JEAN-YVES CLÉMENT

Glenn Gould

oder das innere Klavier

Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff

Mit Fotos von Don Hunstein

OKTAVEN

Der Musik, und denjenigen, die sie in den Himmel heben, um sie allen zu schenken.

INHALT

1 SO YOU WANT TO WRITE A BOOK
Ouvertüre à la canadienne in 12 Variationen

2 VON DER SELBSTBEHAUPTUNG
(1932 – 1947)

3 VON DER NEUSCHÖPFUNG
(1947 – 1955)

4 VON DER MORAL
(1955 – 1964)

5 VON DER ENTSAGUNG
(1964 – 1973)

6 VOM ABENDLICHT
(1973 – 1980)

7 TOD UND VERKLÄRUNG
(1980 – 1982)

ANHANG

Biografische Daten

Ausgewählte Bibliografie

Personenregister

Werkregister

Impressum

Der einsame Vogel muss fünf Eigenschaften haben:

Die erste, dass er zum höchsten Punkt fliegt,

die zweite, dass er keine Gesellschaft erträgt,

auch wenn sie von seiner Art ist,

die dritte, dass er den Schnabel in den Wind hält,

die vierte, dass er keine bestimmte Farbe hat,

die fünfte, dass er lieblich singt.

Johannes vom Kreuz

Worte von Licht und Liebe

16. Jahrhundert

1 SO YOU WANT TO WRITE A BOOK

Ouvertüre à la canadienne in 12 Variationen

Ich bin ein Komponist, ein kanadischer Schriftsteller und ein Medienschaffender, der in seiner Freizeit Klavier spielt.

Glenn Gould1

Glenn Gould lieben bedeutet einer bestimmten Lebensauffassung anhängen, denn diese Liebe geht weit über die schlichte Wertschätzung eines außergewöhnlichen Meisterpianisten hinaus, für den das Piano alles war, nur kein Selbstzweck.

Denn Gould war auf der Suche nach – in seinen eigenen Worten – der «Musik an sich», getragen von einer klar umrissenen Weltanschauung, die er während seiner Kindheit erwarb und sein Leben lang beibehielt, einer Suche auf unterschiedlichen Pfaden, die alle in eine ungewöhnliche Form der Vita contemplativa mündeten.

In Gould könnte man den Thomas von Aquin der Musik sehen, denn er war ein Mensch, der auf den leicht erworbenen Ruhm und die weltlichen Freuden verzichtete, die öffentliche Auftritte einbringen, und lieber steinigere Wege beschritt, die der geistigen Entwicklung und der Menschheit in ihrer Gesamtheit zugutekommen. Als er sich mit erst einunddreißig Jahren auf so radikale und spektakuläre Weise aus dem Konzertbetrieb zurückzog – viel früher noch als Liszt und letztlich aus denselben inneren Gründen –, wandte er sich damit nicht von der Welt ab, sondern gab als kreativer Künstler und als Mensch den Blick frei auf höhere Dinge.

Zeitlebens war er in verschiedenen Kunstsparten ungewöhnlich stark engagiert, davon zeugen zahlreiche Plattenaufnahmen, Radio- und Fernsehsendungen sowie umfangreiche musikästhetische Texte, und nur der Tod verhinderte den Einstieg in ein drittes Leben, das dem Schreiben («Wenn ich nicht Musiker geworden wäre, wäre ich gern Schriftsteller geworden»), dem Dirigieren und zweifellos auch dem Komponieren gewidmet gewesen wäre. All diese Facetten hatten ausschließlich den Dienst an der Musik zum Ziel, nicht die Karriere oder den Ruhm. Ein Heiligenleben. Dienen – nicht sich bedienen. Auch das erinnert an Liszt, dessen Kompositionen Gould allerdings wenig abgewinnen konnte.

Thomas von Aquin hat es so formuliert: «Das aktive Leben, in dem man die Früchte seiner Kontemplation durch Predigen und Lehren an andere weiterreicht, ist höher einzuschätzen als das allein der Kontemplation geweihte Leben, denn ein solches setzt einen großen kontemplativen Reichtum voraus.»

Gould fühlte sich wesensmäßig stark von einer harmonischen, friedvollen Existenz angezogen, einer Existenz fern der Schlachtfelder Konzertsaal und Wettbewerb («Ich glaube, dass nicht Geld, sondern Wettbewerb die Wurzel allen Übels ist»), fern der Masse und ihrer Anspruchshaltung, fern von allem, ausgenommen dem eigenen Selbst. Und der Musik … «Bei einer Interpretation geht es nicht um ein Match, sondern um eine Liebesgeschichte.»

Um Gould zu lieben, muss man weit mehr lieben als das Klavier, seinen Glanz und seine Verführungskünste, mehr auch als das traditionelle Repertoire. An keinem der großen Magier des Klaviers – Scarlatti, Schubert, Schumann, Chopin, Liszt, Rachmaninoff, Debussy, Ravel – findet Gould Gefallen (obwohl er sich für einen «Erzromantiker» hält!), er zieht ihnen bekanntermaßen Bach mit Abstand vor, «den größten Musiker der Geschichte», aber auch Schönberg, Hindemith, Sibelius, die elisabethanischen Komponisten (Gibbons, Byrd) sowie die Spätromantiker (Richard Strauss, den er verehrt) und Wagner (dessen Tristan bringt den Fünfzehnjährigen zum Weinen und er wird ihn später mit Begeisterung transkribieren). Sicher, es gibt Ausnahmen unter den «pianistischen» Komponisten wie Mendelssohn («Ich liebe Mendelssohn über alle Maßen») oder Skrjabin, dessen post-wagnerianische, «ekstatische» Polyphonie ihn trotz ihrer Sinnlichkeit entzückt («Er suchte nach ekstatischen Erfahrungen außerhalb des Klaviers»).

«Die Komponisten, die ich spiele, sind allesamt über das Instrument hinausgegangen», beteuert er, für sie sei «das Klavier nur ein Ersatz», ihnen sei die Struktur wichtiger als der Klang. Der hedonistische Umgang mit der Tastatur ist ihm nicht geheuer, und dazu zählt praktisch die gesamte Frühromantik, die seines Erachtens von diesem Übel befallen ist. Bleiben noch Beethoven, den er häufig spielt, und Brahms, eher sporadisch, aber in beiden sieht er eher die Komponisten als die «Schöpfer am Klavier», man könnte fast sagen, er versucht sie vom Klavier losgelöst zu betrachten. Für Gould ist die Musik in erster Linie etwas Geistiges …

Aus seiner Sicht ist die Welt der Musik zweigeteilt: in eine vom Instrument abhängige und eine, die davon unabhängig ist. «Das Klavier ist ein Instrument der Verwirrung», erklärt er in dem moralisierenden Tonfall, den er gelegentlich anschlägt. Es dürfe nicht dazu dienen, den Pianisten glänzen zu lassen, sondern allein den Musiker (diese Lektion hat er von Artur Schnabel gelernt, für den die musikalische Idee «der Erscheinungsform der Musik vorausgehen muss» – ein Gedanke, der von Gould stammen könnte), sofern dieser das rein «Pianistische» ablehnt und die musikalische Struktur und ihre Wirkungen akzentuiert (Swjatoslaw Richter gehört in diesem Punkt zu den «Auserwählten».)

Hinter Aussagen wie diesen verbirgt sich ein anderes Thema, das einzige, das wirklich für ihn zählt: der Kontrapunkt, die Kunst der musikalischen Linien, das aristotelische «primum movens», die «erste Ursache» der Musik und ihre unerschöpfliche Quelle … Das Urprinzip, die Grundlage der Polyphonie, die über Jahrhunderte vorgeherrscht hat, bis hin zu Bach, dem Hohepriester in Glenn Goulds musikalischer Kathedrale.

Der Kontrapunkt, der in der königlichen Kunst der Fuge zur Blüte gelangt, ist die Antriebskraft seiner sämtlichen künstlerischen Aktivitäten, einschließlich der Hörfunkdokumentationen (wie der raffinierten Solitude Trilogy, dem einzigen Experiment dieser Art in der Geschichte des Rundfunks) und der Radioporträts von Casals, Stokowski, Schönberg und Strauss. Er prägt sein ganzes Wesen, sein Sprechen und Schreiben, sogar seinen Alltag, in dem eine dynamische, geradezu «polyphone Persönlichkeit» sichtbar wird. Immer taucht bei Gould früher oder später zum Hauptthema wie aus dem Dunkel des Orgel-Récit ein Gegenthema auf, in der Realität oder der Theorie. Entstehen so seine Selbstgespräche, singt er deshalb, sobald Musik erklingt? Gould und seine Doppelgänger.

Gould ist ein spiritueller Pianist, das springt geradezu ins Auge. Die Filmaufnahmen von der Einspielung der Goldberg-Variationen im Jahr 1981 haben es ein für alle Mal dokumentiert. Nie zuvor hat sich die Musik, vermittelt von einem einzelnen Menschen und auf so universell gültige Weise, so sehr der Religion angenähert und das Klavierspiel so sehr dem Gottesdienst. Einem privaten Gottesdienst freilich, der vor Mikrofonen zelebriert wird, die dafür sorgen, dass er bis in alle Unendlichkeit wiederholt werden kann.

Die Tonaufnahme als eigenständiges, in jeder Hinsicht gelungenes Kunstwerk erlaubt unvergleichlich hochwertige Ergebnisse, da die Zugeständnisse an das Konzertpublikum und dessen Erwartungshaltung wegfallen. Gould ist der erste «klassische» Pianist, der seine Plattenaufnahmen derart rigoros kontrolliert und ihnen – in konkreter wie philosophischer Hinsicht – eine solche Bedeutung zumisst. Das tut auch Karajan, sicher, doch Gould erzielt eine viel größere Wirkung, und seine Grundhaltung hat weitreichendere Folgen, da er Ernst macht und sich endgültig vom Konzertbetrieb abwendet.

Gould macht sich Nietzsches Maxime zu eigen, die der Philosoph seinem Helden Zarathustra in den Mund gelegt hat: «Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernen und Künftigen.» Er predigt die «neue Religion» der Tonaufnahme, mithilfe ihres «weltlichen Arms», des Tonschnitts, der den Willen des Propheten ausführt. Allein die neue Religion kann, da sie sich vor der Welt und ihrem hektischen Konkurrenzdenken schützt, zur wahren Kommunion und zur Ekstase führen. Denn in ihr besteht das erklärte Ziel der Suche: Sie vereint «Musik, Interpretation, Interpret und Zuhörer, die verbunden sind durch ein gemeinsam erlebtes Gefühl der Versenkung» (wie bei Alexander Skrjabin, der sich ebenfalls der Suche nach Ekstase geweiht hat).

Die Ekstase offenbart sich uns in Goulds spürbarem Glück, seinem beseligten Zustand am Klavier, den er mit einem berühmt gewordenen Satz definiert: «Das Ziel der Kunst ist nicht die Auslösung eines vorübergehenden Adrenalinstoßes, sondern ein kontinuierlicher, das ganze Leben dauernder Aufbau eines Zustandes des Staunens und der Heiterkeit.» Das höchste Ziel besteht darin, diesen «Zustand des Staunens» wieder und wieder zu erzeugen.

Indem man seinen Nächsten «auf Abstand» hält, nähert man sich ihm in Wirklichkeit besonders stark an, und zwar dank der Technologie – Gould glaubte an die «Barmherzigkeit der Maschine», das heißt, durch den wirkungsvollsten Kommunikationsakt überhaupt, den gemeinsamen Musikgenuss in seiner angemessensten Form: von der Einsamkeit in die Einsamkeit. Gould zufolge findet man die Anfänge dieser Denkweise in den mahnenden Worten des Starez Sossima aus dem Roman Die Brüder Karamasow: Es gibt jene, die «versichern, die Welt werde sich immer mehr einigen, sich zu einer brüderlichen Gemeinschaft zusammenschließen, indem sie die Entfernungen verkürzt und die Gedanken durch die Luft übermittelt.» Ist diese Zeit nicht bereits gekommen?

Die Kunst verbindet bei Gould über alle Distanz hinweg absichtslos und rein all jene, die dieselbe Musik- und erst recht Weltanschauung teilen, und bildet dank der Tonaufnahme eine Art unsichtbarer Gemeinschaft von Musikern und Hörern, denen der schöpferische Pianist regelmäßig seine Schallplatten liefert, wie Früchte seiner Versenkung und seiner lange gereiften Entscheidungen – unabhängig von kommerziellen Erwägungen und Karrieredenken, frei von allem, was nicht seinem Wesen entspringt.

Tatsächlich findet sich bei Gould eine Neigung zur Askese, sowohl im Leben als auch im Werk, und das seit seiner Kindheit. Einer Askese, die durch die in Konzertsälen verbrachte Zeit behindert, besudelt wird, auch wenn sie nur zehn Jahre dauerte. In Goulds Augen sind diese Jahre ein Irrweg. Sein Befund trifft, das muss man anerkennen, in der heutigen Zeit, in der der Interpret ein kommerzielles Produkt wie jedes andere und das Musik-Business ein von Oberflächlichkeit und Niveaulosigkeit beherrschter Markt geworden ist, in erschreckendem Ausmaß zu. Von den Künstlern, die er zu Missionaren ernennt, fordert Gould Askese und eine klare moralische Haltung. Die Kunst kann und soll die Menschheit veredeln, sie aus der barbarischen Epoche ihrer Irrtümer erlösen, deren Symbol der Konzertsaal ist … Denn die Kunst ist kein Selbstzweck, und das kontemplative Leben ist ihr überlegen. «In der besten aller Welten wäre die Kunst überflüssig.»

Sein Leben lang strebt Gould danach, seine Liebe zur Musik mit dieser Moralauffassung in Einklang zu bringen und seine kreativen Anstrengungen danach auszurichten. Dabei wird das Mikrofon zum wichtigsten Instrument überhaupt. Seine Moralauffassung spiegelt sich in seinen stilistisch wie inhaltlich oft sehr originellen Texten, die sie erklären, präzisieren und ergänzen. (Die Schmähungen gegen Gould erstrecken sich bis heute auch auf seine Schriften, obwohl so mancher Musikkritiker bei der Lektüre der geistsprühenden, energiegeladenen Analysen vor Neid erblassen sollte.) Viele Variationen, ein Thema: das Staunen, Ideal und Ziel, allen Menschen zugänglich, denn «jeder Mensch erschafft durch Kontemplation seine eigene Göttlichkeit». Metaphysik à la Gould.

Und nun das Klavier, das die Botschaft übermittelt! Beschäftigen wir uns ein wenig mit ihm, denn schließlich ist es das Klavier, mit dem man Gould weltweit assoziiert – kein zweitrangiges Werkzeug, wie der Pianist es uns zuweilen glauben lassen möchte. Es bringt das, was durch die mentale Aneignung bereits als innere Erfahrung existiert, zum Klingen, es ist der perfekte Repräsentant (obwohl Gould nur wenig Zeit tatsächlich am Klavier verbringt), denn das so geliebte wie verhasste Klavier ist im Grunde ein zweites Ich. Seine Zuflucht und sein Vertrauter. Sein Werk. Der Ort, an dem sich die Musik sammelt. Der zweite Körper, dem sich der erste hingibt, auch hier im Streben nach Ekstase. – Gould oder das innere Klavier.

Ist das Klavier nämlich vollkommenes Werkzeug – auch Liszt wollte das –, so ist es nicht mehr Werkzeug, sondern vielmehr ein vollkommenes Gefäß, das den Geist empfängt. Darin besteht letztlich seine Aufgabe. Was am meisten auffällt, wenn man Gould am Flügel beobachtet, ist die Osmose, die einzigartige, unauflösliche körperliche Verbundenheit. Mehr als jeder andere Pianist ist Gould seinem Instrument wesensverbunden. Denn er überträgt ihm die Aufgabe, sein ganzes Wesen auszudrücken. Außerhalb des Konzertsaals ist seine Verantwortung noch größer, gewissermaßen umfassend, nicht mehr zeitgebunden, denn Goulds Tonaufzeichnungen haben ihren eigenen Zeitbegriff.

Der Unterschied zu den anderen Pianisten (außer der galoppierenden «Pianophilie», die Gould natürlich ablehnt) besteht zugleich in der Wahrnehmung wie im Konzept, bei dem das Klavier mit dem Schlussstein eines (Gedanken-)Gebäudes vergleichbar ist, das mit vielfältigen Induktionen wie mit Gewölbebögen abgestützt wird. Man muss Goulds Werk als ein architektonisches Ganzes betrachten, in dem alles seinen Platz hat und miteinander in Verbindung steht.

Hören wir Gould selbst, wenn er in seiner Rezension des Buches von Geoffrey Payzant den Autor zitiert und damit gleich doppelt seine Anerkennung ausdrückt. Professor Payzant stellt klar, dass er «sich nicht vorgenommen hat, ein Buch über einen Pianisten zu schreiben, sondern vielmehr über einen Prozess des musikalischen Denkens, der von Zeit zu Zeit in Tätigkeit an den Tasten umgesetzt wird». In der Tat hat Gould immer versucht, die Bedeutung des Klaviers zugunsten seiner anderen Masken herunterzuspielen. Und doch bleibt es der unangefochtene Herrscher. Wie Liszt im Jahre 1837 hätte auch Gould erklären können: «Mein Klavier ist meine Sprache, mein Ich, mein Leben.» Er kündigte zwar an, mit fünfzig das Klavierspiel aufgeben zu wollen, doch es ist schwer vorstellbar, dass er sich von seiner kreativen und persönlichen Heimat so einfach hätte lossagen können. Letztlich wurde ihm die Entscheidung dann abgenommen.

Glenn Gould, das ist in erster Linie eine Tongebung von unerhörter Klarheit, eine Tongebung und eine Präsenz – ein anderes Wort für Intensität –, die natürlich durch den rhythmischen «Grund-Puls», den festen Parameter seiner Interpretationen, gekennzeichnet ist. Dazu kommen eine umwerfende Plastizität des Klangs und etwas ungemein Strahlendes, Lichtvolles. All das verschmilzt bei jeder seiner Interpretationen zu einem unverkennbaren Ganzen. Durch den Klang vollzieht sich etwas wie eine jähe, gleißende Offenbarung des Daseins. Diese mystische Lebensbejahung erinnert an die von der christlichen Liebe Besessenen, sie äußert sich in einem Jubilieren, man könnte fast sagen Rausch: eines der Gesichter der Ekstase, eine ihrer Variationen.

Man hat Goulds beispiellose Präsenz häufig in Zusammenhang mit Bach-Interpretationen erwähnt, weil sie dort besonders natürlich und nachhaltig wirkt. Aber sie findet sich überall in Goulds Spiel, von Byrd bis Schönberg – prächtig und glanzvoll, durchdrungen von Freiheitsliebe, herrlich frech und sinnlich. So auch die wichtigsten Transkriptionen, Beethoven/Liszt, Ravel, Wagner, eine Überfülle an Melodien, so expressiv und beschwörend, als wären tausend imaginäre Stimmen instrumentiert. Nie scheint Goulds an Besessenheit grenzende Begeisterung zu versiegen, nie wirkt er gleichgültig oder desinteressiert an dem musikalischen Material, das sich (im wahrsten Sinn des Wortes) unter seinen Händen offenbart, nicht einmal dann, wenn er ungeliebte Werke spielt (allerdings in diesem Fall deutlich weniger überzeugend). Jedes Mal scheint das Wort Fleisch zu werden, die musikalische Religion von Glenn Gould nimmt Gestalt an.

Hören wir seine Transkription des Vorspiels zu Wagners Meistersingern, die uns ein raffiniert verschlanktes Werk vorführt, von dem man viele bombastische Versionen kennt. Von Gould gespielt, strahlt es eine ansteckende Heiterkeit aus. Eine unbezwingbare Lebensenergie ist hier am Werk, die sich, kaum verausgabt, schon wieder regeneriert. In jedem Ton schwingt eine Hoffnung mit, die an den nächsten weitergegeben wird, damit sich dieser noch höher hinaufschwingt. Es ist der Triumphmarsch eines Menschen, der sich Wagners reichhaltiges Material angeeignet hat und uns damit beschenkt. Goulds Kunst ist erfüllt von tänzerischer Energie.

Sein Leben steht im Gegensatz zu seiner Kunst, ist ihr völlig untergeordnet, eher schwermütig und zurückgezogen, ganz bewusst das Gegenteil der von einem ordinären, alltäglichen Hedonismus geprägten Existenz eines Konzertpianisten, wie sie Gould in dem urkomischen (und hochbrisanten!) fiktiven Porträt des weltberühmten Artur Rubinstein karikiert:

Erinnerungen an Maude Harbour oder Variationen über ein Thema von Artur Rubinstein.

Das «Heldentum» – Gould selbst verwendet den Begriff – des Einsamen ist der «Garant der Kreativität». Das Studio ist in diesem Sinn ein Uterus und eine Zuflucht, die ihn abschirmt und schützt: «Ich tilgte tatsächlich aus meinem musikalischen Leben alles, was nicht klösterlich war.» So ist auch die erstaunliche Aussage zu verstehen, die seinen Lebensstil reflektiert: «Für mich ist jede Musik, der es nicht gelingt, die Zuhörer von der Welt zu isolieren, in der er lebt, per se von geringerem Wert als eine Musik, die dieses Ziel zu erreichen vermag.»

Man weiß es, es ist oft gesagt worden, dass Gould in Beziehungen gern Abstand hielt (was nicht ausschloss, dass er im persönlichen Umgang sehr warmherzig sein konnte, wie viele Menschen bezeugen, die mit ihm zusammengearbeitet haben) und dass er lieber telefonierte, als sich in Cafés zu verabreden oder gar an mondänen Dinners teilzunehmen, die ihm ein Gräuel waren. Weiter oben habe ich erläutert, welche Philosophie dieser Distanz zugrunde lag, aber man muss dennoch annehmen, dass die Veranlagung dazu schon vorhanden war, als Ergebnis der – u. a. musikalischen – Erziehung durch die Eltern und vor allem die Mutter, seine Lehrerin, die zeitlebens großen Einfluss auf ihn hatte.

Von ihr übernimmt er auch die moralischen Werte, die immer wieder als «puritanisch» bezeichnet werden, dabei zeugen sie lediglich von Goulds Abneigung gegen jegliche Ablenkung. Er muss und will seine Kunst durch bewusste Isolation schützen und bewahren, nach dem Vorbild der Familie, deren Funktion später das Tonstudio übernimmt. Das führt so weit, dass er sich Mechanismen zulegte, die man mit Fug und Recht ein «Verteidigungssystem» nennen kann. Wie wir gesehen haben, ist in Goulds Lebens- und Denksystem die Einsamkeit eine unverzichtbare Bundesgenossin, sie «fördert die Kreativität»: «Jeder schöpferische Künstler, der ein halbwegs wertvolles Werk schaffen will, ist zwangsläufig als Gesellschaftsmensch relativ mittelmäßig.»

Der Konzertbetrieb ist unmoralisch …

Die Vorliebe für den Norden, der Gould «seit der Kindheit fasziniert», passt zu diesem Bedürfnis nach Innerlichkeit und zu der Gewissenhaftigkeit eines Musikers, der mit mediterranem Überschwang und südlichen «Ausschweifungen» so gar nichts anfangen kann (die italienische Gesangskunst ist ihm besonders fremd). Toronto, seine Geburtsstadt, seine Zuflucht, der Ort, an dem Goulds zweites Leben nach dem Konzertsaal stattfindet, hat seine tief verwurzelte Liebe zur Kälte, zur Natur, zum «Grau», der Farbe des Unbestimmten, erzeugt und wird sie weiter begünstigen. Zu sich selbst findet er auf keinen Fall unter Sonnenstrahlen, denn das wahre Licht strahlt stets «im Inneren».

Dass der Zweck die Mittel heiligt, wiederholt Gould unablässig, vor allem dann, wenn es um die «ideale» Einspielung geht, die seiner Meinung nach durch eine genügend große Anzahl von Takes erreicht wird. Dies widerspricht vollkommen der verbreiteten Ansicht, dass eine Schallplatte umso gelungener ist, je weniger Takes dafür benötigt werden. Damit überträgt man die Ideologie des Konzerts auf die des Tonstudios, obwohl es sich um zwei gegensätzliche Welten handelt. Als Gould dem einen den Rücken kehrt und sich dem anderen zuwendet, gibt es kein Zurück, die Abkehr ist ebenso eindeutig wie sein ganzer Lebensplan, der von Kindheit an seinem höchst eigenwilligen Musikverständnis folgt.

Dass der Zweck die Mittel erzeugt, ist ebenfalls bezeichnend für Goulds Klavierspiel, ein Spiel, das ausschließlich und vollständig an die geistigen Kräfte gekoppelt ist, wie man es noch bei keinem anderen Instrument so stark erlebt hat (und auch in dieser Hinsicht schließt Gould an Liszt an, der als Erster die Vorrangstellung des Geistes gegenüber der Mechanik betont hat).

Streng genommen gibt es für Gould nicht einmal eine Klaviertechnik als solche, da sie nur die Umsetzung des bereits vorhandenen geistigen Bildes und seine Wiedergabe auf der Tastatur ist und damit keineswegs abhängig von irgendeinem konkreten Kontakt mit dem Klavier. Gould sagt es selbst: «Die Distanzierung vom Klavier und die Stärkung der geistigen Vorstellung sind die einzigen Leistungen, die mir wirklich sinnvoll erscheinen.» Gerade durch die Distanz verfestigt sich die «geistige Vorstellung» … Wenn Gould sich ans Klavier setzt, hat er seine Interpretation bereits im Kopf, die «Inkarnation» ist nur noch eine Form der Übertragung auf das Instrument.

Das ist absolut einzigartig und setzt natürlich ein außergewöhnliches Talent voraus. Nur so kann der alchimistische Prozess in Gang kommen, nur so gelingt der selbstverständliche, fast magische