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Maria Braig

Das heimliche Mädchen und der Dancing Boy





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Shirin

Shirin war auf dem Weg von der Schule nach Hause. Heute war ein guter Tag, die Lehrerin hatte sie sehr gelobt, weil sie den besten Aufsatz der Klasse geschrieben hatte. Shirin beeilte sich, sie wollte möglichst schnell nach Hause kommen, um den Eltern davon zu berichten. Sie würden sich sehr freuen, das wusste Shirin, denn ihnen war wichtig, dass ihre Tochter die Schule besuchte und gut lernte.

„Nur wer eine gute Schulbildung besitzt, kann später über sein Leben selbst bestimmen“, das bekam Shirin immer wieder von Vater und Mutter zu hören. Beide hatten als Kinder noch ein ganz anderes Afghanistan erlebt, als Shirin es heute kannte.

Manchmal zweifelte Shirin an diesem Lieblingssatz der Eltern, denn schon die Großeltern hatten beide die Hochschule besucht und waren schließlich doch nicht in der Lage gewesen, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Shirin konnte sich nur schwach an sie erinnern, erst war der Großvater, ein paar Jahre später die Großmutter gestorben. Bis zuletzt hatten sie gehofft, es kämen wieder andere Zeiten und der Großvater, der bei der Regierung in Ungnade gefallen war, könnte zurück an die Hochschule und die Großmutter könnte wieder als Lehrerin arbeiten und ohne Burka auf die Straße gehen. Aber sie hatten den Wandel nicht mehr erlebt.

Shirins Vater hatte zwar ebenfalls studiert, aber als Sohn seines missliebigen Vaters keine entsprechende Stelle bekommen, und arbeitete mal hier und mal dort, um mit seiner Familie eher schlecht als recht über die Runden zu kommen. Die Mutter war in Zeiten groß geworden, als Mädchen keine öffentlichen Schulen besuchen durften. Im Geheimen hatten Lehrerinnen bei sich zu Hause unterrichtet und dort hatte auch Shirins Mutter eine einigermaßen gute Schulbildung bekommen, aber eine Ausbildung hatte sie nicht machen können, an ein Studium war gar nicht zu denken.

Es war nicht immer so gewesen in Afghanistan. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Jungen und Mädchen gemeinsam zur Schule gingen, in denen Männer und Frauen studieren konnten und anschließend in ihren gewählten Berufen arbeiteten, so hatten die Eltern erzählt. Allerdings hatte es immer schon große Unterschiede zwischen dem Leben in den großen Städten und dem auf dem Land gegeben. In den Dörfern, erst recht in solchen, die weit weg von den großen Zentren oder in den Bergen angesiedelt waren, mussten die Kinder meist arbeiten, anstatt zur weit entfernten Schule zu gehen, und die Menschen erfuhren weniger vom Weltgeschehen als in der Stadt. Hier hatten die Frauen immer schon weniger Rechte und weniger Wert als die Männer.

Dann kam die sowjetische Invasion in Afghanistan. Soldaten aus der Sowjetunion, einem Land, das es heute gar nicht mehr gab, waren gekommen und hatten die Macht übernommen. Auch in dieser Zeit war nicht alles gut gewesen, denn Krieg bedeutet immer Unrecht und Gewalt, und zu leiden haben am meisten die, die an den militärischen Auseinandersetzungen gar nicht beteiligt sind. Aber die sowjetischen Soldaten hatten versucht, den Menschen auf dem Land Lesen und Schreiben beizubringen und wer es sich leisten konnte, durfte weiterhin eine gute Ausbildung machen oder studieren. Männer genauso wie Frauen. In den großen Städten galten die Frauen fast so viel wie die Männer. Fast nur – aber immerhin hatten sie viel mehr Möglichkeiten als heute.

Dann kamen die Taliban, unterstützt von den westlichen Feinden der Sowjetunion, deren Ziel es war, mit Hilfe dieser einheimischen Rebellen die sowjetische Armee aus dem Land zu werfen und selbst an Einfluss zu gewinnen. Aber dann hatten die Taliban ihre ausländischen Unterstützer nicht mehr gebraucht und allein die Macht in Afghanistan übernommen. Die Sowjets mussten das Land verlassen, es kam zum Bürgerkrieg, den Frauen wurden alle Rechte genommen und nur ganz mutige Familien schickten ihre Töchter in geheime Schulen. Schule gab es laut Gesetz nur für Jungen, die Mädchen und Frauen hatten zu Hause zu bleiben und den Männern zu dienen.

Viele Jahre überdauerte die Herrschaft der Taliban, dann kam der nächste große Krieg, weil das ganze Land dafür bestraft werden sollte, dass ein paar wenige Terroristen, deren Drahtzieher in Afghanistan vermutet wurden, in Nordamerika Anschläge verübt und sehr viele Menschen getötet hatten. Die meisten Menschen in Afghanistan verstanden nicht, was sie damit zu tun hatten, und viele von ihnen kamen in einem Krieg ums Leben, den sie nicht gewollt hatten, der von den Angreifern aber Befreiungskrieg genannt wurde. Die Taliban sollten verjagt werden, weil sie angeblich die Hintermänner der Anschläge versteckten, so hieß es. Und die Menschen in Afghanistan sollten von der Unterdrückung durch die Taliban und die Frauen von der Unterdrückung durch die Männer und den alltäglichen Ungerechtigkeiten befreit werden. Das alles war schwer zu verstehen, fand Shirin. Sie sollten zugleich bestraft und befreit werden, und viele starben, obwohl sie nie jemandem etwas zuleide getan hatten. Aber das waren Erwachsenendinge, die musste sie schließlich auch nicht verstehen.

Da die Menschen in Afghanistan nichts gegen die Bomben und Minen und die Angriffe der fremden Soldaten tun konnten, hatten sie versucht, an die Befreiung zu glauben und viele, die die besseren Zeiten noch erlebt oder deren Eltern ihnen davon erzählt hatten, hatten sich erhofft, dass nun wenigstens bald alles wieder so sein würde, wie in den guten Zeiten Afghanistans. Leider war das so nicht eingetroffen. Viele Warlords (Kriegsherren, die über einzelne Regionen herrschen) hatten zwar die Seiten gewechselt, nicht aber ihr Verhalten. Sie unterstützten nun zwar nicht mehr die Taliban, sondern standen auf Seiten der westlichen Befreier, ansonsten hatte sich aber nichts verändert. Die Warlords besaßen weiterhin die Macht und nutzten dies gründlich aus.

Allerdings war es den Mädchen jetzt wieder erlaubt, öffentliche Schulen zu besuchen – wenn die Familien sich das leisten konnten und wenn es die Umstände und die Eltern und Großeltern erlaubten und die Taliban, die in manchen Regionen des Landes immer noch die Macht besaßen, fern waren. Bei Shirin war das der Fall, und sie freute sich darüber.

 

Shirin liebte es, zur Schule zu gehen. Sie lernte gerne und mochte es, nicht immer zu Hause sitzen, sondern sich mit anderen Mädchen zu treffen, mit ihnen zu lernen und zu spielen. Bald wäre sie alt genug, um die Burka tragen zu müssen, wenn sie das Haus verließ. Das war zwar nicht mehr Vorschrift wie früher, aber ihre Mutter würde sie aus Sorge um die Sicherheit der Tochter nicht ohne aus dem Haus gehen lassen, wenn ihr Körper erst einmal die äußerlichen Anzeichen einer Frau entwickelte. Immer noch liefen Frauen ohne Burka Gefahr, von Männern angegriffen und belästigt zu werden. Viele Männer wollten nicht einsehen, dass Frauen gleiche Rechte haben sollten wie sie selbst, nur weil jetzt andere Regeln galten, die sie nicht selbst gemacht hatten, sondern die ihnen durch einen Krieg von außen aufgezwungen wurden. Mit Gewalt sollte ihnen klar gemacht werden, dass sie keine Gewalt gegenüber Frauen ausüben durften, so erlebten sie den Wandel in der Gesellschaft und viele wehrten sich dagegen, und Frauen ohne Burka lebten weiterhin in ständiger Gefahr. Shirin war wild entschlossen, die Zeit ohne Burka so lange wie möglich zu genießen, aber sie würde auch mit ihr zur Schule gehen, wenn es eben nicht anders ging, das stand für sie fest.

Der Schulweg war weit. Shirin musste früh morgens zu Fuß vom Dorf, in dem ihre Familie lebte, in das nächste, ein wenig größere Dorf, in dem sich die Schule befand, gehen, und am Nachmittag wieder zurück. Aber nun hatte sie es bald geschafft, sie sah schon die Dächer ihres Dorfes in der Sonne funkeln.

Irgendetwas war komisch, so schien es ihr, als sie sich dem Haus näherte, in dem sie zusammen mit Vater und Mutter und den beiden kleinen Schwestern lebte. Eigentlich sah alles aus wie immer, aber doch lag etwas Beunruhigendes in der Luft. Als Shirin die Haustür öffnete, hörte sie ihre Mutter weinen und die Tante beruhigend auf sie einreden. Shirin erschrak. Die Tante wohnte nicht hier und kam nur ganz selten zu Besuch.

Als sie ins Zimmer trat, fiel ihr Blick zuerst auf die beiden kleinen Mädchen, die still und mit großen Augen in der Ecke auf dem Teppich saßen. Ihre kleinen Schwestern tobten sonst fast ohne Unterbrechung im Haus herum, bis die Eltern sie hinausschickten. Dann machten sie ihrer anscheinend grenzenlosen Energie im Freien Luft. Die beiden so still und regungslos zu sehen, jagte Shirin einen riesigen Schrecken ein.

„Was ist los?“, fragte sie, aber Nila und Nesrin saßen nur stumm da und starrten Shirin mit angstvollen Augen an. Dann fiel Shirins Blick auf die Mutter, die auf ihrer Schlafmatte lag und abwechslungsweise vor sich hin schluchzte oder laut jammerte und schrie.

„Mutter“, wollte Shirin rufen, aber die Stimme versagte ihr. Dennoch hatte die Tante, die neben der Mutter am Boden kniete, sie bemerkt. Sie drehte sich um, sah Shirin an und erhob sich.

„Shirin“, sagte sie ernst und leise und ging auf das Mädchen zu, um es in den Arm zu nehmen. Aber Shirin trat einen Schritt zurück.

„Was ist passiert?“, fragte sie leise. „Wo ist Vater?“

„Du musst jetzt sehr stark sein“, sagte die Tante und Shirin hätte sie am liebsten dafür geschlagen. Diesen Satz kannte sie aus Büchern und Geschichten und fand ihn schon da unmöglich – jetzt konnte sie das einfach nicht ertragen.

„Was ist los? Wo ist Vater?“, schrie sie nun lauthals, so dass sogar die Mutter auf ihrer Schlafmatte für kurze Zeit verstummte und den Kopf hob. Die Tante setze sich auf eines der Sitzkissen, die auf dem Boden lagen, und zog Shirin zu sich herunter.

„Dein Vater hatte heute einen Auftrag beim Minenräumen. Du weißt, dass er das manchmal macht, um genug Geld für euch alle zu verdienen. In der Autowerkstatt gibt es ja nicht immer Arbeit für ihn.“

„Was ist mit ihm?“, fragte Shirin, hatte aber bereits verstanden, bevor die Tante in ihrer Erklärung fortfuhr.

Der Vater war tot! Ihr Vater war tot, weil er eine Mine aus diesem schrecklichen Krieg hatte wegräumen wollen, damit sie kein Kind zufällig beim Spielen zerriss. Und nun hatte die Mine ihn zerrissen. Eine Mine, die irgendwer gelegt hatte, man wusste nicht mehr, welche Seite wo was hinterlassen hatte, und Shirin war das auch völlig egal. Sie hatten sich gegenseitig erschossen, sie hatten Männer, Frauen und Kinder getötet und sie töteten sie immer noch durch ihre Hinterlassenschaften. Shirin hatte einige Kinder in der Schule gesehen, die noch Glück gehabt hatten und nun mit nur einem Bein oder einem Arm weiterlebten.

Am liebsten hätte Shirin sich wie die Mutter einfach unter ihrer Decke verkrochen und geheult und geschrieen, aber sie konnte nicht weinen. Der Vater war tot! Sie versuchte zu begreifen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Es konnte doch nicht sein, dass er nicht mehr zurück kam, dass er nicht heute Abend mit ihnen zusammen essen würde, erzählen würde, wie sein Tag gewesen war und sich von der Mutter, den beiden Kleinen und Shirin erzählen ließ, wie der ihre verlaufen war. Es konnte nicht sein, dass der Vater sie nie mehr loben würde dafür, wie gut sie in der Schule war und dass sie heute den besten Aufsatz der Klasse mit nach Hause gebracht hatte. Und doch war er nicht da. Shirin blieb nichts anderes übrig, als der Tante zu glauben, als diese von seinem Tod erzählte.

Sie durfte den Vater nicht mehr sehen, das wäre „besser so“, sagte die Tante – und Shirin konnte noch immer nicht weinen.

 

Auch nachdem der Vater beerdigt worden war, was die Tante gemeinsam mit ihrem Mann und anderen Verwandten organisiert hatte, verbrachte die Mutter immer noch die meiste Zeit auf ihrer Schlafmatte. Sie weinte nur noch selten, aber sie sprach auch nicht und schien nur vor sich hinzudämmern. Die Tante kam alle paar Tage und brachte fertig gekochtes Essen für mehrere Mahlzeiten mit. Shirin blieb zu Hause und passte auf die kleinen Schwestern auf. Sie war verzweifelt. Was sollte sie tun, wenn die Mutter nicht mehr aufstehen würde? Wann könnte sie wieder zur Schule gehen und wie sollte alles weitergehen, wenn die Tante irgendwann nicht mehr kam? Sie hatte ja ihre eigene Familie im Nachbardorf und selbst genügend Sorgen und Arbeit, und sie, Shirin, konnte doch nicht für die Mutter und die Schwestern sorgen.

Doch dann schien irgendetwas mit der Mutter passiert zu sein. Eines Tages stand sie frühmorgens auf, wusch sich lange und ausgiebig und kochte Tee für alle. Sie versammelte ihre drei Töchter um den kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers, setzte sich zu ihnen, sah sie lange an, räusperte sich und begann zu sprechen.

„Ich bin wieder da“, sagte sie. „Es tut mir leid, dass ich euch so lange allein gelassen habe. Aber ich habe euren Vater sehr geliebt und mein Leben ist in einem einzigen Augenblick zusammengebrochen. Deshalb bin auch ich zusammengebrochen. Ich wollte nicht mehr leben und wusste nicht, wie ich euch weiter am Leben erhalten sollte. Ich wollte nur noch schlafen, nichts sehen und nichts hören und warten, bis auch mein Leben zu Ende ginge. Aber heute Nacht habe ich von eurem Vater geträumt. Er hat mich an meine Verantwortung für euch Drei erinnert. Euer Vater wird nicht mehr zurückkommen, damit müssen wir uns abfinden, aber er will, dass wir leben.

‚Ayla, du musst aufstehen und für unsere Töchter da sein!‘, sagte er immer wieder zu mir. Und irgendwann im Lauf der Nacht habe ich verstanden. Unser Leben muss weitergehen, auch ohne ihn, und die Tante hat mit ihrer eigenen Familie genug zu tun. Wir müssen wieder selbst für uns sorgen. Im Traum habe ich gesehen, wie es weitergehen kann mit uns.“

Nach einer kurzen Pause wandte sie sich an Shirin.

„Du bist meine große Tochter“, fuhr sie fort. „Wenn du heute aus der Schule kommst, dann müssen wir reden und Pläne für die Zukunft machen.“

Shirin, die noch immer nicht weinen konnte, freute sich zum ersten Mal seit dem Tod des Vaters wieder. Sie freute sich, dass die Sonne schien, dass sie selbst am Leben war und vor allem, dass sie endlich wieder zur Schule gehen durfte. Die Mutter war wieder da! Jetzt würde alles wieder gut. Fast alles, so gut es eben werden könnte ohne den Vater, den sie so sehr geliebt hatte. Shirin machte sich auf den Weg, ohne die Schatten zu sehen, die über ihr lagen und die die Pläne ihrer Mutter für sie bedeuteten.

 

 

 

Bacha Posh

 

Als Shirin am späten Nachmittag aus der Schule zurück kam, hatte die Mutter das Haus geputzt, wie früher Blumen aus dem Garten überall im Zimmer verteilt, und sie hatte Shirins Lieblingsessen gekocht. Die kleinen Schwestern maulten ein wenig herum, aber die Mutter beruhigt sie schnell: „Morgen koche ich etwas Besonderes für euch!“

Zusammen saßen sie alle nach dem Essen auf ihren Kissen und erzählten sich Geschichten davon, was sie mit dem Vater erlebt hatten. Jede hatte ein besonders wichtiges Ereignis zu schildern und zwischendurch weinten sie auch immer wieder, sogar Shirin konnte heute ein paar Tränen vergießen. Dann mussten die Kleinen ins Bett und die Mutter kochte Tee, stellte die gefüllten Gläser vor Shirin und sich und brachte eine Dose mit Keksen.

„Shirin, wir müssen jetzt für uns selbst sorgen“, begann Ayla. „Ich habe keinen Mann mehr und du keinen Vater. Ein wenig Erspartes ist uns geblieben, aber nicht allzu viel. Lange werden wir damit nicht auskommen. Und es gibt niemanden, der für uns da ist. Die Tante hat uns sehr geholfen in den ersten Tagen nach Vaters Tod, aber mehr kann sie nicht tun, sie hat ja selbst kaum etwas. Deine Schwestern sind noch zu klein, deshalb musst du mir jetzt helfen, allein schaffe ich das nicht.“

 

Shirin hörte zu und schwieg. Sie wusste nicht, wie sie mit der Mutter allein die Familie ernähren sollte. Frauen durften immer noch nur in den seltensten Fällen arbeiten und wenn sie es taten, wurden sie oft bedroht. Es gab eine Taxifahrerin, von der hatte Shirin irgendwo gelesen, die von ihren Brüdern mit Waffen beschützt werden musste, weil viele Männer es nach wie vor nicht gerne sahen, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten gingen. Es hatte sich kaum etwas zum Guten verändert in Afghanistan durch diesen Krieg, der angeblich die Frauen befreien sollte, fand Shirin. Sie durfte zwar laut Gesetz zur Schule gehen, aber auch das wurde von vielen Männern nicht gerne gesehen. Und dann, was kam nach der Schule? Frauen allein konnten noch immer kaum überleben, sie bekamen keine Ausbildung, keine feste Arbeit, wurden bedroht und geschlagen, wenn sie es wagten, ohne Burka auf die Straße zu gehen, und die wenigen Jobs, die es gab, bekam auf jeden Fall keine Frau, solange so viele Männer arbeitslos waren. Frauen wurden zur Ehe gezwungen und wenn sie sich weigerten, oft ermordet. Männer schlugen ihre Ehefrauen und verloren ihr Ansehen, wenn in der Öffentlichkeit der Anschein bestand, sie wären nicht die Gebieter zu Hause.

„Wir könnten zu Vaters Familie gehen, wo mich dann einer seiner Cousins heiraten wird“, fuhr die Mutter fort. „Bei der Beerdigung wollten sie uns schon mitnehmen, aber ich war glücklicherweise zu schwach und so haben sie die Entscheidung noch aufgeschoben. Wir könnten bei ihnen leben und sie würden uns alle versorgen. Sie werden dann aber auch über euch bestimmen und euch verheiraten, sobald ihr alt genug seid.“

Shirin schrak aus ihren Gedanken auf. Sie war schon bald alt genug, um verheiratet zu werden. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte zur Schule gehen und dann würde sie schon sehen, wie ihr späteres Leben verlief. Auf jeden Fall würde sie selbst bestimmen, wie es kommen würde und wen sie vielleicht einmal heiraten mochte.

„Nein, Mutter, das geht nicht …“

„Nein, das geht nicht, da hast du vollkommen recht. Ich will das nicht für euch und nicht für mich. Aber du weißt auch, dass eine Frau ohne Mann in unserem Land nichts wert ist. Dass sie möglichst nicht aus dem Haus gehen sollte, um nicht als Freiwild für andere Männer zu gelten, und dass sie kaum eine Arbeit bekommen kann.“

Shirin nickte. „Aber was können wir sonst tun?“, fragte sie.

„Wir könnten nach Kabul gehen. Dort gibt es einen Ort, den Witwenhügel, wo Witwen mit ihren Kindern in selbstgebauten Hütten wohnen. Vielleicht könnte ich in der Stadt als Haushaltshilfe arbeiten? Aber wir wären dort ganz allein, ohne die Tante, ohne den Onkel, ohne irgendwelche Verwandten in der Nähe. Hier können sie zwar auch nicht allzu viel für uns tun, aber sie wohnen im nächsten Dorf und in der Not sind sie immer für uns da. Und was, wenn ich dann keine Arbeit finde oder sie wieder verliere? Und auch in Kabul ist das Leben für eine Frau allein mit ihren Kindern sehr gefährlich und unsicher.“

Shirin nickte wieder. Sie wollte nicht nach Kabul, sie hatte Angst vor einer völlig unbekannten Umgebung und sie wollte ihre Schulfreundinnen nicht verlieren.

„Shirin, es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Aber nur du kannst entscheiden, ob du bereit dafür bist.“

Shirin überlief es ein wenig, ihr war kalt. Das hörte sich sehr geheimnisvoll an und sie bekam Angst. Was meinte die Mutter? Was sollte sie entscheiden? Sie, Shirin, die gerade mal dreizehn Jahre alt war. Vor wenigen Tagen erst hatten sie noch mit dem Vater ihren Geburtstag gefeiert. Dreizehn Jahre reichten aus, um verheiratet zu werden, hatte der Vater erzählt und ihr erklärt, dass es solche Sitten auch heute noch gäbe, dass sie aber in einer Familie lebte, wo sie selbst entscheiden könnte, wen und wann sie heiratete – allerdings würde er ihr das frühestens erlauben, wenn sie 18 Jahre alt sei. Aber was konnte sie als 13jähriges Mädchen für ihre Familie tun? Was sollte sie entscheiden, was die Mutter nicht konnte?

Shirin sah die Mutter fragend an, sie wollte fragen, was sie denn meine, aber es saß ein Kloß in ihrem Hals, der sie am Sprechen hinderte.

 

„Shirin, weißt du, was eine Bacha Posh ist?“

Shirin nickte. In ihre Klasse war erst kürzlich eine Neue gekommen. Sie war schon 14 Jahre alt und ihre Brüste begannen sich zu entwickeln, das war nicht zu übersehen. Auffallend waren ihre Haare. Sie waren sehr kurz geschnitten, während alle anderen Mädchen in der Klasse lange Haare hatten. Die neue Mitschülerin erzählte, dass sie, seit sie noch ganz klein gewesen war, eine Bacha Posh war, bis sie vor wenigen Wochen zum ersten Mal ihre Tage bekommen hatte. Die anderen hatten nachgefragt, was für Tage, aber die Neue hatte nur wissend geschwiegen und gemeint, dafür wären sie noch zu jung, sie würden das schon erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen wäre. Aber immerhin hatte sie sich dazu herabgelassen, zu erklären, was Bacha Posh bedeutete.

„Meine Eltern hatten, als ich zur Welt kam, noch keinen Sohn, sondern nur vier Töchter außer mir. Deshalb wurde ich ihr Sohn. Ich bekam Jungenkleider und durfte alles tun, was Jungen tun. Ich war der Sohn meiner Eltern und so war die Ehre meines Vaters gerettet, der als Mann ohne Sohn von den anderen Männern ausgelacht worden wäre.“

Shirin überlegte, ob ihr Vater auch ausgelacht wurde, denn er hatte ja ebenfalls nur drei Töchter, und warum ihm das nichts ausgemacht hatte. Sie hatte ihn immer danach fragen wollen, sich aber nicht getraut, und jetzt war es zu spät.

Als sie nun also ihre Tage bekommen hatte – was auch immer das bedeutete – hatte sie das Leben eines Jungen aufgeben und sich in ein Mädchen zurückverwandeln müssen, erzählte die Bacha Posh weiter. Den Nachbarn hatte man erzählt, der Sohn wäre zu Verwandten nach Kabul gegangen, um dort eine gute Ausbildung zu bekommen und dafür hätte man die Tochter dieser Verwandten aufgenommen, damit diese nicht ein Kind mehr durchfüttern mussten.

Auf die Frage, wie sie selbst das denn finden würde, jetzt plötzlich als Mädchen zu leben und vieles nicht mehr tun zu dürfen, was sie als Junge getan hatte, blieb die Neue die Antwort schuldig. Shirin hätte gerne mehr erfahren, aber das frischgebackene Mädchen war nicht bereit, nähere Auskunft über ihr Leben als Bacha Posh zu geben. Sie schien nicht sehr glücklich zu sein in ihrer neuen Rolle, versuchte das aber mit Überheblichkeit den jüngeren Mädchen gegenüber zu überspielen und blieb einsam und ohne Freundin eine Fremde in der Klasse.

 

„Eine Bacha Posh“, fuhr die Mutter fort, ohne Shirins Nicken zu beachten, „ist ein Mädchen, das von ihren Eltern als Junge ausgegeben wird. Als Sohn, den sie nicht haben. Deinem Vater wurde das auch vorgeschlagen, als seine dritte Tochter auf die Welt kam und einige Männer sich die Mäuler über ihn zerrissen. Der Sohn des in Ungnade gefallenen Hochschuldozenten war nicht einmal in der Lage, einen Sohn zu zeugen. Aber dein Vater sagte nur: ‚Ich bin stolz auf meine drei Mädchen. Ihr werdet noch staunen, was aus ihnen einmal werden wird. Da könnt ihr mit all euren Söhnen einpacken.’“

Shirins Mutter machte eine Pause. Sie war den Tränen nahe, als sie sich an ihren Mann erinnerte und konnte nur mit Mühe weitersprechen.

„Eine Bacha Posh bleibt ein Junge, bis sie ihre Tage bekommt, bis sie beginnt zu bluten, wie Frauen das einmal im Monat tun. Das ist ein Zeichen, dass sie nun eine Frau ist und in der Lage, Kinder auf die Welt zu bringen. Dann muss die Bacha Posh wieder ein Mädchen werden, und die Eltern überlegen sich die abenteuerlichsten Geschichten, um zu erklären, warum von heute auf morgen ihr Sohn verschwunden ist und sie dafür eine junge Frau bei sich haben.“

Shirin hatte gespannt zugehört und konnte sich eine Frage nicht verkneifen: „Und was ist, wenn die Bacha Posh ein Junge bleiben will?“

„Die Eltern zwingen sie gewöhnlich dazu, als Mädchen weiterzuleben, sie wird gar nicht gefragt“, antwortete die Mutter. „Manchmal, sehr selten, kommt es allerdings auch vor, dass sich eine Bacha Posh durchsetzt und erfolgreich weigert, zum Mädchen zu werden. Sie muss dann ihre Familie verlassen und allein einen Weg zum Überleben finden.“

Shirin nickte. Sie hatte nun verstanden, was die Neue in ihrer Klasse mit meine Tage gemeint hatte und warum sie plötzlich nicht mehr Bacha Posh war und statt wie früher in einer Jungen- jetzt plötzlich in der Mädchenschule weiterlernte.

„Aber warum erzählst du mir das, Mutter?“, fragte Shirin schließlich ein wenig verwirrt.

„Shirin“, es schien der Mutter nicht leicht zu fallen, weiterzusprechen. „Shirin, du bist meine große Tochter. Dein Vater und ich haben dich vieles gelehrt und in der Schule bist du eine der Besten. Aber Shirin, wir sind jetzt in einer ganz neuen Situation. Nur du kannst uns helfen, als Familie zu überleben, wenn du …“, sie schluckte und zögerte, fuhr dann aber mit großer Anstrengung fort, „wenn du eine Bacha Posh wirst. Als Bacha Posh, als Junge, kannst du Geld verdienen, kannst dich bewegen wie und wo du willst, kannst mich begleiten, wenn ich bestimmte Gänge unbedingt selbst machen muss und sonst als Witwe allein auf der Straße als Freiwild für alle Männer gelte.“

Shirin erschrak.

„Und was ist mit der Schule?“, fragte sie, als ob das ihre einzige Sorge dabei wäre.

„In die Schule kannst du erst einmal nicht mehr gehen. Shirin. Es tut mir so leid, aber ich könnte auch nicht mehr bezahlen, was du für die Schule brauchst. Wir haben niemanden mehr, der uns ernährt – es bleibt uns nur, dass du versuchst, Geld zu verdienen. Vielleicht kannst du ja später wieder zur Schule gehen, wir werden sehen. Aber im Moment habe ich noch Geld für zwei Monate und dann weiß ich nicht mehr weiter. Dann bleibt mir nur die Heirat mit einem Cousin deines Vaters – und ich weiß nicht, was das für euch bedeuten würde, ich fürchte aber nichts Gutes – oder der Versuch, in Kabul irgendwie zu überleben. Dazu gehört aber sehr viel Glück und möglicherweise gehen wir alle dabei unter.“

Die Mutter machte eine lange Pause.

„Die letzte Möglichkeit, die als einzige auch einigermaßen sicher ist und die die wenigsten Veränderungen für uns alle mit sich bringt ist, dass du eine Bacha Posh wirst.“

Für euch, dachte Shirin, für mich bedeutet das eine sehr große Veränderung.

„Die letzte Möglichkeit ist, dass du ein Cousin wirst, der zu uns gekommen ist, um uns zu helfen. Du wirst Shahin sein, der Sohn eines entfernten Verwandten aus dem Iran.“

Shahin war ein schöner Name, fand Shirin, und sah vor ihrem inneren Auge einen hübschen Jungen, mit dem sie gerne zusammen wäre. Aber zu Shahin sollte ja sie selbst werden, erinnerte sie sich dann und spürte, wie eine große Angst in ihr wuchs.

„Und Shirin? Was wird dann aus Shirin?“

„Wir mussten sie zu den Verwandten in den Iran schicken. Sie kann dort wohnen und wird später vielleicht einen anderen Cousin heiraten, der dort lebt.“

„Nein“, schrie Shirin. „Ich werde nicht heiraten, auf keinen Fall!“

Die Mutter musste ein Lächeln unterdrücken.

„Aber nein, natürlich wirst du nicht heiraten. Das ist doch nur die Geschichte, die wir den Leuten erzählen müssen, um zu erklären, warum jetzt Shahin bei uns lebt und nicht mehr Shirin.“

Unsicher lachte Shirin und ihre Mutter stimmte erleichtert ein. Shirin schämte sich, dass sie so unsinnig reagiert hatte. Natürlich ging es nicht um sie, bei dieser Heiratsgeschichte. Was hatte sie sich denn da gerade gedacht?

Aber dann wurde ihr der Ernst der Lage schlagartig klar. Wie konnte die Mutter denn ihr die Entscheidung zuschieben? Sie hatte doch gar keine Chance, sich der Bitte der Mutter zu verweigern. So wie sich das anhörte, war die einzige Möglichkeit, das Überleben der Familie zu sichern, dass Shirin sich dem Wunsch ihrer Mutter beugte. Aber sie wollte das nicht. Sie war ein Mädchen und auch wenn sie sich schon oft darüber aufgeregt hatte, dass sie sich nicht so frei bewegen konnte wie die gleichaltrigen Jungen, auch wenn sie sich davor fürchtete, bald nur noch mit einer Burka aus dem Haus gehen zu dürfen, so konnte sie sich doch nicht vorstellen, als Junge zu leben. Nein, sie wollte das nicht. Sie wollte weiter zur Schule gehen und sich mit ihren Freundinnen treffen. Sie wollte ihre langen Haare, auf die sie so stolz war, nicht abschneiden lassen, und sie hatte Angst davor, den ganzen Tag allein draußen unterwegs zu sein – der Schulweg war schon schwer genug.

Und überhaupt, wie sollte das gehen? Was sollte sie denn arbeiten? Und wo? Und was wäre, wenn sie entdeckt würde? Wenn sie sich verplapperte oder sonst etwas falsch machte und die Leute merkten, dass sie getäuscht wurden und sich ein Mädchen in Jungenkleidung ganz allein auf den Straßen herumtrieb? Nein, sie würde das nicht machen. Sie konnte nicht und sie wollte nicht. Sie wollte weiterleben wie bisher und sie wollte ihren Vater wieder haben.

Bei diesem Gedanken stutzte Shirin. Ihr wurde klar, dass sie sich verrannte. Der Vater würde nicht mehr zurückkommen, das musste sie akzeptieren. Er war tot und hatte sie alleingelassen. Fast wollte Shirin zornig werden auf ihn, aber dann fiel ihr doch ein, dass er ja nichts dafür konnte. Dass er hatte Geld verdienen müssen für seine Familie und dabei ums Leben gekommen war. Warum hatten die Soldaten die Minen hinterlassen? Warum? Die hatten ihr den Vater genommen und selbst saßen sie nun zu Hause in ihren schönen Ländern in ihren schönen Gärten mit ihren schönen Kindern …

Ihre Gedanken machten sich schon wieder selbständig. Shirin versuchte sich zu konzentrieren. Was konnten sie ohne den Vater tun? Was blieb ihnen für eine andere Möglichkeit, um zu überleben und als Familie zusammenzubleiben, ohne diese schreckliche Verwandlung in einen Jungen, in eine Bacha Posh, die sie nicht wollte?

Aber so sehr sie sich den Kopf zerbrach, es wollte ihr keine Lösung einfallen. Sie lebte in Afghanistan, sie lebte in einem Land, in dem Frauen nichts galten. Sie musste froh sein, dass niemand sie in eine Ehe zwang, die sie nicht wollte und für die sie sich auch viel zu jung fühlte. Aber darum kümmerten sich viele Familien hier nicht. Sie musste froh sein, dass ihre Mutter sie sogar vor die Wahl stellte, obwohl es eigentlich keine Wahl gab.

Shirin konnte sich weigern, eine Bacha Posh zu werden, aber was würde dann mit ihnen allen geschehen? Kabul schien ihr keine Lösung. Wenn der Mutter dort etwas geschah – vor wenigen Tagen hatte sie völlig unerwartet den Vater verloren, wer garantierte ihr denn, dass die Mutter sie nicht auch eines Tages verließ? – dann war sie allein mit ihren kleinen Schwestern in der großen Stadt, kannte niemanden, konnte niemanden um Hilfe bitten in der größten Not. Nein, sie hatte keine Wahl.

Sie musste ein Junge werden, wenn sie weiterleben wollte.

 

Lange schwiegen Mutter und Tochter.

„Ich will aber noch mal zur Schule gehen. Dort sind all meine Freundinnen. Ich will mich wenigstens von ihnen verabschieden.“

Shirin brach in Tränen aus. Jetzt da sie sich entschieden hatte und ihr Leben einen ganz neuen Weg einschlagen würde, konnte sie weinen. Sie weinte um sich, um Shirin, die es bald nicht mehr geben würde, um die langen Haare, die in wenigen Tagen der Schere zum Opfer fallen würden, um ihre Freundinnen, die sie nicht mehr treffen dürfte und auch um ihren Vater, um den sie bisher nur schweigend getrauert hatte. Die Mutter setzte sich neben sie, nahm sie in ihre Arme und weinte mit ihr. Um ihren Mann und um ihre Tochter Shirin, die sie nun bald gegen Shahin eintauschen würde, und darum, dass sie selbst ihrer Familie nicht helfen konnte, weil sie eine Frau war in einem Land, in dem Frauen keinen Wert hatten.

 

Als Shirin am nächsten Morgen erwachte, wollte sie gerne glauben, dass alles ein Traum gewesen war. Aber es gelang ihr nicht. Sie wusste nur zu gut, dass all dies Realität war: der Vater tot, die Mutter hilflos, weil sie als Frau keine Arbeit finden würde und nur schwer allein das Haus verlassen konnte, und sie, Shirin, die älteste Tochter der Familie, die jetzt die Verantwortung übernehmen musste, indem sie sang- und klanglos verschwand und Platz machte für Shahin, den Cousin aus dem Iran, der von nun an für alle sorgen würde.

Shirin wollte nicht aufstehen, wollte einfach liegen bleiben und das Leben draußen an sich vorbeiziehen lassen. Aber dann spürte sie plötzlich, dass es auch andere Gefühle in ihr gab, als die Trauer um ihr bisheriges Leben und die Angst vor dem, was da auf sie zukam. Ganz klein waren sie noch, aber irgendwo in ihr regte sich ein bisschen Stolz, dass sie nun zum Oberhaupt der Familie würde, dass es von ihr abhing, ob und wie die Mutter und die Schwestern leben konnten. Da war auch ein wenig Neugier, wie es denn wäre, als Junge alle Freiheiten zu haben, überall herumstreunen zu dürfen, vielleicht sogar irgendwann einmal Drachen steigen zu lassen, was afghanische Jungen so gerne tun.

 

Mit gemischten Gefühlen stand Shirin schließlich auf. Die Mutter hatte schon Frühstück gemacht und ihr Essen für den Tag eingepackt. Sie gab Shirin einen Brief für die Lehrerin, in dem sie erklärte, dass Shirin heute zum letzten Mal kam, weil sie am nächsten Tag in den Iran reisen sollte, um dort in der Familie ihres Cousins Shahin zu leben, der in Zukunft für den Rest der Familie sorgen müsste. Sobald Shirin im Iran angekommen wäre, würde Shahin nach Afghanistan reisen.

Shirin war froh über diesen Einfall der Mutter. Die Lehrerin würde der Klasse alles erklären und so musste sie nicht selbst darüber sprechen. Sie hatte Angst, davor, weinen zu müssen, wenn sie der Klasse ihre Geschichte erzählte. Aber auch so wurde es der zweitschlimmste Tag in ihrem bisherigen Leben. Der schlimmste war gewesen, als sie den Vater beerdigen mussten. Shirin sah zu Boden, als die Lehrerin der Klasse den Brief vorlas. Sie konnte vor Tränen nichts sehen und konnte kaum aufhören zu weinen. Die anderen Mädchen schrieben im Unterricht Abschiedsbriefe für Shirin, manche malten Bilder für sie und beim gemeinsamen Essen schoben sie ihr die besten Stücke von dem zu, was sie von ihren Müttern für den heutigen Tag mitbekommen hatten. Aber Shirin war nicht nach Essen zumute. Sie saß stumm da, versuchte nicht zu weinen und hin und wieder traf sich ihr Blick mit dem Fatmas, ihrer besten Freundin. Die beiden gingen jeden Tag einen Teil des Schulwegs zusammen und ganz selten besuchten sie sich auch gegenseitig zu Hause. Fatma wusste alles von Shirin und Shirin wusste alles von Fatma. Sie würden auch heute wieder – zum letzten Mal – ein Stück weit gemeinsam gehen und Shirin fürchtete sich davor. Aber dann fasste sie einen Entschluss. Die Mutter wäre mit Sicherheit dagegen und auch sie selbst war sich nicht sicher, ob es gut war, aber sie musste es tun, entschied sie und wartete nun fast mit Ungeduld auf das Ende des Schultages, wenn sie mit Fatma allein wäre.

 

Trotz aller Ungeduld kam dieses Ende dann aber doch viel zu schnell. Alle verabschiedeten sich traurig von Shirin, manche der Mädchen fragten sich wohl auch, wie lange sie selbst noch die Schule besuchen dürften, bis jemand auf die Idee kam, sie zu verheiraten. Das, so vermuteten die meisten, steckte wohl in Wahrheit hinter Shirins Reise in den Iran. Vielleicht noch nicht sofort, aber doch in absehbarer Zeit würde ihre Mitschülerin im Iran einen entfernten Verwandten oder guten Bekannten der Familie heiraten. Jetzt, wo der Vater nicht mehr für die Familie sorgen konnte, musste die Witwe alles dafür tun, dass ihre Tochter so gut und schnell wie möglich versorgt wurde – so überlegten die Mädchen aus Shirins Schule – und wie ginge das besser, als einen Mann für sie zu finden, der die Verantwortung für sie übernahm und auch noch zum Unterhalt für den Rest der Familie beitragen würde. Kaum eine stellte in Frage, dass ein Mädchen aus der Verantwortung des Vaters in die des Ehemann übergeben wurde und niemand ihr das Recht und die Möglichkeit gab, selbst Verantwortung zu übernehmen für sich und ihr Leben. Eine Frau in Afghanistan blieb Zeit ihres Lebens abhängig wie ein Kind. Und wenn ihr Mann starb und sie allein zurück blieb wie jetzt Shirins Mutter, musste sie sich eben einen anderen Beschützer suchen, um in Ruhe und Sicherheit weiterleben zu können. So kannten sie es aus ihrer Umgebung und die wenigen, die anders lebten, blieben exotische Ausnahmen, die mit dem Leben der Mädchen nichts zu tun hatten.

 

Shirin und Fatma gingen lange schweigend nebeneinander her. Sie versuchten möglichst kleine, langsame Schritte zu machen, um den Abschied hinauszuzögern. Es war ein Abschied für immer, davon war Fatma überzeugt. War Shirin erst einmal im Iran, würden sie keine Möglichkeit mehr finden, sich zu sehen. Sie würden sich in der ersten Zeit schreiben, aber vielleicht verbot ihr zukünftiger Ehemann Shirin auch, Briefe an eine Freundin in der Heimat zu schicken und welche von ihr zu bekommen. Sie grübelte vor sich hin, welche Möglichkeiten es gäbe, gegen jeden Widerstand weiterhin in Kontakt mit Shirin zu bleiben. Wer wusste schon, wie das Leben weiterging. Vielleicht könnte sie ja eines Tages eine Reise in den Iran machen? Sie würde einen reichen Mann heiraten und ihn bitten, die Hochzeitsreise zu ihrer Freundin Shirin zu machen. Fatma wusste selbst, dass sie dabei war, sich in Träumereien zu verlieren, anstatt die letzten Minuten, die ihr mit ihrer Freundin blieben, noch zu nutzen. Aber sie konnte nicht anders.

 

Shirin griff schüchtern nach Fatmas Hand.

„Fatma“, flüsterte sie, „ich muss dir was sagen.“

Vielleicht ging es Shirin ja genau wie ihr, dachte Fatma, und sie überlegte sich einen Plan, wie sie in Kontakt bleiben könnten.

Shirin sah sich um. Niemand war weit und breit zu sehen. Sie drückte Fatmas Hand fester und blieb stehen. Auch Fatma musste anhalten und sah Shirin erwartungsvoll in die Augen. Obwohl sie allein waren, flüsterte Shirin immer noch.

„Fatma, versprichst du mir bei Allah und allen Propheten, dass du nie nie nie jemandem erzählst, was ich dir jetzt sage?“

Fatma wurde ein wenig ängstlich zumute, als Shirin so zu ihr sprach, aber sie nickte ernst.

„Ich werde lieber sterben, als dein Geheimnis zu verraten.“

Shirin sah sich noch einmal um. Immer noch waren sie allein. In der Ferne sah man schon die Wegkreuzung, wo sich ihre Wege trennen würden. Shirin würde weiter ins Dorf gehen, Fatma wohnte etwas außerhalb mit ihrer Familie.

„Fatma, ich habe gelogen in der Schule. Ich gehe gar nicht in den Iran.“ Die Augen der Freundin leuchteten auf, verdunkelten sich aber gleich wieder, als Shirin fortfuhr.

„Wir können uns aber trotzdem nicht mehr sehen. Ich werde eine Bacha Posh. Ich muss als Junge verkleidet arbeiten und Geld verdienen, um meine Familie zu ernähren.“

In Fatma arbeitete es. Auch sie hatte schon von den Bacha Poshs gehört, auch sie hatte den Bericht der neuen Mitschülerin gehört, aber eine Geschichte war etwas anderes, als jetzt ihrer besten Freundin gegenüber zu stehen und zu erfahren, dass diese in Zukunft als Junge leben würde. Mädchen und Jungen hatten gewöhnlich nichts miteinander zu tun. Sie lebten in verschiedenen Welten und es war nicht ungefährlich, sich mit einem Jungen zu treffen und mit ihm zu sprechen. Aber alles war besser, als eine im Iran verheiratete Shirin.

„Danke, dass du es mir gesagt hast, Shirin.“ Fatma drückte Shirin an sich. „Du bist ganz schön mutig“, fügte sie nach einer Pause hinzu, aber Shirin schüttelte den Kopf.

„Ich bin nicht mutig, ich habe riesige Angst davor, ein Junge zu werden. Aber ich habe keine andere Möglichkeit. Irgendjemand bei uns muss Geld verdienen und wer außer mir, könnte das?“

Die beiden Mädchen setzten ihren Weg fort.

„Ich werde einen Weg finden, dich zu treffen“, erklärte Fatma dann überzeugt, nachdem sie eine Weile schweigend und in Gedanken versunken nebeneinander her gegangen waren.

„Aber das ist gefährlich“, sagte Shirin, obwohl sie genau das hatte hören wollen.

„Dann bin ich eben mutig“, antwortete Fatma. „Dann sind wir eben beide mutig.“

 

An der Wegkreuzung nahmen sich die beiden Mädchen noch einmal fest in die Arme, dann gingen sie in unterschiedlichen Richtungen davon. Fatma würde am nächsten Tag wie immer zur Schule gehen, Shirin war heute wohl zum letzten Mal auf dieser Straße unterwegs.