wir auch in diesem Fall auf valider Datenbasis internationale Vergleiche ziehen und Debatten darüber anregen, wie Regierungen die richtigen Instrumente für demokratische, effektive und zukunftsorientierte Entscheidungen an die Hand gegeben werden können.

Zu diesem Buch

Mit den beschriebenen Herausforderungen muss sich auch die deutsche Öffentlichkeit auseinandersetzen. Aufgabe der Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist es, Antworten auf die Herausforderungen zu finden. Die Fragen sind komplex; also können auch die Antworten nicht einfach sein. Wir versuchen mit unserer Arbeit, an der Sache orientierte und angemessene Impulse für die öffentliche Debatte sowie für die fachliche Debatte zu liefern. Der vorliegende Band stellt die wichtigsten und aktuellsten Erkenntnisse aus der Arbeit des Programms »Nachhaltig Wirtschaften« der Bertelsmann Stiftung vor.

Wir beginnen mit einer Bestandsaufnahme der Sozialen Marktwirtschaft. Wo steht sie als Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell heute? In einem Beitrag über die Herausforderungen und Handlungsfelder für eine zukunftsfähige Soziale Marktwirtschaft legen Thieß Petersen und Armando García Schmidt dar, vor welchen Herausforderungen unser Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell steht. Sie vertiefen, was wir in dieser Einleitung nur anreißen konnten: Wo droht der Sozialen Marktwirtschaft durch Trends wie Globalisierung, Digitalisierung oder die alternde Gesellschaft Ungemach, wo aber verstecken sich auch Chancen?

Andreas Peichl und Manuela Barišić wagen daraufhin einen analytischen Rückblick und nehmen sich das zentrale Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft vor: Wohlstand für alle. Die Wirtschaft dient dem Wohlstand der Menschen und soll alle daran teilhaben lassen. Doch wie gut ist sie in den vergangenen 70 Jahren diesem Versprechen nachgekommen? Das Besondere am Zugang der Autoren: Zum ersten Mal werden alle verfügbaren statistischen Daten zusammen betrachtet.

Die drei darauf folgenden Beiträge erörtern die Bausteine, die wir für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung benötigen. Armando García Schmidt, Manuela Barišić und Henrik Brinkmann haben fünf Handlungsfelder für eine Politik herausgearbeitet, die nicht allein auf Wachstum ausgerichtet ist, sondern durch eine neue, intelligente Verzahnung von Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ein inklusives Wachstum ermöglicht: Zukunftsinvestitionen, eine neue Innovationspolitik, eine bessere Unterstützung von Gründern, eine inklusivere Vermögenspolitik sowie ein reformiertes Steuer- und Transfersystem. Die Zukunft der Beschäftigung und die Anpassungsanforderungen an unsere sozialen Sicherungssysteme beschäftigen Daniel Schraad-Tischler. Er untersucht vor allem die Megatrends Globalisierung und Digitalisierung sowie den demographischen Wandel und ihren grundlegenden Einfluss auf die Arbeitswelt und die Arbeitsmärkte im 21. Jahrhundert.

Um die Stärken und Schwächen des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells geht es im darauf folgenden internationalen Vergleich, den ebenfalls Daniel Schraad-Tischler beigesteuert hat. Während Deutschland heute wirtschaftlich gut dasteht und sozial als Vorbild dient, sah das zu Beginn der 2000er-Jahre noch anders aus, als Deutschland der »kranke Mann Europas« war. Auf Grundlage der Ergebnisse der Sustainable Governance Indicators (SGI) arbeitet der Autor heraus, welche politischen Maßnahmen und welche Faktoren zur Kehrtwende beigetragen haben und was langfristig getan werden muss, um die Soziale Marktwirtschaft weiterzuentwickeln. Im Ergebnis erkennt Daniel Schraad-Tischler erheblichen Anpassungsbedarf, um auch für künftige Zeiten eine stimmige Balance zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Sicherheit aufrechtzuerhalten.

Deutschland scheint als Exportweltmeister seine feste Rolle in der Arbeitsteilung des Welthandels zu haben. Während die starke Einbindung ohne Frage Wachstum und Beschäftigung in Deutschland beflügelt, ist die deutsche Wirtschaft aber auch besonders abhängig von der Entwicklung der Weltwirtschaft und anfällig für externe Krisen. Vor allem die Beziehungen zur aufstrebenden Wirtschaftsmacht China bieten Chancen, bringen aber auch Handlungsbedarf mit sich. Thieß Petersen und Cora Jungbluth legen in ihrem Beitrag dar, wie Deutschland seine internationale Wettbewerbsfähigkeit sichern kann und wie eine zukunftsträchtige Arbeitsteilung mit den Handelspartnern in Europa und der Welt aussehen sollte.

Wie steht es um die Soziale Marktwirtschaft in Entwicklungsländern? Kann eine sozialpolitisch flankierte Marktwirtschaft als gesellschaftliches Leitbild für Länder herhalten, die mehrheitlich von Armut und Ausgrenzung gezeichnet sind, wo Korruption und Klientelismus herrschen und der Wettbewerb verzerrt wird? Hauke Hartmann skizziert, welche Bedeutung eine Soziale Marktwirtschaft als Leitbild in den gesellschaftlichen Umbruchsituationen der Entwicklungs- und Transformationsländer hat. Auf der Grundlage der Ergebnisse des Transformation Index (BTI) zeigt er, wie sich die wirtschaftlichen Transformationsprozesse im Krisenjahrzehnt zwischen 2008 und 2018 entwickelt haben, und diskutiert, welche Verbindungslinien, aber auch welche Spannungen es zwischen sozialen und marktwirtschaftlichen Zielsetzungen in aktuellen Transformationsprozessen weltweit gibt.

Und wie lassen sich schließlich wirtschaftliche und soziale Fortschritte in Industrie- und Entwicklungsländern in Einklang bringen? Die 17 UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (englisch: Sustainable Development Goals, SDG) haben 2015 erstmals einen Rahmen dafür geschaffen. Das Ziel des wirtschaftlichen Wachstums, verbunden mit sozialem Ausgleich und ökologischer Achtsamkeit, soll universell gültig sein. Christian Kroll, Robert Schwarz und Matthias Kaspers ziehen eine Bilanz des bisherigen Erfolgs und zeigen auf, wo die 193 UN-Mitgliedstaaten vor gemeinsamen Herausforderungen stehen und wo es Unterschiede gibt. Auch für Deutschland weisen die Inhalte der sogenannten Agenda 2030 Perspektiven auf, wie die Soziale Marktwirtschaft für heutige und künftige Kontexte adaptiert und neu ausgerichtet werden kann.

Alle Texte basieren auf unserer aktuellen Programmarbeit, ihre Autorinnen und Autoren sind Experten der Bertelsmann Stiftung oder externe wissenschaftliche Partner. Ohne diese Partner wäre unsere Arbeit nicht denkbar. Ihnen und den vielen an dieser Stelle nicht genannten Kolleginnen und Kollegen in der Wissenschaft sei für die vertrauensvolle Zusammenarbeit gedankt. Bei der Erstellung dieses Buches haben uns zwei Kolleginnen besonders unterstützt. Dies ist zum einen Sibylle Reiter, die unsere Texte geduldig lektoriert hat. Und zum anderen ist dies Christiane Raffel vom Verlag der Bertelsmann Stiftung, die den gesamten Herstellungsprozess des Buches umsichtig gesteuert hat. Ihnen beiden sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Des Weiteren danken wir allen Kolleginnen und Kollegen des Programms »Nachhaltig Wirtschaften«, die zu diesem Buch zwar nicht als Autorin oder Autor beigetragen haben, aber durch ihr andauerndes Engagement und ihre Expertise den Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit im Programm »Nachhaltig Wirtschaften« möglich machen: Nicole Adams, Tanja Becker, Christian Bluth, Sabine Donner, Sabrina Even, Pia Paulini, Dominic Ponattu, Christof Schiller, Ulrich Schoof, Joscha Schwarzwälder, Sabine Steinkamp und Vanessa Tofing.

Soziale Marktwirtschaft heute: Wo stehen wir?

Herausforderungen und Handlungsfelder für eine zukunftsfähige Soziale Marktwirtschaft

Thieß Petersen, Armando García Schmidt

Will man das deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem mit einem Schlagwort beschreiben, so bietet sich dafür nur ein Begriff an: die Soziale Marktwirtschaft. Prägend für dieses System ist eine Kombination aus wirtschaftlicher Leistung und sozialem Ausgleich. Die Soziale Marktwirtschaft ist gekennzeichnet durch die Freiheit der Märkte, Privateigentum und den Wettbewerb zwischen den Anbietern von Gütern und Dienstleistungen. Dies gewährleistet eine hohe wirtschaftliche Dynamik und einen hohen materiellen Wohlstand. Gleichzeitig basiert die Soziale Marktwirtschaft auf einem Steuer- und Transfersystem, das den gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstand möglichst gerecht unter allen Bürgern verteilen soll. Kurz gefasst verbindet die Soziale Marktwirtschaft wirtschaftliche Stärke mit sozialer Gerechtigkeit und soll Wohlstand für alle möglich machen.

Dieser Beitrag skizziert zunächst die zehn aus unserer Sicht wichtigsten langfristigen Entwicklungen, die die Funktionsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland vor erhebliche Herausforderungen stellen. Anschließend beschreiben wir zehn politische Handlungsfelder, auf denen aus unserer Sicht Anpassungen erforderlich sind, um die Soziale Marktwirtschaft in dem Sinne zukunftsfähig zu machen, dass sie das Versprechen Wohlstand für alle dauerhaft erfüllen kann. Die Analysen und Empfehlungen ergeben sich zu einem großen Teil aus den in den weiteren Beiträgen dieses Buches vorgestellten Arbeitsergebnissen der Projektarbeit der Bertelsmann Stiftung.

1.Zehn Herausforderungen für die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft

1.1Demographische Entwicklung

Die globale demographische Entwicklung wird in den nächsten Jahrzehnten einen erheblichen Anstieg der Weltbevölkerung mit sich bringen. Nach Berechnungen des Population Reference Bureaus (2017) ist mit einem Anstieg der Weltbevölkerung von rund 7,5 Milliarden Menschen im Jahr 2017 auf knapp 9,9 Milliarden im Jahr 2050 zu rechnen. Diese Zunahme um 30 Prozent ist jedoch regional sehr unterschiedlich verteilt. Während die Bevölkerung in den USA, in Asien und vor allem in Afrika wächst, kommt es in den meisten europäischen Ländern zu einer Stagnation der Bevölkerungszahlen oder sogar zu einem Bevölkerungsrückgang (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1: Entwicklung der Weltbevölkerung zwischen 2017 und 2050

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Quelle: Population Reference Bureau 2017: 8–18 und eigene Berechnungen

Begleitet wird diese Entwicklung von einer steigenden Lebenserwartung und damit einer Alterung der Bevölkerung. Die Alterung der Bevölkerung betrifft alle Nationen, vor allem aber die industriell hoch entwickelten Volkswirtschaften. So steigt der Anteil der Menschen, die 60 Jahre und älter sind, nach Berechnungen der Vereinten Nationen (UN) weltweit von 14 Prozent im Jahr 2015 auf 26 Prozent im Jahr 2050. In Europa steigt der Anteil von 24 auf 34 Prozent, für Asien wird ein Anstieg von zwölf auf 25 Prozent berechnet (vgl. UN 2015: 8–9, 27). Das Niveau Asiens liegt damit zwar unter dem europäischen, aber die Verdoppelung des Anteils verdeutlicht, dass die Alterung in Asien schneller stattfindet als in Europa.

In Deutschland ist der demographische Wandel dadurch gekennzeichnet, dass die Bevölkerungszahl schrumpft und die Bevölkerung immer älter wird. Nach der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2015 wird die Bevölkerungszahl von gegenwärtig rund 82 Millionen Menschen – je nachdem, wie viele Menschen aus dem Ausland nach Deutschland ziehen – bis zum Jahr 2050 auf 72 bis 76 Millionen zurückgehen (vgl. Statistisches Bundesamt 2015: 45–46). Die Bevölkerungsvorausberechnung des Wegweisers Kommune der Bertelsmann Stiftung macht deutlich, dass sich regionale Disparitäten im Zuge dieser Entwicklung verschärfen werden. In wirtschaftlich prosperierenden urbanen Zentren wird die Bevölkerung stark wachsen. Für Frankfurt am Main und für München wird jeweils eine Bevölkerungszunahme von mehr als 14 Prozent zwischen 2012 und 2030 errechnet. In den ländlichen Räumen, vor allem des Ostens, schrumpft die Bevölkerung in den kommenden Jahren dafür zum Teil drastisch. So werden Kommunen wie Hoyerswerda oder Bitterfeld bis 2030 mehr als ein Viertel ihrer Bevölkerung verlieren (Bertelsmann Stiftung 2015a; siehe Abbildung 1).

Die Bevölkerung schrumpft nicht nur, sie wird auch älter. Der Anteil der Menschen, die 65 Jahre und älter sind, macht momentan rund 21 Prozent aus. Nach Japan (27 %) und Monaco (24 %) hat Deutschland damit die drittälteste Bevölkerung der Welt (vgl. Population Reference Bureau 2017: 13–14). Bis 2050 wird der Anteil der Personen dieser Altersgruppe auf 30 bis 32 Prozent ansteigen (vgl. Statistisches Bundesamt 2015: 45–46). Selbst die gegenwärtige Zuwanderung von Flüchtlingen kann den Trend der gesellschaftlichen Alterung nicht umkehren, sondern bestenfalls abmildern (vgl. Statistisches Bundesamt 2016).

Wenn die geburtenstarken Jahrgänge – also all jene, die zwischen Mitte der 1950er- und Mitte der 1960er-Jahre geboren sind – das Rentenalter erreichen, bedeutet dies extreme Verwerfungen für das deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Vor allem die gesellschaftliche Alterung stellt das Land vor einen hohen Anpassungsdruck. Folgende Herausforderungen ergeben sich daraus:

Bei den beitragsfinanzierten Systemen der sozialen Sicherung trifft eine sinkende Zahl von Beitragszahlern auf wachsende Anforderungen an die Leistungen der sozialen Sicherung, vor allem in den Bereichen der Altersversorgung, des Gesundheitswesens und der Pflege.

Die gesellschaftliche Alterung führt mit Blick auf die Gesamtheit der öffentlichen Haushalte zu einem Rückgang der Einnahmen, der auf tendenziell steigende Ausgaben trifft (Pensionen, Renten, Gesundheitsausgaben, Pflege). Dies schränkt die staatlichen Handlungsspielräume ein. So gehen beispielsweise die staatlichen Möglichkeiten zur Finanzierung dringend notwendiger Zukunftsinvestitionen – etwa im Bereich der Bildung – zurück. Gleichzeitig erhöht die gesellschaftliche Alterung die Gefahr einer wachsenden Staatsverschuldung mit zunehmenden Generationenkonflikten.

Abbildung 1: Relative Veränderung der Bevölkerung in Deutschland (Kreise und kreisfreie Städte) in Prozent, 2012–2030

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Quelle: Bertelsmann Stiftung, Wegweiser Kommune, 2015

Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme hat die gesellschaftliche Alterung zur Folge, dass immer weniger Menschen ein Bruttoinlandsprodukt erarbeiten, das sie mit einer wachsenden Zahl von altersbedingt nicht mehr erwerbstätigen Personen teilen müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass die gesellschaftliche Alterung einen dämpfenden Einfluss auf die Produktivität und die gesamtwirtschaftliche Investitionstätigkeit hat und so das Wirtschaftswachstum schwächt (vgl. Lindh, Malmberg und Petersen 2010). Unter sonst gleichen Umständen führt das zu einer Verringerung des Bruttoinlandsprodukts je Erwerbstätigem und je Rentner, also zu einer Verringerung des Bruttoinlandsprodukts pro Einwohner und damit zu einem Rückgang des realen individuellen Wohlstands.

Die demographische Entwicklung verschärft regionale Disparitäten. Die Bevölkerung und die wirtschaftliche Aktivität werden sich immer stärker in städtischen Zentren konzentrieren, während der ländliche Raum schrumpft. Hier wie dort werden sozial und wirtschaftlich relevante Veränderungsprozesse mit dieser Entwicklung einhergehen. Grundsätzlich wird es schwieriger, den Anspruch annähernd gleicher Lebensbedingungen in der gesamten Fläche des Landes einzulösen. Schon heute sind die sozialen Gegensätze in prosperierenden Städten durch hohe Lebenshaltungskosten schärfer konturiert als auf dem Land. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass Menschen in ländlichen Räumen, in denen Infrastruktur nicht mehr erhalten oder sogar zurückgebaut wird, sich zunehmend als Verlierer wahrnehmen.

Schließlich ist zu befürchten, dass sich der jetzt schon bestehende Fachkräftemangel verstärken wird, wenn die gut ausgebildeten Babyboomer-Generationen das Rentenalter erreichen und es demographisch bedingt nicht genügend qualifizierte Menschen gibt, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

1.2Globale Erwärmung und Klimawandel

Eine größere Weltbevölkerung wird ihren materiellen Konsum erhöhen. Die Produktion von mehr Gütern und Dienstleistungen sowie die dafür erforderlichen Transportleistungen bedeuten einen zunehmenden Verbrauch an Rohstoffen und Energie, was wiederum einen größeren Ausstoß von CO2 und anderen Treibhausgasen zur Folge hat. Dies bewirkt einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur und des Klimawandels (vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen Petersen 2008).

Damit werden auch die negativen Folgewirkungen des Klimawandels zunehmen: der Anstieg des Meeresspiegels, die Zunahme des Überflutungsrisikos, die Zunahme von Wetterextremen wie Hitzewellen, Dürren, Stürmen, Überflutungen etc., ein Massensterben von Tier- und Pflanzenarten, die zunehmende Gefahr von Waldbränden, ein stärkerer Insektenbefall und die Ausbreitung von Krankheiten, die von Insekten übertragen werden (Malaria, Borreliose), die Ausbreitung hitzebedingter Krankheiten (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen) sowie die Versauerung der Ozeane.

Neben diesen direkten Konsequenzen hat der Klimawandel auch eine Reihe indirekter Folgewirkungen, die primär sozialer und ökonomischer Natur sind. Dazu gehören unter anderem eine Verschärfung der Diskrepanz zwischen Industrie- und Entwicklungsländern und damit eine Bedrohung für die internationale Sicherheit, eine weltweite Verschlechterung der Gesundheitssituation (hitzebedingte Erkrankungen, Verbreitung von Krankheiten, die mithilfe von Überträgern verbreitet werden), klimabedingte Migrationsbewegungen (Flucht vor Naturkatastrophen, Wasserknappheit, Wüstenausbreitung und einem steigenden Meeresspiegel) sowie eine Zunahme des Sterbens von Tier- und Pflanzenarten mit den entsprechenden Produktionseinbußen in der Landwirtschaft. Auch diese Phänomene werden im Zuge des voranschreitenden Klimawandels zunehmen.

1.3Erschöpfung nicht erneuerbarer Ressourcen

Angesichts der zukünftig wachsenden Weltbevölkerung ist davon auszugehen, dass der weltweite Ressourcenverbrauch weiter steigen wird. Schon in der Vergangenheit ist der weltweite Verbrauch der meisten natürlichen Ressourcen stark angestiegen, in der Regel stärker als die Zahl der Weltbevölkerung. Ursache hierfür ist der Umstand, dass im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums auch die Menge der pro Einwohner konsumierten Güter zunimmt und darüber hinaus die Ressourcenintensität der konsumierten Güter steigt. Damit werden die nicht erneuerbaren Ressourcen zunehmend knapp. Da diese Ressourcen jedoch die Grundlage der menschlichen Existenz sind, hat ihre Verknappung gravierende Folgen. Exemplarisch lässt sich dies am Beispiel der Wasserknappheit verdeutlichen: Wassermangel führt zu Ernteeinbußen, Nahrungsmittelknappheit und Hungersnöten, zu Produktionseinbußen im Bereich der industriellen Produktion und schließlich zu vermehrten Konflikten um Wasser (siehe Abbildung 2).

Der weltweit steigende Ressourcenverbrauch stellt in Kombination mit der Begrenztheit der nicht erneuerbaren Ressourcen eine enorme Herausforderung für das gesamte Wirtschaftssystem dar. Gegenwärtig basiert die wirtschaftliche Wertschöpfung – sowohl in den entwickelten als auch in den nicht entwickelten Volkswirtschaften – auf der Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen, allen voran der fossilen Energieträger Erdöl, Erdgas und Kohle. Auch wenn das genaue Volumen der weltweit noch verfügbaren und menschlich nutzbaren Öl-, Gas- und Kohlevorkommen unbekannt ist, kommen wir nicht um die Erkenntnis herum, dass uns diese Ressourcen mittel- oder langfristig ausgehen. Damit aber geht die Basis der traditionellen wirtschaftlichen Wertschöpfung verloren.

Abbildung 2: Wasserversorgung der Weltbevölkerung im Jahr 2005 verglichen mit dem Jahr 2025

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Hinweis: Weltbevölkerung 2005: 6,5 Milliarden; Weltbevölkerung 2025: 7,9 Milliarden (mittlere Projektion); Wasserknappheit: verfügbares erneuerbares Süßwasserangebot pro Kopf und Jahr liegt zwischen 1.001 und 1.666 m3; Wassermangel: Süßwasserangebot pro Kopf und Jahr beträgt 1.000 m3 oder weniger.

Quelle: Statista auf Grundlage von Daten der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung

1.4Voranschreitende ökonomische Globalisierung

Die voranschreitende ökonomische Globalisierung beschreibt eine immer engere wirtschaftliche Verflechtung aller Staaten der Welt durch den zunehmenden Austausch von Gütern und Dienstleistungen, Kapital, Technologien und Arbeitskräften. Die so verstandene Globalisierung hat grundsätzlich positive Wachstumseffekte für die beteiligten Volkswirtschaften (siehe hierzu auch den Beitrag »In einer veränderten Weltwirtschaft« in diesem Buch).

Allerdings profitieren nicht alle beteiligten Länder und Menschen gleichermaßen:

Die internationale Arbeitsteilung und die damit verbundenen grenzüberschreitenden Handelsaktivitäten führen in den entwickelten Industrienationen dazu, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) aller beteiligten Volkswirtschaften steigt. Gleichzeitig produziert diese Form der Globalisierung in jedem Land neben Gewinnern auch Verlierer. In den Industrienationen sind dies die Arbeitskräfte, vor allem gering qualifizierte Personen sowie die Beschäftigten in Sektoren, die in besonderem Maße in Konkurrenz mit Schwellenländern (vor allem China und osteuropäischen Volkswirtschaften) stehen.

Tabelle 2: Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in US-Dollar-Kaufkraftparität, sortiert nach der prozentualen Veränderung

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Quelle: IMF 2016

Tabelle 2