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Marie Louise Fischer

Das Dragonerhaus

Roman

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Sie runzelte die Stirn. »Glaubst du mir nicht?«

»Doch. Merkwürdigerweise glaube ich dir. Und selbst wenn ich wüsste, dass du mich betrogen hättest, gäbe mir das doch kein Recht, dir Vorwürfe zu machen.«

»Du bist so kalt?«

Er streichelte ihre nackte Haut. »Ich sträube mich nur nicht gegen die Erkenntnis, dass ich kein Recht auf dich besitze.«

»Also traust du es mir zu?«

»Nein«, sagte er, »das tue ich nicht. Vielleicht bin ich ein Narr. Aber selbst wenn ich wüsste, dass diese Männer die Nacht mit dir hier in deinem Schlafzimmer verbracht hätten … nein, ich sehe dich nicht mit einem anderen zusammen.«

»Du bist kein Narr!« Sie bedeckte seinen mächtigen, braungelockten Brustkorb mit kleinen Küssen. »Du bist gut und klug und stark.«

»Nicht!« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Ich muss fort!«

Ihre Augen verdüsterten sich. »Warum musst du? Du bist doch gerade erst gekommen?«

»Ich möchte zum Mittagessen zu Hause sein.«

»Glaubst du, ich könnte dir nichts kochen?«

»Quittenkonfekt«, sagte er lächelnd, »ja, ich weiß. Aber im Ernst: meine Frau könnte erfahren, dass ich zurück bin, und sie würde sich sehr wundern, wo ich so lange bleibe. Ich bin zuerst zu dir gekommen.«

»Nicht zu ihr? Zu mir?«

»Ja«, sagte er und kam sich wie ein Betrüger vor, denn der Grund, warum er sie als Erste aufgesucht hatte, war nicht so sehr seine drängende Sehnsucht gewesen als der Wunsch, den violetten Samt abzuliefern, bevor er Elisabeth in die Hände fiel.

»Also liebst du mich!«, triumphierte sie, um mit ganz kleiner, flehender Stimme hinzuzufügen: »Gib zu, dass du mich liebst! Weißt du, dass du das noch nie zu mir gesagt hast?«

Er wusste es nur zu gut, denn er hatte dieses Geständnis, das ihm wie eine Lüge vorkam und sie in falschen Hoffnungen gewiegt hätte, bewusst vermieden, da er sicher gewesen war, nur Elisabeth zu lieben. Jetzt erkannte er, dass dies nicht mehr zutraf und es vielleicht nie getan hatte.

»Ich habe es bisher nicht gewusst«, sagte er.

»Aber nun weißt du es?«

»Ja, ich liebe dich!« Er küsste sie auf den Mund. »Aber ich muss trotzdem gehen!«

»Warum? Wenn du mich liebst und nicht deine Frau …«

»Das habe ich nicht gesagt.« Anselm von Deinharting schwang sich aus dem Bett. »Ich liebe euch beide.«

»Das gibt es nicht! Ein Mann kann nicht zwei Frauen lieben!«

»Wer sagt das denn? Davon steht nicht einmal etwas in der Bibel! Dort heißt es nur immer, dass ein Mann nur eine Frau lieben soll … aber das beweist doch eigentlich nur das Gegenteil.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie schmollend.

»Jetzt bist du enttäuscht, nicht wahr!«, sagte er. »Eben warst du noch glücklich, weil ich dich liebe, und schon bist du enttäuscht, weil du nicht die einzige Frau in meinem Herzen bist.«

»Ich könnte außer dir niemanden lieben … ich könnte nicht einmal einen anderen küssen!«, rief sie.

»Sei froh darüber, das macht dir die Dinge leichter.«

»Du kannst deine Frau nicht wirklich lieben, gib es zu! Du achtest sie, weil sie deine Frau ist, du fühlst dich durch das Versprechen vor dem Altar an sie gebunden …«

»Wir wollen nicht mehr darüber sprechen«, bat er, »man kann seine Gefühle auch zerreden.«

»Aber ich will es wissen!«

Er steckte sich das Hemd in die Hose. »Ich möchte auch manches wissen, Lucille, aber ich wette, ich werde es nie erfahren! Habe ich recht?«

Sie erblasste, aber er war so damit beschäftigt, seine Kleidung in Ordnung zu bringen, dass er es nicht merkte.

»Ja«, sagte sie.

Die Tonlosigkeit ihrer Stimme ließ ihn aufblicken. »Hast du etwas?«

»Nein, gar nicht.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Vielleicht habe ich mich überfreut. Das ist jetzt die Reaktion.«

»Am besten bleibst du noch ein halbes Stündchen liegen.«

»Oh, nein!« Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. »Ich muss zu meinem Quittenkonfekt!«

Er war jetzt fertig angezogen und küsste sie zärtlich zum Abschied. »Ich bin sehr glücklich, wieder bei dir zu sein!«

»Und hast nichts Eiligeres zu tun, als zu deiner Frau zu rennen!« Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund. »Anselm, verzeih, ich wollte nicht lästern! Beinahe hätte ich es vergessen … zuerst bist du ja zu mir gekommen!«

Sehr nachdenklich ritt Anselm von Deinharting ins Dorf zurück. Die Erkenntnis, dass er zwei Frauen gleichzeitig liebte, die ihn zuerst beunruhigt hatte, wollte ihm mit einem Mal ganz natürlich scheinen. Liebte doch auch ein Kind nicht nur eine Person, sondern Vater und Mutter, die Kinderfrau und meist noch das eine oder andere seiner Geschwister. Er sah nicht ein, warum sich die Liebe in reifen Jahren auf einen einzigen Menschen beschränken sollte.

Er gab zu, dass ihm auch Antoinette, wenn auch nicht so wie seine eigenen Kinder, ans Herz gewachsen war. Dadurch entzog er doch Beata und Auguste gewiss nicht seine Zuneigung.

Früher hatte er ein schlechtes Gewissen Elisabeth gegenüber gehabt, schon zu der Zeit, da Lucille noch gar nicht in sein Leben getreten war. Jeder kleine Seitensprung hatte ihn bedrückt, ja, sogar wenn sie widerwillig ihre ehelichen Pflichten erfüllte, hatte er sich schlecht gefühlt.

Lucille hatte ihn aus dieser verquälten Situation erlöst. Sie nahm Elisabeth nichts und gab ihm alles. Wenn er sich jetzt manchmal noch schuldig fühlte, dann nicht Elisabeth, sondern ihr gegenüber. Elisabeth besaß alles, was sie vom Leben verlangte: den Rang einer Ehefrau, ein gut geführtes Haus und Kinder, wenn auch nicht die eigenen. Dass Maximilian gestorben war, konnte er sich nicht anlasten, und es schien, als wenn diese Wunde sich allmählich doch schlösse.

Aber Lucille, die gewiss ein glanzvolles Leben gewöhnt war, hatte jetzt nur ihn, und wenn sie auch immer wieder beteuerte, dass sie sich gerade dies und nichts anderes wünschte, so fehlte es ihr doch an allem, was das Leben einer eleganten jungen Frau lebenswert machte: an Gesellschaften, Redouten, Bällen, an Freundinnen und Bewunderern.

Er zermarterte sich den Kopf, wie er sie für diesen Verzicht entschädigen könnte. Die Zeit der Jagden stand bevor und er überlegte ernstlich, ob er sie nicht dazu laden konnte. Er wusste nicht, ob ihr das Jagen Freude machte, es schien ihm nicht zu ihr zu passen, aber das war ja nicht das Wesentliche. Wichtig war, dass sie unter Menschen von Stand kam, Kontakte knüpfen, Frauen kennenlernen und vielleicht Verehrer finden konnte.

Der Gedanke schien verlockend und der Plan leicht auszuführen. Aber während er sich noch Lucille vorstellte, lächelnd und brillierend in einem Kreis von bewundernden Menschen, begriff er, dass es unmöglich sein würde. Er konnte seine Geliebte nicht in eine Gesellschaft einführen, in der Elisabeth als Hausfrau waltete. Das wäre nicht nur taktlos, sondern auch gefährlich gewesen. Lucille war launisch, sie litt unter ihrer Situation, es war nicht auszuschließen, dass sie verletzend wurde. Ein Eklat konnte ihm selber zwar nicht schaden, aber er musste ihn um Elisabeths und der Kinder, ja auch um Lucilles willen vermeiden.

Sie war keine Frau, die sich mit der Rolle der offiziellen Geliebten würde abfinden können. Er hatte noch nie mit ihr darüber gesprochen, dennoch wusste er, dass sie ehrgeizig war. Sie würde es nicht ertragen, hinter der jüngeren, schöneren und selbstsicheren Elisabeth zurückzustehen – und Elisabeth würde Lucille mit einer ahnungslosen, herablassenden Freundlichkeit behandeln, die auch für ein sanftmütigeres Wesen schwer erträglich gewesen wäre.

Nein, er hatte keine Möglichkeit, Lucille aus der selbst geschaffenen Isolation zu befreien, dennoch blieb das Gefühl, dass er ihr Unglück brachte.

Elisabeth begrüßte ihn ohne Überraschung.

Sie kam, einen dicken Strauß brauner, gelber und purpurroter Astern im Arm, aus dem Garten, als er die Pferde vor den Ställen zum Stehen brachte.

Er sprang vom Bock, um sie zu umarmen.

»Zerdrück meine Blumen nicht!«, bat sie.

»Ist das dein Willkommen?« Er ließ die Arme sinken.

»Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte sie erschrocken.

»Du tust es aber, wenn du mich wie einen Rohling behandelst!«

»Aber das habe ich nicht getan!«

»Lassen wir das!« Er fasste sie leicht um die Schultern und küsste sie sanft auf die Stirn. »Gut siehst du aus!«

Ihr helles Haar schimmerte wie Messing, ihre Wangen waren von der kühlen Luft gerötet und ihre Augen von einem durchsichtigen Grau.

»Du auch.« Mit Überwindung fügte sie hinzu: »Ich habe dich vermisst.«

Dieses Bekenntnis freute ihn, wenn er von seiner Echtheit auch nicht überzeugt war. »Ich bin keinen Tag länger geblieben als notwendig.«

»Dich zieht immer noch nichts nach München?«

»Nein.« Ihm kam ein Gedanke. »Möchtest du lieber in der Stadt leben?« – Blitzschnell schoss es ihm durch den Kopf, dass in München alles einfacher sein würde; er und seine Familie würden dort nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen. Lucille würde sich einen eigenen Kreis bilden können, der sich mit dem Elisabeths niemals oder doch nur höchst selten überschneiden würde.

Elisabeth aber dachte an das Grab ihres kleinen Jungen. »Nein«, sagte sie, »ich bin gern hier.« Ihn forschend ansehend, fügte sie hinzu: »Hättest du mir denn dieses Opfer gebracht?«

»Ja«, sagte er und war sich bewusst, dass dies nur die halbe Wahrheit war, »dir und den Mädchen.«

Sie lächelte. »Die bringen wir auch von Deinharting aus an den Mann, und mich kennst du: ich bin nicht für das große Leben geschaffen.«

Hasso hatte die Kutsche einfahren hören und wie wahnsinnig von innen an die Vordertür des Schlosses gekratzt. Aber da niemand kam, um ihn hinauszulassen, war er die Treppe hinunter und durch die Küche gerast, wo eines der Mädchen ihm endlich die Freiheit gab.

Jetzt jagte er mit riesigen Sätzen auf Anselm von Deinharting zu und ließ sich weder durch einen Befehl noch durch das Sausen der Peitsche abhalten, ihm die Vorderpfoten auf die Schultern zu legen und ihm in das Gesicht zu hecheln, ja, ihm sogar mit der rauen Zunge über die Wangen zu fahren.

Lachend und ärgerlich zugleich ließ der Hofmarksherr sich diese stürmische Begrüßung gefallen und empfand mit einiger Bitterkeit, dass wohl niemand im Schloss sich über seine Rückkehr so freute wie das seelenlose Tier.

»Ist ja schon gut, Alter!« Er legte ihm die Hand auf den Kopf. »Ist ja schon gut! Ich bin wieder hier … ja, ja, und ich fahre so bald nicht wieder fort! Jetzt gib Ruhe! Couche!«

Das wilde Bellen hatte die Mädchen an das Fenster ihres Schulzimmers getrieben. Beata und Auguste erkannten ihren Vater und waren nicht mehr zu halten. Hans Zentner gab ihnen freundlich die Erlaubnis, ihn zu begrüßen.

Antoinette und Afra taten so, als vertieften sie sich weiter in ihren Text.

»Schluss für heute!«, entschied der Lehrer. »Wollen Sie nicht auch den Hausherrn begrüßen, Antoinette?«

»Ich gehöre doch nicht zur Familie.«

»Trotzdem wird Herr von Deinharting sich freuen, Sie zu sehen.«

Zögernd erhob sich Antoinette. »Wenn Sie meinen …«

»Ich bin dessen sicher.«

Antoinette blickte Afra an, die den Kopf in die Hände gestützt hatte und so tat, als hörte sie nicht, was um sie herum vorging. »Was ist mit dir?«, fragte sie.

»Lauf du nur abi …« Afra verbesserte sich rasch. »… hinunter, meine ich. Ich reite nach Hause, wenn sich der Wirbel gelegt hat.«

»Warum wollen Sie denn nicht ›Grüß Gott‹ sagen?«, fragte Hans Zentner.

Afra schob das Kinn vor. »Jetzt sagen Sie nur nicht, der gnädige Herr würde darauf Wert legen!«

»Vielleicht doch.«

Afra schüttelte energisch den Kopf.

»Komm«, bat Antoinette.

Aber Afra rührte sich nicht. Sekundenlang stand Antoinette hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Anselm von Deinharting zu begrüßen, und dem Gefühl, Afra so nicht allein lassen zu dürfen. Erst als der Lehrer ihr mit einem aufmunternden Kopfnicken bedeutete, endlich zu gehen, verließ sie das Schulzimmer.

Als sie in den Hof kam, hatten die anderen Mädchen ihren Vater schon artig begrüßt, wobei sich Auguste die Frage: »Haben Sie uns etwas mitgebracht, Papa?« nicht hatte verbeißen können, was ihr einen Tadel Elisabeths zugezogen hatte. Peter war dabei, die Pferde auszuschirren, und Baptist hatte die Reisetasche aus der Kutsche geholt und in das Schloss getragen.

Auch Margarethe Meyr war herbeigeeilt und jammerte, dass sie auf die Ankunft des Herrn nicht vorbereitet wäre und es nicht genügend zu essen gäbe: aber das nahm niemand ernst, da sie so reichlich zu kochen pflegte, dass immer noch ein oder zwei weitere Personen hätten satt werden können.

Anselm von Deinharting streckte Antoinette über die Köpfe seiner Töchter hinweg die Hand entgegen. »Da ist ja auch unsere Tonette! Ich hoffe, du warst fleißig?«

Antoinette lächelte ihn an, während ihre runden blauen Augen ganz ernst blieben.

»Ich war auch fleißig!«, rief Auguste.

»Wir waren alle fleißig!«, betonte Beata.

»Sehr schön. Dann habt ihr wohl alle verdient, dass ich euch etwas mitgebracht habe!«

»Ja, Papa!«, riefen Beata und Auguste gleichzeitig.

Anselm von Deinharting blickte in die Kutsche. »Ich sehe, Baptist hat meine Tasche schon fortgeschafft, da müssen wir wohl ins Haus gehen! Lauf, Beata, und sag ihm, dass er sie, wenn er meine Wäsche herausgenommen hat, ins untere Erkerzimmer bringen soll.«

Auguste ließ es sich nicht nehmen mit Beata davonzustieben.

»Ist Afra schon gegangen?«, fragte Anselm von Deinharting.

»Nein«, erwiderte Antoinette, »sie sitzt noch im Unterrichtszimmer.«

»Zur Strafe?«

»Nein, nein, sie …« Antoinette suchte nach den passenden Worten, um den Sachverhalt zu erklären, ohne Afra bloßzustellen, und sagte in ihrer Muttersprache: »Sie fürchtete, sie könnte stören.«

»Sehr taktvoll von ihr. Aber könntest du sie trotzdem holen?«

»Ich laufe schon!«

Anselm von Deinharting schob seine Hand unter den Ellbogen seiner Frau. »Wie macht sich Afra?«

»Ich sehe sie ja nie. Wenn sie kommt, geht sie gleich ins Unterrichtszimmer, und mittags reitet sie sofort nach Hause.«

»Hast du nicht mit Zentner über sie gesprochen?«

»Nein. Wozu auch? Da nun einmal beschlossen ist, dass sie mit den anderen lernen soll …« Elisabeth ließ den begonnenen Satz unvollendet.

»Du magst sie nicht?«

»Sie ängstigt mich ein wenig.«

»Wie das? Ein Kind!«

»Ja, ich weiß, es ist dumm von mir. Aber sie strahlt eine solche geballte Energie … fast möchte ich sagen, eine böse Energie aus, aber ich will ihr nicht unrecht tun.«

»Antoinette scheint sie zu mögen.«

»Antoinette mag jeden, der ihre Hilfe braucht.« Elisabeth löste sich aus seinem Griff. »Lass mich jetzt bitte erst die Blumen ins Wasser stellen.«

»Einverstanden. Aber beeil dich.« Hasso dicht an seinen Beinen, schritt Anselm von Deinharting seiner Frau voraus und öffnete ihr die Hintertür.

Während Elisabeth in der Küche verschwand, ging er gleich nach oben.

Er nutzte die wenigen Augenblicke, die er im unteren Erkerzimmer allein war, sich einen kräftigen Schluck Schnaps zu genehmigen, gleich aus der Flasche, und fand, dass er sich den nach der strapaziösen Fahrt wohl verdient hatte. Dann wurde ihm bewusst, dass die Mädchen den Obstler riechen würden; er nahm sich ein Glas und schenkte sich ein.

Er lehnte am Kamin, der eingelegt, aber nicht angezündet war, als Antoinette, Afra an der Hand, eintrat.

»Wie ich höre«, sagte er lächelnd, »wolltest du mich nicht begrüßen?«

Afras bräunliches, breitflächiges Gesicht war verschlossen, sie erwiderte sein Lächeln nicht und blieb stocksteif stehen. Antoinette stieß sie an.

»Verzeihung«, brachte Afra mühsam heraus.

»Wofür entschuldigst du dich? Du wolltest mich doch gewiss nicht kränken.«

»Nein …« Mit Überwindung fügte Afra hinzu: »… gnädiger Herr.«

»Sie wollte nicht stören«, erklärte Antoinette noch einmal.

»Ja, das verstehe ich. Aber auch wenn du nicht zur Familie gehörst, Afra, solltest du dich bei uns nicht als fünftes Rad am Wagen fühlen.«

»Fais la révérence!«, flüsterte Antoinette ihr zu.

Afra versank in einen tiefen, ungeschickten Hofknicks.

Beata kam, die Reisetasche in der Hand, ins Zimmer gestürmt und Auguste folgte ihr dicht auf dem Fuß.

»Gib her!«, bat Anselm von Deinharting. »Dann wollen wir mal sehen!«

Er ließ die Tasche aufschnappen, sodass die Kinder nicht hineinsehen konnten, wühlte mit geheimnisvollem Gesicht darin herum und brachte endlich einen breiten Spitzenkragen zum Vorschein. »Für wen wird der wohl sein?«, fragte er.

»Für mich!«, rief Beata sofort.

»Richtig geraten!« Er gab ihr das Geschenk.

»Danke, Papa! Vielen, vielen Dank!« Strahlend legte Beata sich die Spitzen um den Hals und drehte sich auf dem Absatz. »Stehen sie mir?«

Aber die Freude auf ihrem Gesicht erlosch, als sie mit ansehen musste, dass der Vater auch für die drei anderen Mädchen Spitzen mitgebracht hatte, Kragen, die im Muster voneinander abwichen, aber ebenso schön und groß waren wie ihr eigener.

Auguste und Antoinette freuten sich und Afra war ganz überwältigt; der Hofmarksherr war für sie schon immer fast ein König gewesen, jetzt aber wurde er für sie zu einem Halbgott.

Elisabeth, die hereinkam und eine Vase mit Astern auf den Marmortisch stellte, bewunderte die Spitzen und, da sie schon merkte, was in Beata vorging, besonders den Kragen der Ältesten.

»Willst du denn gar nicht wissen, was ich dir mitgebracht habe?«, fragte ihr Mann.

Sie zupfte Beatas Spitzen zurecht. »Du wirst es mir schon zeigen!«

»Ein bisschen Neugier würde dir aber guttun!«

Sie wandte sich ihm zu. »Ich bin sehr, sehr gespannt!«

»Mach die Augen zu!« Er drapierte den rosig schimmernden Samt über ihre Schultern.

»Oh, wie schön!« Sie streichelte über den weichen Stoff. »Herrlich!«

»Ich freue mich, dass er dir gefällt!«

»Sehr sogar! Nur …«, sie zögerte, »… ob er nicht ein wenig zu jugendlich ist?«

»Unsinn! Er steht dir ausgezeichnet!«

»Vielleicht passt er doch eher zu Beata!« Elisabeth legte das Ende der Stoffbahn über Beatas Brust.

»Lassen Sie das!« Das Mädchen reagierte unerwartet heftig und riss sich den Stoff herunter.

»Aber, Beata!«

»Ihr wollt mich alle nur ärgern!«

»Bitte, nimm dich zusammen«, mahnte der Vater.

»Es ist doch wahr! Mama hält mir einen Stoff an, den ich doch nicht bekomme …«, Beata schluchzte auf, »… und Antoinette hat einen Kragen gekriegt, der viel, viel schöner ist als meiner!«

»Das stimmt ja gar nicht!«, widersprach Antoinette.

»Dann lass uns tauschen!«

»Nein!«, sagte Antoinette entschieden. »Geschenke tauscht man nicht! Deine Spitzen hat dein Vater für dich ausgesucht und du musst sie auch behalten!« – Sie sagte nicht ganz das, was sie dachte: tatsächlich wollte sie die Spitzen, die Anselm von Deinharting für sie gewählt hatte, nicht hergeben.

»Du willst nicht tauschen, weil du weißt, dass deine schöner sind!«

Anselm von Deinhartings Gesicht verdüsterte sich. »Das ist unerträglich!«

»Antoinette«, sagte Elisabeth, »Beata ist im Unrecht, aber würdest du nicht trotzdem … mir zuliebe … mit ihr tauschen?«

Das Mädchen blickte den Hofmarksherrn an.

Der nickte ihr zu. »Der andere Kragen wird dir ganz genauso gut stehen!«

Mit Überwindung nahm Antoinette den Kragen ab und reichte ihn Beata, die ihren herunterriss und ihr mit einer verächtlichen Bewegung zuwarf.

»Jetzt ist es genug!«, grollte Anselm von Deinharting. »Geh auf dein Zimmer, Beata! Ich will dich heute nicht mehr sehen!«

»Wascht euch die Hände, Tonette und Gustl«, sagte Elisabeth, »und du, Afra, reitest jetzt wohl nach Hause!«

Mit hängenden Köpfen verließen die Mädchen das Zimmer.

»Es tut mir leid, dass Beata dir die Freude verdorben hat!« Elisabeth begann den Samt sorgfältig aufzurollen.

»Ihr Benehmen ist unglaublich!«

»Sie ist eifersüchtig auf Antoinette.«

»Du willst doch nicht etwa behaupten, dass ich sie vorziehe?!«

»Nein, das ist es nicht. Aber sie spürt wohl Antoinettes Überlegenheit … ihre größeren Gaben.«

»Und sie ist eifersüchtig! Pfui, wie niedrig! Sie hat Vater und Mutter, Besitz und ein Heim! Wie kann sie auf ein so früh vom Schicksal geprüftes Kind eifersüchtig sein?«

»So weit denkt sie nicht.«

»Sprich mit ihr und bringe sie zur Einsicht! Mach ihr klar, dass ihr Benehmen abscheulich war. Eine Dame lässt sich ihre Emotionen nicht derart anmerken!«

»Du hast ja recht, Anselm, nur …«, Elisabeth blickte auf den Stoffballen in ihrem Arm, »… ich weiß nicht, ob es nicht doch ein Fehler war, die fremden Kinder in unser Haus zu holen. Ja, ja, ich weiß, mit Antoinette war das meine Idee so gut wie deine. Aber es war doch früher alles viel friedlicher, als wir noch allein waren!«

»Ja, und am friedlichsten würde es sein, wenn jeder von uns auf einer einsamen Insel lebte! Wir können uns nicht abkapseln, Elisabeth, so ist die Welt nicht mehr. Je eher Beata lernt, mit anderen zu teilen, nicht nur auf die Vorrechte ihrer Geburt zu pochen, sondern eigene Kräfte zu entfalten, desto besser für sie.«

»Du machst mir Angst!«

»Das will ich nicht, Elisabeth, aber ich sehe die Dinge realistisch. Die Zeit der Prinzessinnen auf der Erbse ist vorbei.«

Sie blickte ihn aus ihren grauen Augen an, deren Lider leicht geschwollen waren wie von vergossenen Tränen. »Bin ich eine Prinzessin auf der Erbse?«

»Ein wenig schon, aber eine sehr süße! Dir mache ich keinen Vorwurf, du bist in einer anderen Zeit aufgewachsen.«

»Ich habe immer mit meinen Schwestern teilen und oft zurückstehen müssen. Aber es waren meine Schwestern. Ich will dir keine Vorhaltungen machen, Anselm, vielleicht war es richtig, dass du auch Antoinette bedacht hast. Aber bei Afra war es gewiss nicht nötig.«

»Du bist ein seltsamer Mensch, Elisabeth.«

»Seltsam? Nein.«

»Wenn man dich so reden hört, könnte man dich für geizig oder gar herzlos halten.« Er legte ihr die Hand unter das Kinn. »Aber ich weiß ja, dass das nicht so ist! Wäre Afra krank, du würdest dich selber um sie kümmern, du würdest keine Mühen und Kosten scheuen, bis sie wieder gesund wäre.«

»Aber sie ist nicht krank!« – »Sie braucht dennoch unsere Hilfe … sie braucht Ermutigung.«

»Das will ich alles einsehen, nur muss es doch auch Unterschiede geben. Wäre es nicht doch angemessener gewesen, du hättest den fremden Kindern andere, weniger kostbare Geschenke mitgebracht als deinen eigenen?«

»Ich wollte ihnen allen eine Freude machen, aber das ist es nicht allein. Es ist gefährlich, Neid in den Herzen von Menschen zu züchten, die in einer schlechteren Lage sind als wir selber. Damit schafft man gefährlichen Zündstoff, der eines Tages …« Er sprach nicht weiter, denn er musste plötzlich ganz stark an Lucille denken, und geradezu körperlich spürte er die Bedrohung, die von ihrer Existenz im Dragonerhaus ausging. Er begriff, dass er trotz aller Liebe das Verhältnis beenden musste. Aber diese Hellsicht dauerte nur wenige Sekunden.

Es war Elisabeth, die ihn aus seinen Gedanken zurückholte. »Ich glaube, ich werde diesen Stoff doch Beata schenken«, erklärte sie, »du bist mir doch nicht böse?«

»Tu, was du willst«, sagte er zornig und ließ sie stehen; Hasso folgte ihm auf den Fersen.

Der Herbst war, wenn die Ernte in die Scheuern gebracht und der Überfluss verkauft worden war, auf dem Lande immer die schönste Jahreszeit. Die schwerste Arbeit war getan, ein wenig Geld klimperte im Kasten, jetzt wurden Hochzeiten und Kirchweih gefeiert, und mancher Bauer oder Häusler fand Kraft und Gelegenheit, sein Schnitzmesser hervorzuholen oder auf dem Hackbrett zu musizieren. Der Flachs war in fröhlichen Gemeinschaften geschlagen worden und die Frauen konnten mit dem Spinnen und Weben beginnen. Da saßen sie denn oft beim flackernden Kerzenlicht im Heimgarten zusammen, lauschten der Stubenmusik, sangen und erzählten sich Geschichten.

Auch Anselm von Deinharting liebte den Herbst, nicht weil er ihm wie den Bauern mehr Muße gebracht hätte, sondern weil der Herbst die große Zeit des Jagens war. Fast jede Nacht ging er jetzt auf den Anstand und es erfüllte ihn mit tiefer Freude, wenn es ihm beim ersten Büchsenlicht gelang, einen brunftigen alten Hirsch in seinem schönsten Augenblick zu erlösen und vor dem Tod als einsamer Griesgram zu bewahren.

Aber nicht nur auf Rotwild gingen er und seine Jäger um diese Zeit; es fanden auch große Treibjagden auf Hasen statt, auf Rebhühner, Wachteln und Fasane. Dann war das Schloss erfüllt mit Gästen, die Amatinger kamen, die Kaltenbachs und die Hellbergs mit ihren Freunden. Die jungen Burschen, die sonst auch gerne einmal ihr Glück beim Wildern versuchten, waren die Treiber. Schon der Gang in der Frische des herbstlichen Morgens über die weiten Wiesen, von denen jetzt die Zäune entfernt waren, oder durch den bunten Wald, das Geräusch der Stöcke, die gegen die Bäume geschlagen wurden, das Aufschwirren der Vogelketten und das »Ho, Ho« der Treiber war von erregendem Reiz. Wenn dann später beim Halali die Strecke gezählt wurde, empfand Anselm von Deinharting neben weidmännischem Stolz doch auch immer ein Gefühl wehmütiger Enttäuschung, weil es vorbei war, und was vor Stunden noch lebendige Kraft gewesen, nun tot und stumm mit erloschenen Augen dalag.

Aber wenn er dann bei Lucille war, wurden die Jagdabenteuer wieder lebendig und bekamen neuen Glanz. Die Jagd, die ihm weniger Zeit ließ, sich um seine Geliebte zu kümmern, entfremdete sie einander nicht, sondern führte sie eher noch enger zusammen. Sie hatten jetzt einen Gesprächsstoff, der sie beide fesselte. Lucille liebte es, wenn er gleich von der Jagd mit schmutzverkrusteten Schuhen und wirrem Haar zu ihr kam, sie liebte es, ihn zu pflegen und zu verwöhnen und seinen Geschichten zu lauschen. Niemand konnte so herzlich lachen wie sie, wenn er berichtete, wie Graf Kaltenbach statt eines kräftigen Rammlers einen der jungen Treiber in die Kehrseite geschossen hatte und für die Schrotladung mit klingender Münze hatte zahlen müssen.

Elisabeth war keine Jägerin, aber sie pflegte sich von den Jagdgesellschaften nicht auszuschließen, sondern begleitete die Gäste, wenn auch ohne Gewehr. Die langen Gänge taten ihr gut und mit dem gleichen Appetit wie alle anderen setzte sie sich heimkommend an die von Margarethe Meyr reichbestellte Tafel.

Anfang Dezember, als das Schloss wieder einmal voller Gäste war, hatte es tagelang geschneit. Dann eines Morgens waren Wege und Wiesen von einer dicken Schneeschicht bedeckt, der Himmel war klar, und die Luft schien stillzustehen – ein ideales Wetter für die Sauhatz.

Feinhuber, der Forstgehilfe, konnte melden, dass im großen Bruch, einem urwaldartigen, ziemlich ausgedehnten Bestand, von seinen Leuten eine starke Rotte Wildschweine eingekreist worden war. Anselm von Deinharting befahl ihm und Peter, die Hunde aus der Meute, die zur Jagd geeignet waren, an die Riemen zu legen – es waren vor allem die Rüden, die mindestens zwei Jahre alt waren. Die anderen wurden eingesperrt, auch Hasso, der bei der Rotwildjagd als Schweißhund hervorragend zu brauchen, aber nicht wie die Meute auf Schwarzwild dressiert war.

Bis gegen zehn Uhr hatten sich die Herren im Jagdzimmer am Kaminfeuer und einigen Schnäpsen gewärmt; die Damen hatten im oberen Erkerzimmer Kaffee und Likör zu sich genommen. Elisabeth fühlte sich nicht wohl, ihr Mund war trocken und ihre Stirn brannte. Sie hätte sich am liebsten im verdunkelten Zimmer zu Bett gelegt, aber sie mochte nicht auf ihren Zustand aufmerksam machen, um den anderen nicht die Freude zu verderben. So lächelte sie verkrampft und warf mühsam hin und wieder ein Wort in die lebhafte Unterhaltung.

In einen dicken Wolfspelzmantel gehüllt kletterte sie zu ihrem Mann in den Schlitten. Er hatte, wie auch Peter und Feinhuber, eine Saufeder bei sich, eine blanke Waffe mit breiter, haarscharf geschliffener Klinge, die in einer Lederhülse steckte. Der Schaft der Saufeder war der ganzen Länge nach mit Leder umwickelt, um ein Abgleiten der Hände zu verhindern, die Parierstange, die zur Abwehr eines möglicherweise angreifenden Tieres diente, war aus einem kurzen Geweihende gearbeitet. Ohne diese mittelalterlich wirkende Waffe war eine Sauhatz nicht durchzuführen, da es immer wieder zu Situationen kam, wo man, ohne die Hunde zu verletzen, nicht hätte schießen können.

Anselm von Deinharting sah wohl, dass Elisabeths Gesicht glühte, aber er glaubte, es käme vom Likör oder der Vorfreude auf das aufregende Erlebnis. Zärtlich zog er ihr aufstehend die Pelzmütze noch tiefer über die Ohren und drehte sich dann nach hinten, um festzustellen, ob die Schlitten mit den Gästen inzwischen auch abfahrbereit waren.

Er knallte mit der Peitsche. »Auf geht’s!«

Die Pferde zogen an, und langsam zogen sie um das Schloss herum und mit steigender Geschwindigkeit den Berg hinunter; die Schlittenkufen sausten über die glatte, zum Glück nicht gefrorene Fläche.

Die anderen Schlitten folgten in gleichmäßigem Abstand; den Schluss bildeten die Schlitten, in dem Feinhuber und Peter mit der Meute saßen.

Erst als sie, schon weit vom Dorf und den befahrenen Wegen entfernt, in tiefen Schnee gerieten, kamen sie langsamer voran. Die Sonne stand jetzt schräg am wolkenlosen Himmel, ihre Strahlen ließen die milliardenfachen Schneekristalle wie Diamanten aufglänzen, hatten aber nicht mehr die Kraft zu wärmen.

Soweit es nur möglich war, fuhr die Schlittenkette in den immer dichter werdenden Urwald hinein, aber danach war noch eine knappe halbe Stunde Fußmarsch bis zum Jagdplatz notwendig. Anselm von Deinharting verteilte die Schützen auf die wichtigsten Wechsel und nahm selber Aufstellung.

»Bleibst du bei mir, Elisabeth?«, fragte er. »Oder willst du lieber zu einer der Damen?«

»Bei dir!« Ihre Zähne klapperten.

»Du frierst ja!« Er zog seinen Flachmann aus der Hosentasche. »Da, nimm einen Schluck!«

Elisabeth trank gehorsam, ohne dass ihr besser wurde. Feinhuber und Peter führten die Hunde an der Leine tiefer in den dick verschneiten Wald hinein und machten den Führer der Meute los. Die Schützen standen erwartungsvoll. Endlich verriet der hohe Laut eines der Kopfhunde, dass er die Rotte gefunden hatte. Kurz darauf fiel die ganze Meute, die von der Leine gelassen worden war, mit wütendem Bellen ein.

»Hörst du?«, rief Anselm von Deinharting. »Die Hunde greifen die Rotte von allen Seiten an! Sie sprengen sie auseinander!« Er hatte kaum ausgesprochen, als drei, vier, fünf, sieben Säue und vier Frischlinge aus dem Wald ausbrachen, jedes Tier verfolgt von zwei oder drei Hunden.

Schon knallten die ersten Schüsse. Die Wildsäue überschlugen sich, fielen in den Schnee, zappelten und vergossen hellrotes Blut.

Die Hunde beschnupperten nur kurz die verendenden Sauen und gingen sofort in der Fährte zurück, um weiter zu jagen. Ein Wildschwein, größer als die anderen, kam geradewegs auf Anselm von Deinharting und seine Frau zu. Er erkannte, dass es ein Keiler war. Jetzt drehte sich das mächtige Tier um und griff die Hunde an, die es verfolgten. Der kleine Pointer flog hoch in die Luft und blieb, weitab, verrenkt im Schnee liegen. Der Kopf des Keilers senkte sich, rammte einem der Vorstehhunde in den Bauch – der heulte auf, sein Gescheide trat rosig heraus.

Der Keiler drehte ab und stürmte, jetzt nur noch von einem Hund verfolgt, weiter. Anselm von Deinharting packte die Saufeder und stieß, als der Keiler ihn schon fast erreicht hatte, kräftig zu. Das riesige Tier rollte zu Tode getroffen vor seine Füße. Sogleich warfen sich einige der Hunde darauf und begannen es heftig zu zausen.

Anselm von Deinharting wandte sich Elisabeth zu. »Hast du …«, begann er lachend.

Aber sie stand nicht mehr neben ihm; sie war ohnmächtig in den Schnee gesunken.

Ohne eine Sekunde zu überlegen, nahm er sie auf seine Arme und trug sie, immer wieder im Schnee versinkend, zu dem Schlitten zurück. »Bringt mir die Hunde!«, brüllte er.

Aber als er Elisabeth auf den Sitz des Schlittens gebettet und sie mit leichten Klapsen auf die Wangen wieder ins Bewusstsein zurückgeholt hatte, war es nur der letzte Vorstehhund, den Peter ihm reichte.

»Der Pointer ist tot«, sagte er bedauernd, »das Rückgrat ist gebrochen.«

»Schade um ihn. Es war ein guter Hund.« Anselm von Deinharting öffnete den Flickkasten und riet Elisabeth, »sieh nicht hin!«

Aber sie konnte ihre Augen nicht von den starken, braunen Händen ihres Mannes lösen, der das heraushängende Gedärm des jaulenden Hundes mit Alkohol abwusch, vorsichtig wieder in die Bauchhöhle hineinpraktizierte und die Verletzung mit kleinen Stichen zunähte, wobei er nach unten hin eine Öffnung ließ, durch die Wundflüssigkeit und Eiter ablaufen konnten. »So, mein Alter«, sagte er, »wenn du Glück hast, bist du in vierzehn Tagen wieder gesund!«

»Gib ihn mir!«, bat Elisabeth mit schwacher Stimme.

»Geht es dir wieder besser?« Er legte ihr eine alte Decke auf den Schoß und den Hund darauf; noch immer glaubte er nichts anderes, als dass sie aus Schreck in Ohnmacht gefallen wäre.

Sie streichelte sacht das verletzte Tier. »Ich weiß gar nichts mehr!«

»Sei froh darüber. Ich fahre dich jetzt nach Hause!«

»Aber musst du nicht …?«

»Zuerst einmal muss ich mich um dich kümmern.« Er wandte sich an Peter. »Lasst die Jagd weitergehen!«

Peter nahm den Pferden die Decke ab und verstaute sie hinten im Schlitten. Anselm von Deinharting wendete und fuhr zurück. Beim Schloss angekommen, trug er Elisabeth nach oben in ihr Zimmer und rief Babette, damit sie ihrer Herrin beim Auskleiden half und sie ins Bett brachte. Erst jetzt merkte er besorgt, wie heiß sie war.

»Eine Erkältung«, wehrte sie ab, »es ist nichts weiter als eine Erkältung.«

»Hoffentlich! Auf keinen Fall stehst du mir heute auf!« Er brachte den verwundeten Hund in die Küche und bat Margarethe Meyr, ihm einen Korb zu richten und ihn bei sich zu behalten.

Dann stieg er wieder auf den Schlittenbock. Aber einer Eingebung folgend, fuhr er nicht sofort zum alten Bruch zurück, sondern zuerst ins Dragonerhaus.

Er knallte mit der Peitsche, rief, und Lucille, Kopf und Schultern in ein dickes Tuch gehüllt, kam aus der Tür.

»Ich kann nicht bleiben«, sagte er, »Elisabeth ist krank.«

»Steht es schlimm?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht. Aber ich werde heute nicht kommen können. Verzeih mir.«

»Aber das begreife ich doch gut«, erklärte sie erstaunlich verständnisvoll, »wenn sie krank ist, musst du dich um sie kümmern.«

»Ich freue mich, dass du das einsiehst!«

»Aber Anselm! Hältst du mich für ein egoistisches Ungeheuer?!«

»Natürlich nicht.« Er bückte sich zu ihr und küsste sie auf die Lippen. »Ich schicke dir Nachricht!«

»Ich werde auf dich warten!« Als die Pferde schon wieder anzogen, rief sie ihm nach: »Und … alles Gute für Elisabeth!«

Er hätte sich nicht so erleichtert gefühlt, wenn er das Glitzern gesehen hätte, das in ihren Augen aufleuchtete, als sie sich abwandte.

Wie eine gefangene Tigerin lief Lucille im Wohnzimmer des Dragonerhauses auf und ab, schlug mit den geballten Fäusten in die Luft und zerbiss sich die Lippen. Als Barbara sie zum Essen rief, wehrte sie ab; sie konnte und mochte nichts zu sich nehmen. Es reizte sie mehr denn je, dass die junge Frau sie nicht verstand, und unbeherrscht schrie sie sie an, ohne sich um ihr Befremden zu kümmern.

Unzählige Male trat sie ans Fenster und spähte in den klaren Wintertag hinaus, lief nach oben, von wo ihr Blick bis zur Straße hin reichte. Sie wusste selber nicht, was sie erwartete; sie wollte nur, dass endlich etwas geschah.

Aber der Tag ging dahin, das Dragonerhaus lag verlassen wie immer, und rasch senkte sich die Dämmerung über die Wiese und den Ausläufer des Waldes.

Barbara wollte die Kerzen entzünden, aber auch das lehnte Lucille ab. Solange sie im Dunkel blieb, war draußen doch noch ein Schein von Helligkeit.

Endlich ertönte noch aus der Ferne ein sanftes Geläute. Lucille sprang auf, legte sich ihr schwarzes wollenes Tuch um und eilte zur Haustür. Sie wusste, das war Antoinette, die jetzt nicht mehr zu Pferde, sondern dick vermummt in einem Schlitten die tägliche Fahrt zum Schloss und zurück ins Dragonerhaus unternahm, wobei sie morgens Afra abholte, die mittags zu Fuß zurück durch den Schnee stapfte.

Das warme Licht der Kerzen, die in den Kutschlampen brannten, wirkte auf Lucille, als wollten sie ihr eine gute Botschaft bringen.

Sie trat vor und fiel dem Pferd in die Zügel, ehe Antoinette bremsen konnte. »Wie steht es?«, fragte sie hastig.

»Was meinst du?«, fragte Antoinette erstaunt.

»Als wenn du das nicht wüsstest! Du willst mich auf die Folter spannen!«

»Gewiss nicht, Maman.«

»Die Hofmarksherrin ist krank! Ich weiß es! Er hat es mir gesagt!« Voller Ungeduld schüttelte Lucille die Armlehne des Schlittens. »Wie krank ist sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du lügst!«

»Maman, ich bitte dich, beruhige dich! Geh ins Haus, es ist ja eisig kalt! Ich werde das Pferd versorgen und dann …«

»Das kann Barbara tun!« Schneidend rief Lucille den Namen der jungen Frau, die gleich darauf aus dem Haus gelaufen kam. »Sag ihr, was sie tun soll! Mich versteht sie ja immer noch nicht!«

Antoinette vermied die Bemerkung, dass es wohl eher an Lucille gewesen wäre, die Sprache des Landes zu lernen, als von Barbara Französischkenntnisse zu erwarten. Beherrscht bat sie die junge Frau, sich um Pferd und Schlitten zu kümmern. Dann gab sie Lucilles Zerren nach, schlug die Felldecke zurück, sprang vom Schlitten und eilte in das offene Haus.

»Mon dieu!«, rief sie, die Wohnstube betretend. »Warum hast du denn kein Licht gemacht?«

»Weil mir nicht danach zumute war!«

»Warte!« Antoinette lief wieder in den Gang hinaus, öffnete die Ofenklappe, kam mit einem Span zurück und entzündete die Kerzen eines Wandleuchters. »Jetzt sieht es schon gleich ganz anders aus!« Sie warf ihr Tuch und die gestickte Mütze auf einen Stuhl und rieb sich vor dem Ofen die Hände; ihre Wangen waren vom Fahrtwind gerötet und das lockige Haar fiel ihr zerzaust in die klare, leicht gewölbte Stirn. »Es tut mir so leid, Lucille«, sagte sie, sich umwendend, »aber ich weiß wirklich so gut wie nichts.«

»Wozu warst du auf dem Schloss?! Du hättest dich erkundigen können.«

»Der Hofmarksherr hat sie von der Jagd zurückgebracht und sie hat sich gleich niedergelegt, soviel ist gewiss. Die Gäste sind am frühen Nachmittag aufgebrochen. Die Baronin von Amatingen wollte unbedingt nach ihr sehen, aber er hat es verhindert. Sie haben gedämpft miteinander gesprochen. Wir haben die Ohren gespitzt, konnten aber nichts verstehen. Du kannst dir denken, dass Beata und Auguste sehr erschrocken sind.«

»Aber was ist passiert?«

»Das scheint niemand richtig zu wissen. Die einen sprechen von einem Unfall. Vielleicht ist sie bei der Jagd angeschossen worden. So etwas kommt doch manchmal vor.«

»Sprich weiter! Ein Unfall! War es ein Unfall?«

»Ein Keiler soll auf den Hofmarksherren losgegangen sein. Peter meint, sie hätte sich erschreckt.«

»Nur erschreckt?«, Lucilles Enttäuschung war nicht zu überhören.

»Ja, ein Nervenfieber.«

»Das klingt schon besser.«

Antionettes runde Augen wurden dunkel. »Du wünschst ihr doch nichts Böses, Lucille? Was hat sie dir getan?«

»Nichts.« Lucilles schmale Lippen verzerrten sich zu einem Lächeln. »Sie ist mir ganz gleichgültig, Liebes.«

»Warum redest du dann so?«

»Du hast mich sicher falsch verstanden. Ein Nervenfieber also?«

»Vielleicht. Aber ich denke … ich wollte das Beata und Auguste natürlich nicht sagen …«

»Was denkst du dir?«

»Es könnte auch sein, dass sie sich angesteckt hat. Sie besucht doch immer die Kranken im Dorf. Gestern war sie wieder den ganzen Nachmittag unterwegs.«

»Ja, das könnte sein!«, sagte Lucille nachdenklich und biss sich auf die Knöchel. »Hat man den Bader geholt?«

»Den Doktor aus Taufbeuern.«

»Dann ist es also ernst!«

»Das ist es sicher! Maman …« Antoinette trat auf Lucille zu. »… sei ehrlich zu mir! Was versprichst du dir von ihrer Krankheit? Du wünschst ihr doch nicht den Tod?«

»Ich will den Hofmarksherren haben … ganz für mich haben!« Lucille ballte die Fäuste.

»Du hast von ihm gehabt, was du haben konntest.«

»Das ist nicht genug … lange nicht genug! Ich will seine Frau sein. Ich habe ein Recht darauf. Ich liebe ihn und ich verstehe ihn.«

»Ja, aber er liebt sie.«

»Ah, bah! Wenn sie erst nicht mehr ist, wird er sie rasch vergessen.«

»Darauf also spekulierst du.« Antoinette wandte sich achselzuckend ab. »Ich finde es hässlich von dir, aber du kannst mich damit nicht erschrecken. Ich glaube nämlich nicht, dass du mit deinen bösen Gedanken etwas ausrichten kannst. Die Frau des Hofmarksherrn wird gesund werden oder sterben, ganz wie Gott es will.« Sie nahm einen duftenden Bratapfel vom Ofen. »Und wenn ich du wäre, würde ich mir die bösen Wünsche aus dem Herzen reißen. Dann kannst du wenigstens mit gutem Gewissen um ihn kämpfen, wenn ihr etwas zustößt.« Sie biss in den Apfel und wischte mit dem Handrücken den Saft ab, der ihr über das Kinn lief.

Lucille löste die geballten Hände. »Du hast ja recht, Liebling, du hast recht. Bitte verzeih mir. Ich weiß selber nicht, was in mich gefahren ist. Ich war … völlig durcheinander.«

Antoinette legte zärtlich den Arm um ihre Taille. »Ich weiß ja, dass du nicht schlecht bist, sonst würde ich dich nicht so liebhaben.« In dem Wunsch, ihr etwas Gutes zu tun, hielt sie ihr den Apfel hin. »Magst du beißen?«

Lucille folgte der Aufforderung.

»Oh, gut!«, sagte sie. »Ich glaube, jetzt bekomme ich Hunger!«

»Dann nimm dir doch auch einen Apfel!«

»Nein, nein, ich muss etwas Richtiges essen. Bitte Barbara, dass sie den Tisch deckt. Als Vorspeise nehmen wir meine Hasenpastete, ja?«

»Deine Spezialität!« Antoinette küsste sie auf die Wange. »So gut wie du kann sie nicht einmal die Köchin bereiten!«

Sie aßen zusammen, spielten danach Domino, sprachen über dieses und jenes, nur nicht mehr über die Frau des Hofmarksherrn und ihre Krankheit. Lucille hatte sich wieder ganz in der Gewalt.

Aber als Antoinette zu Bett gegangen war, dachte Lucille nicht daran zu schlafen. Die ganze Nacht ging sie im Wohnzimmer auf und ab und konzentrierte ihre Gedanken auf Elisabeth. Sie wünschte ihr von ganzem Herzen den Tod und, anders als Elisabeth, war sie sicher, die Rivalin mit der Kraft ihres Hasses zu treffen.

Auch Anselm von Deinharting fand in dieser Nacht keinen Schlaf.

Doktor Lorenz, der Arzt aus Taufbeuern, war gekommen und hatte die Kranke, die über Seitenschmerzen klagte und deren Atem rasselnd ging, untersucht.

Anselm von Deinharting war nicht zu bewegen gewesen, während dieses Vorgangs das Zimmer zu verlassen. Obwohl der Arzt nicht mehr tat, als der Patientin in den Hals zu schauen, die Hand auf ihre Stirn zu legen und den Puls zu zählen, dauerte es ihm viel zu lange.

Endlich richtete Doktor Lorenz sich auf. »Eine Entzündung der Lungen«, konstatierte er.

»Und was ist dagegen zu tun?«, fragte Anselm von Deinharting mühsam beherrscht.

»Wir sollten versuchen, das Fieber noch zu steigern.«

»Aber sie glüht ja schon!«

»Das ist gut so. Lassen Sie einen Schafgarbentee bereiten.«

Anselm von Deinharting öffnete die Schlafzimmertür und gab die Anweisung an Babette, die draußen wartete, weiter.

»Und sonst?«, fragte er.

»Die Patientin sollte sich ruhig halten, kalte Luft meiden … Fenster also geschlossen lassen. Sollte der Puls schwächer werden, geben Sie ihr ein Getränk aus Sirup, Zitrone und Kirschsaft …«

»Das hilft?«

Doktor Lorenz zählte nach Jahren nicht mehr als der Hofmarksherr, aber der ständige Kampf gegen Schmerz und Tod, den er mit gänzlich unzulänglichen Waffen bestehen musste, hatte seinen Rücken gebeugt und seine Züge erschlaffen lassen. Tiefe Furchen hatten sich zwischen Nasenflügeln und Lippen eingegraben und seine Mundwinkel waren herabgezogen.

»Beten Sie!«, sagte er aufstehend. »Bei einer Krankheit wie dieser kann nur Gott helfen.«

»Aber Sie müssen doch etwas für meine Frau tun!«

»Was ich kann! Ich werde morgen wiederkommen. Ich lasse Ihnen Schwefelsäure da.« Er zog eine kleine Büchse aus seiner schwarzen Tasche.

»Schwefelsäure?«

»Für den Fall, dass kalter Schweiß ausbricht. Tun Sie dann eine Prise Schwefelsäure in das Getränk … auch Hirschhornsalz kann nicht schaden, aber das werden Sie ja in der Küche haben. Sollte das Getränk zu scharf werden, tun Sie mehr Sirup hinein.«

»Ich werde bei meiner Frau wachen.«

»Das ist gut. Aber lassen Sie sich ablösen, wenn Sie müde werden. Die Kranke sollte nicht allein bleiben. Zwingen Sie sie keinesfalls zum Essen!«

»Aber sie muss doch etwas zu sich nehmen!«

»Höchstens eine dünne Suppe oder, besser noch, ein Getränk aus Brot, Gerste und Hafer. Ich werde selber mit Ihrer Köchin sprechen.«

»Dafür wäre ich Ihnen dankbar.«

Elisabeth hatte mit geschlossenen Augen dagelegen, sie stöhnte von Zeit zu Zeit und warf sich unruhig herum. Es war deutlich, dass sie kaum etwas von dem, was über sie gesprochen wurde, aufgenommen hatte.

Doktor Lorenz beugte sich über sie und legte ihr sanft seine Hand auf die Schulter. »Gnädige Frau, hören Sie mich?« Elisabeth reagierte nicht.

»Ich komme morgen wieder!«, sagte der Arzt lauter. »Sie müssen tapfer sein!«

»Ja … ja!« Elisabeths Stimme klang rau.

Anselm von Deinharting begleitete Doktor Lorenz in das Treppenhaus und zog die Tür hinter sich zu. »Ehrlich, Doktor: besteht Hoffnung?«

»Durchaus. Die Patientin ist ja noch jung, ihr Herz ist kräftig. Gut möglich, dass ihr Körper imstande ist, mit der Entzündung fertigzuwerden.«

»Aber Sie wissen es nicht?«

»Wer kann das schon wissen? Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen! Lungenentzündung ist eine gefährliche Krankheit und gegen den Tod ist immer noch kein Kraut gewachsen.«

Anselm von Deinharting wurde blass bis an die Lippen. »Ich will nicht, dass sie stirbt!«

»Das glaube ich Ihnen, Verehrtester, nur möchte ich daran zweifeln, dass unser Wille stärker als das Schicksal ist.« Doktor Lorenz merkte selber, wie wenig trostreich er sprach, und fügte rasch hinzu: »Aber noch ist ja gar nichts entschieden. Die gnädige Frau ist jung, wie gesagt, sie hat sich von ihrer Fehlgeburt gut erholt, und ich glaube, dass sich hinter ihrer äußeren Zartheit eine tüchtige Portion Zähigkeit verbirgt. Jedenfalls …«, er lächelte, indem er die Mundwinkel noch tiefer herabzog, »… so weit, dass wir den Pfarrer holen lassen müssen, sind wir noch lange nicht. Bis morgen dann.« Mit hängenden Schultern stieg er die steinernen Stufen hinunter und wich aus, als Babette mit einem Tablett heraufkam.

Anselm von Deinharting nahm es ihr ab. »Begleite den Doktor in die Küche!«

Elisabeth hatte das Federbett fortgestoßen, als er wieder ins Zimmer kam.

Sorgsam deckte er sie zu. »Das darfst du nicht, Elisabeth!«

»Heiß!«, murmelte sie.

»Ja, ich weiß. Aber der Doktor sagt, schwitzen ist gesund für dich!« Er schenkte Tee aus der silbernen Kanne in die Tasse, schmeckte, tat Sirup aus einem Steinguttöpfchen hinzu, probierte noch einmal; der bittere Geschmack ließ sich nicht unterdrücken. Die Tasse in der Hand, setzte er sich auf den Bettrand, umschlang Elisabeth mit dem freien Arm und richtete sie auf. »Da, trink!« Er führte ihr die Tasse an die Lippen. Durstig trank sie die halbe Tasse leer und verzog dann das Gesicht.

»Ich weiß, es schmeckt nicht gut, aber es ist Medizin! Trink aus, Elisabeth, bitte! Später bekommst du Saft!«

Die ganze Nacht umsorgte Anselm von Deinharting die Kranke, deckte sie zu, sprach beruhigend auf sie ein und wischte ihr den Schweiß ab. Dabei zweifelte er daran, ob sie sich seiner Anwesenheit überhaupt bewusst war. Sie stieß Satzfetzen hervor, die, wenn er sie überhaupt verstehen konnte, doch keinen Sinn ergaben. Am meisten erschreckte es ihn, dass sie, die Schamhafte, sich ohne zu sträuben von ihm auf den Nachttopf setzen ließ und es auch duldete, dass er ihr statt des völlig durchnässten Hemdes ein frisches anzog.

Es war, als hätte die grausame Krankheit ihre Persönlichkeit schon ausgelöscht. Auch äußerlich ähnelte sie mit dem hochroten Gesicht, dem von Schweiß dunklen, verklebten Haar und geöffneten Mund kaum noch der Frau, die er kannte. Dennoch schien ihm, als hätte er sie noch nie so geliebt wie in ihrer kreatürlichen Hilflosigkeit.

Während Elisabeth mit dem Tode rang, lebte Lucille in einem Zustand der Euphorie. Es störte sie nicht, dass Anselm von Deinharting sich nicht im Dragonerhaus blicken ließ. Sie sah darin eine kurze, bedeutungslose Zeit der Trennung, die es zu überstehen galt, um dann für immer vereint zu sein.

Ihr geistesabwesendes Lächeln, ihr in die Ferne gerichteter Blick und ihr schwebender Schritt beunruhigten Antoinette tief. Obwohl noch ein Kind, war sie nicht naiv genug, die Ursache von Lucilles Verzauberung nicht zu erkennen. Sie spürte die Gefahr, traute sich aber nicht, Lucille in die Wirklichkeit zurückzuholen, so wenig wie sie einen Schlafwandler auf dem Dachfirst anzurufen gewagt hätte.

Sie musste sich eingestehen, dass sie Lucille falsch eingeschätzt hatte. Für leichtfertig, eitel und selbstsüchtig hatte sie sie immer gehalten, und sie hatte auch gewusst, dass sie durchaus fähig war, aus dem Schaden eines anderen für sich selber Nutzen zu ziehen. Aber sie hätte sie nicht für skrupellos genug gehalten, einer Frau, die ihr nie etwas Böses getan hatte, den Tod zu wünschen.