Die Klinik am See – 18 – Ihr sehnlichster Wunsch

Die Klinik am See
– 18–

Ihr sehnlichster Wunsch

Sie hatte alles – nur kein Kind

Britta Winckler

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-540-6

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Das Ehepaar Gläser schlenderte die Uferpromenade entlang. Es roch nach Frühling. Fast über Nacht waren die Wiesen ergrünt, und die Bäume trugen Blätter und Knospen. Arno hatte seinen Arm um die Hüfte seiner Frau gelegt, auf deren Gesicht ein verträumtes Lächeln lag. Arno sah es, er zog sie enger an sich.

»Denkst du das Gleiche wie ich?«, flüsterte er, den Mund in ihr dunkles Haar drückend.

Rita wandte ihm das Gesicht zu, und er fand, dass sie sehr hübsch aussah. Ihr Alter sah man ihr auf keinen Fall an. Fünfzehn Jahre waren sie nun schon verheiratet.

»Es ist lange her, seit wir mal an einem Wochentag Zeit zu einem Spaziergang fanden.« Sie sah ihn an, und auf ihrem Gesicht lag noch immer ein sie verjüngendes Lächeln.

»Ich verspreche dir, dass dies nun öfter der Fall sein wird. Ich werde weniger arbeiten, ich werde mehr Zeit für meine Familie haben.« Er trat einen Schritt zurück, sein Blick glitt ihre Gestalt entlang. Noch war sie rank und schlank. Keiner konnte sehen, dass sie neues Leben in sich trug.

»Das ist schön!« Sie sagte es mit einem tiefen Seufzer, denn in den letzten Jahren hatte sie sich oft einsam gefühlt. Arno hatte sich in die Arbeit gestürzt und hatte die Baufirma, die er von seinem Vater übernommen hatte, beträchtlich vergrößert. So hatten sie immer weniger Zeit füreinander gehabt.

»Rita, ich habe viel erreicht. Jetzt weiß ich aber endlich, warum ich so hart gearbeitet habe.« Seine Hände legten sich auf ihre Schultern.

Ihre Zähne bohrten sich in die Unterlippe, aber sie wich seinem Blick nicht aus. Sie wusste, wie sehr er sich ein Kind, einen Sohn, wünschte. Gleich nach ihrer Heirat hatte sie eine Fehlgeburt gehabt. Immer wieder hatten sie es versucht, doch es war zu drei weiteren Aborten gekommen, und dann hatte es nicht mehr geklappt. Nun hatte der Frauenarzt eine erneute Schwangerschaft festgestellt. Es war wie ein Wunder, sie hatten beide nicht mehr daran geglaubt.

»Wir müssen sehr vorsichtig sein. Wir werden uns genau an das halten, was dir der Frauenarzt vorgeschlagen hat.«

Jetzt musste Rita lächeln. Ihr Mann verbesserte sich sofort: »Ich werde dir zur Seite stehen. Frische Luft, Spaziergänge, die schaden nicht. Du musst aber auch viel ruhen und vor allem regelmäßig Dr. Munter aufsuchen.«

»Ich weiß! Dr. Munter hat aber auch gesagt, dass alles in Ordnung ist. Der Embryo sitzt fest. Der dritte Schwangerschaftsmonat ist bald zu Ende, und ich habe keine Blutungen gehabt.« Sie sah, wie sich sein Gesicht unwillig verzog. »Du musst keine Angst haben. Ich will das Kind genauso sehr wie du. Ich werde mich also genau an die ärztlichen Anordnungen halten. Aber ich finde es schön, wenn du nun öfter Zeit für mich haben wirst.«

»Die habe ich! Dr. Munter hat mir versichert, dass gegen kleine Ausflüge nichts einzuwenden ist. Die Tage werden milder und länger, wir werden sie genießen. Wir werden noch einmal von vorn beginnen. Es wird unser Frühling und Sommer und dann im Herbst …« Er sprach nicht weiter, musste sich räuspern. Über der vielen Arbeit hatte er ganz vergessen gehabt, wie schön das Leben sein konnte. »In einem Jahr werden wir unseren Sohn spazieren führen. Wir werden öfter mit ihm an diesen See fahren. Hier gibt es keine Industrie, nur Natur.« Bei seinen letzten Worten ließ er den Blick hinaus auf den See wandern. Erst nach einigen Sekunden merkte er, dass Ritas Stirn sich gekräuselt hatte.

»Bist du nicht einverstanden?«, fragte er irritiert.

»Natürlich!« Sie lächelte wieder. »Nur, was machst du, wenn es kein Sohn wird?«

Er stutzte. »Entschuldige, ich werde natürlich auch mit unserer Tochter spazieren gehen. Nur …« Er streckte sich, wippte wie ein Junge auf den Zehenspitzen. »Ich bin sicher, dass es ein Junge wird. Er wird mein Nachfolger. Daher müssen wir uns auch so beeilen, ich habe nicht vor, ewig für alles verantwortlich zu sein.«

Rita musste nun lachen, obwohl sie es gar nicht wollte. »Unser Kind ist noch nicht einmal geboren. Zuerst wird es die Grundschule besuchen müssen, dann das Gymnasium. Es wird studieren. Arno, das sind Jahre!«

»Jedenfalls werden wir dafür sorgen, dass unser Sohn die besten Schulen besucht. Das Gleiche gilt natürlich auch für ein Mädchen«, setzte er rasch hinzu. »Es kommt nur eine gute Privatschule infrage. Ich werde mich umhören.« Eifrig sprach er weiter: »Die besten Schulen gibt es sicher in der Schweiz. Wir werden uns in der Schweiz nach einem geeigneten Domizil umsehen. Was würdest du vorziehen, St. Moritz oder Lugano? Wir werden den Sommer in der Schweiz verbringen, natürlich nur, wenn Dr. Munter nichts dagegen hat. Vielleicht kann er uns auch einen guten Kollegen empfehlen. Wichtig ist, dass du unter ständiger Kontrolle bist.«

»Hast du ›wir‹ gesagt?«, fragte Rita, und ihre Augen glänzten.

»Ja«, bestätigte Arno, ohne zu zögern. »Ich habe doch gesagt, dass ich mir Zeit nehmen werde, Zeit für dich und später auch für unser Kind. Ich weiß, Rita, wir haben viel nachzuholen.«

Rita nickte. Sie war glücklich. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so glücklich gewesen war. Da war sein Arm, der sich wieder um ihre Hüfte legte. Es war schön, seine Nähe zu spüren. Sie gingen weiter. Sie kannte die Uferpromenade von Auefelden. Als junges Ehepaar waren sie oft an diesen See gefahren. Aber noch nie war ihr der See so schön erschienen wie heute. Sie setzten sich auf eine Bank. Der Strauch hinter ihnen trug bereits gelbe Blüten. Ihre Hände fanden sich, auch dies war in den letzten Jahren nicht mehr geschehen.

Entspannt saß Rita da, dann wandte sie den Kopf und sah ihn an. Sie sah die Fältchen um seine Augen, sah die ersten grauen Haare. Sie sah diese zum ersten Mal. Sie hob die Hand und fuhr über seine Stirn, auch dort hatten sich Fältchen eingenistet. Sie liebte ihn. Ihr wurde klar, dass sie nie aufgehört hatte, ihn zu lieben.

Der Bauunternehmer fing ihre Hand ein, zog sie an die Lippen. Die Wärme in seinen Augen ließ sie erschauern. Sie legte den Kopf an seine Schulter und sagte leise: »Weißt du, dass ich nahe daran war, dich zu verlieren?«

»Verlieren? Nein!« Sachte strich er über ihr Haar. »Ich habe nie an eine andere Frau gedacht. Es ist für mich nur alles zur Gewohnheit geworden. Du warst da, wenn ich nach Hause gekommen bin. Du hast sehr viel Geduld mit mir gehabt. Ich danke dir dafür.«

Rita sagte nichts, aber sie kuschelte sich enger in seinen Arm. Sie hatte oft gehen wollen, besonders in den letzten Monaten. Da hatte sie das Gefühl gehabt, dass er ihre Anwesenheit überhaupt nicht mehr bemerkt hatte. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, irgendwo ein neues Leben anzufangen. Ihre Hand legte sich schützend über ihren Leib. Sie glaubte fest daran, dass sich jetzt alles ändern würde.

»Wir sollten gehen«, mahnte Arno. »Es wird kühler, die Sonne nähert sich bereits dem Bergrücken. Du erkältest dich am Ende noch.«

Es war schön, dass er sich um sie sorgte, auch wenn er dies nur wegen des Babys tat. Sie erhob sich sofort.

»Wir werden ein Café aufsuchen«, schlug Arno vor. Er hatte nach ihrer Hand gegriffen. »Du musst etwas essen.«

»Aber ich habe doch zu Mittag gegessen.«

Arno machte eine abwehrende Bewegung. »Das ist schon drei Stunden her. Hast du keinen Appetit? Vielleicht auf ein Stück Kuchen mit viel Sahne? Du darfst nicht vergessen, du musst jetzt für zwei essen.«

»Einverstanden!« Rita lächelte, und dieses Lächeln machte sie um zehn Jahre jünger.

Hand in Hand gingen sie zurück durch den Kurpark. Wenige Meter vom Park entfernt lag das Café. Dort begann auch die Einkaufsstraße. Rita hängte sich bei ihrem Mann ein, zog ihn vom Eingang des Cafés weg. »Wir wollen noch Auslagen anschauen. Wir müssen das Zimmer neben unserem Schlafzimmer als Kinderzimmer einrichten. Dann brauchen wir eine Wiege …« Sie begann aufzuzählen.

Lachend unterbrach Arno sie: »Du willst doch nicht bereits einkaufen?«

»Nein, aber es gibt so süße Babysachen. Lass uns diese wenigstens ansehen.«

»Einverstanden!« Er war nur zu gern dazu bereit.

Im Weitergehen schmiedeten sie Pläne. Sie sprachen über die Tapete für das Kinderzimmer, über das erste Spielzeug, das sie für ihr Kind kaufen wollten. Plötzlich verhielt Rita den Schritt, sie deutete über die Straße. »Sieh nur, dort ist ein Kindermodengeschäft. Sicher haben sie auch Babysachen.« Sie entzog Arno den Arm, und ehe dieser sie zurückhalten konnte, war sie auf die Straße hinausgetreten.

Bremsen quietschten. Während Arno erschrocken den Namen seiner Frau rief, starrte diese entsetzt dem Auto entgegen. Abwehrend hob sie die Hände, trat einige Schritte zurück, stolperte dabei über ihre eigenen Füße und fiel hin. Einige Meter vor ihr kam das Auto zum Stehen.

*

Dr. Hendrik Lindau sprang aus dem Auto. Auch er hatte eine Schrecksekunde gehabt, doch jetzt war er vor Arno Gläser bei der am Boden liegenden Frau. Seine Finger griffen automatisch nach ihrem Handgelenk, suchten den Puls. »Sind Sie verletzt, haben Sie Schmerzen?«, fragte er.

Benommen hob Rita Gläser den Kopf. »Das Auto, es war plötzlich da. Ich bin gestolpert.« Sie setzte sich auf, stöhnte. Ihre Hand presste sich auf ihren Unterleib.

»Rita! Was ist mit meiner Frau?« Arno war nun herangeeilt, ging neben Dr. Lindau in die Knie. »Was haben Sie mit meiner Frau gemacht?«

»Ihre Frau ist mir vor das Auto gelaufen«, sagte Dr. Lindau ruhig. »Zum Glück konnte ich rechtzeitig bremsen. Ihre Frau ist erschrocken, sie muss gestolpert sein.« Er stutzte, sah in das schmerzverzerrte Gesicht der Frau. »Wo tut es Ihnen weh? Können Sie aufstehen?« Seine Hand betastete den Fußknöchel. Er erwartete ihren Schmerzensruf, doch nichts dergleichen geschah. Er hob den Kopf. Das Gesicht der Frau war noch immer gezeichnet von Schmerzen. Sie saß nun aufrecht da, beide Hände gegen den Unterleib gepresst.

»Es ist, als ob ein Messer …« Jetzt stöhnte Rita.

»Mein Kind!«, rief Arno. »Ein Arzt!«, fuhr er Dr. Lindau an. »Rufen Sie einen Arzt!«

»Dr. Lindau! Ich bin Mediziner.« Der Chefarzt der Klinik am See wandte sich sofort wieder der Frau zu. »Sie haben Schmerzen? Stiche im Unterleib? Kommen Sie, Sie können nicht hier sitzen bleiben.« Er hakte sie unter, versuchte ihr aufzuhelfen.

»Wenn Sie Arzt sind, dann helfen Sie meiner Frau«, forderte Arno erregt. »Begreifen Sie doch, sie ist schwanger.«

Mühsam war Rita auf die Beine gekommen. »Unser Kind, ich darf es nicht verlieren.« Sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. »Ich glaube, ich blute.«

»Kommen Sie mit, ich werde Sie untersuchen. Ich bringe Sie in die Klinik.« Dr. Lindau schob Rita zu seinem Auto.

»Haben Sie überhaupt begriffen, worum es geht?«, fragte Arno. Er atmete heftig. Seine Erregung war gestiegen. Er griff nach dem Arm des Arztes. »Seit Jahren hoffen wir auf ein Kind! Meine Frau hatte einige Fehlgeburten, und dann, dann klappte es nicht mehr.«

»Tut mir leid! Ich werde mein Möglichstes tun.« Dr. Lindau öffnete die Autotür. »Steigen Sie ein. Ich bin Facharzt für Frauenleiden. Die Klinik am See ist eine Frauenklinik.«

»Herr Doktor, können Sie mir helfen? Sie müssen etwas tun, bitte!« Verzweifelt sah Rita dem ihr unbekannten Mann ins Gesicht. Ein erneuter Stich durchzuckte ihren Unterleib. Sie presste die Lippen zusammen, krümmte sich etwas. Da war die Hand des Arztes. Mit sanfter Gewalt schob er sie auf den Beifahrersitz.

»Ich werde Sie sofort untersuchen. Wir müssen uns beeilen.« Dr. Lindau war nun ebenfalls erschrocken, er befürchtete das Schlimmste. Trotzdem wollte er die Frau nicht unnötig ängstigen, so lächelte er ihr aufmunternd zu.

»Tun Sie doch etwas, Herr Doktor«, forderte Arno unnötigerweise. »Es ist Ihre Schuld, wenn meine Frau das Kind verliert. Ich mache Sie dafür verantwortlich.«

»Nicht, Arno!«, bat Rita. Trotz ihrer Schmerzen versuchte sie, vernünftig zu bleiben. »Ich war unvorsichtig. Ich habe nicht auf den Verkehr geachtet.« Eine neue Welle des Schmerzes durchfuhr ihren Leib. Erst nach einigen Sekunden konnte sie wieder sprechen. »Ich darf das Kind nicht verlieren. Wir haben uns so gefreut. Wir wollen das Kind! Dr. Lindau«, sinnend sprach sie seinen Namen aus. »Jetzt erinnere ich mich. Man hat mir bereits von Ihnen und der Klinik am See erzählt. Ich wollte Sie auch schon aufsuchen. Dann wurde ich jedoch wieder schwanger.«

»Genau«, mischte sich ihr Mann ein. »Wir hatten die Hoffnung schon aufgegeben. Wir sind nicht mehr die Jüngsten. Fünfzehn Jahre sind wir bereits verheiratet.« Er atmete tief durch. »Ihre Klinik hat einen guten Ruf. Sie müssen sich um meine Frau kümmern. Ich werde für alles aufkommen.«

»Wie Sie sehen, will ich Ihre Frau in die Klinik fahren. Wollen Sie mitkommen?« Dr. Lindau wandte sich nun an den Mann.

»Selbstverständlich!« Arno fuhr auf. Als er jedoch Dr. Lindaus Blick begegnete, besann er sich. »Entschuldigen Sie! Bitte, nehmen Sie mich mit. Ich möchte jetzt bei meiner Frau sein. Gerade vorher machten wir noch Pläne. Mein Name ist übrigens Gläser. Vielleicht haben Sie schon von dem Bauunternehmen Gläser gehört. Wir kommen aus Miesbach.«

»Gut, Herr Gläser, steigen Sie ein!« Während der Chefarzt dies sagte, setzte er sich bereits hinter das Steuer. Die Spaziergänger, die sich rasch angesammelt hatten, wichen zurück. Einige hatten Dr. Lindau erkannt. Es hatte sich rasch herumgesprochen, dass er der Chefarzt der Klinik am See war. Dr. Lindau war in Auefelden kein Unbekannter. Zuerst hatte er die Praxis des alten Dr. Bergmann übernommen und dort angefangen, intensive Hilfe bei Schwangerschafts- und Geburtsproblemen zu leisten. Der Grund dafür war, dass er seine eigene Frau durch eine Geburt verloren hatte. So hatte er auch Sonja Parvelli geholfen, und als Dank dafür hatte sie ihm ihr Schloss in Form einer Stiftung überlassen. Daraus war die Frauenklinik am See geworden.

Jetzt gab Dr. Lindau Gas. Er setzte das Auto zurück und wendete.

»Ich blute, Herr Doktor«, sagte Rita hilflos. Sie versuchte den Kopf zu wenden. »Arno, hast du nicht ein Taschentuch für mich? Ich bin sicher, ich beschmutze den Sitz.«

»Mein Gott, das Kind! Herr Doktor, kann man gar nichts tun?« Entsetzt beugte sich Arno nach vorn.