Renate Suchanek

Im Schatten weit verzweigt

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© 2017 Renate Suchanek

Autorin: Renate Suchanek

Verlag: MyMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH, Wien

ISBN

Paperback:978-3-99070-241-3
Hardcover:978-3-99070-378-6
e-Book:978-3-99070-379-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für meine Mutter

The dark side of…

im schatten

weit verzweigt

jagt

ein großer schmerz

wann taucht

AMUN

wieder ans licht

wann MUT

unsichtbar

doch wirksam

das gift

der vergangenheit

Meine Sehnsucht nach Leichtigkeit und unbeschwertem Leben blieb lange unerfüllt. Kopf und Bauch tanzten nicht im Gleichschritt, es rieb sich, es schmerzte!

Hinschauen, immer wieder in die Verstrickungen des Lebens eintauchen, dem Blick des Schicksals standhalten. Wann hatte meine Geschichte ihren Anfang genommen?

Der Ursprung meines Lebensbogens reicht weit vor meine Geburt und wiegt umso schwerer, je weniger ich davon weiß. Die Unschuld der Nachgeborenen gibt es nicht; dieses Erbe kann auch das Wasser der Taufe nicht wegspülen.

Wortfetzen, meist harmlose Geschichten, über eine unbeschreibliche Zeit drangen an mein Ohr, aber es sollte alles besser werden. Ein kleines Mädchen wuchs heran und trug im Verborgenen schweres Gepäck.

Fülle und Möglichkeiten hatten mein Dasein umgeben, die Welt war im Aufbruch nach dem Krieg. Trotzdem steckte ein harter Knoten in mir, drückte mich und war schwer zu begreifen.

Loskommen – sich lösen – erlösen, aber wie?

Immer diese Andeutungen!

Es war mir damals zu wenig gewesen, was meine Mutter mir erzählt hatte.

Natürlich hatte sie uns von früher berichtet und nach dem Tod von Papa ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben, doch ich konnte mich lange nicht wirklich einfühlen, zu Vieles blieb unausgesprochen.

Wenn du einmal älter bist, wirst du es verstehen, hatte sie oft gesagt.

Verstehen?

Ich frage mich bis heute: Ist wirkliches Verstehen überhaupt möglich?

Es mussten Jahre vergehen, bis ich ansatzweise erahnen konnte, wie meine Familie die schwierige Zeit im und nach dem Krieg erlebt haben konnte.

Meinen Vater, den Wortlosen, hatte ich noch weniger begreifen können, auch wenn er bis heute in mir steckt und wirkt, mehr als mir lieb ist. Fragmente seiner Geschichte kenne ich hauptsächlich aus Erzählungen anderer und seit kurzem aus den Briefen aus Stalingrad und der Gefangenschaft, natürlich unter den Augen der Zensur geschrieben. Lange konnte ich auch nicht zuhören; die Scham und Wortlosigkeit meiner Eltern über Vieles traf auf eine besserwisserische Überheblichkeit meinerseits, die verstummte, als sie nichts erreichte.

Was sich all den Berichten und Erzählungen entzogen hatte, schwebte trotzdem wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern. Ein Tunnelblick, gefangen im Unbegreiflichen aus vergangener Zeit, hatte die Eroberung meines eigenen Lebens nur zäh und unter Schmerzen gelingen lassen.

Die Kunst, hinter die Wörter zu schauen und das, was ich dabei gespürt habe, zu ertragen, habe ich nur schwer erlernt. Nur sehr langsam konnte ich mich öffnen.

1.

9. JÄNNER LIEBESTANZ 7 JAHRE SEHNSUCHT VOLLTREFFER

ZELLE FÜR ZELLE IN DUNKLER WÄRME GEHEIMNIS DES WERDENS BEGINN

Kalt! Eiskalt!

Der raue Wind wirbelte den feinen Schnee in jede Ritze. Er rieselte in die aufgestellten Mantelkrägen, in die Gesichter und raubte uns die freudige Erwartung. Viele Augenpaare tasteten die Schienenstränge ab, bis sie sich in der Ferne verloren. Irgendwann wird er kommen, der Zug, der heiß ersehnte, mit den Ehemännern, den Söhnen und Freunden, die wir dann vielleicht nicht mehr erkennen. Die Menge wogte bedrohlich hin und her, nur wenige Männer waren zu sehen, die meisten alt, doch viele Frauen und vereinzelt auch Kinder, die wegen der Kälte heulten und mit Schlägen zum Schweigen gebracht wurden. Alle standen neben dem ausgebombten Bahnhofsgebäude und warteten. Gut, dass wir Sophie nicht mitgenommen hatten; dieser Ort war nichts für Kinder, war ich doch froh, dass sich ihre Verkühlung endlich gebessert hatte. Ich aber konnte und wollte nicht ruhig stehen. So rannte ich die brüchigen Bahnsteige entlang in der Hoffnung, als Erste beim einfahrenden Zug zu sein. Immer in Bewegung bleiben, da spürte ich die Kälte weniger und die Zeit saß nicht mit bleierner Schwere auf meinen Schultern. Der Atem stoßweise, der Herzschlag wie ein Trommelwirbel und die Zehen fast abgefroren, und trotzdem ließ ich mir die kleine Portion Zuversicht nicht rauben. In Kopf und Herz drehten sich Gedanken und Gefühle.

So viele Jahre hatte ich auf diesen Augenblick gewartet, aber nun war meine Geduld zu Ende. Es war unerträglich, wie lange sie uns hier zappeln ließen, bei dieser Kälte, ein Wahnsinn!

Einmal musste sie doch ein Ende haben, die Qual, die endlose Qual. Wenn Rudi wieder bei uns war, würde alles besser und mein Leben leichter werden. Hoffentlich!

Ich war aufgeregt, man hörte, dass es nicht immer einfach war, die Heimkehrer, die viele Jahre Unbeschreibliches erlebt hatten, zu ertragen. Sie kamen aus der Hölle und es dauerte lange, bis die Wunden geheilt waren; manchmal heilten sie nie. Wieder würde Geduld gefragt sein, immer nur Geduld.

Es war schon vier Uhr vorbei, vielleicht war etwas schief gegangen. Am hinteren Ende des Bahnhofsplatzes, neben den Resten des alten Bahnhofsgebäudes, war ein Zelt des Roten Kreuzes aufgebaut; dort wollte ich mich erkundigen, wann der Zug endlich einfahren würde.

Ab und zu sah ich eine Krankenschwester vorbeihuschen, und neben dem Eingang stand ein Mann, der rauchte. Meine Frage hatte er nicht beantwortet, er zuckte nur mit den Schultern und blickte missmutig drein. Dann dämpfte er den Zigarettenrest mit seinem groben Stiefel aus und schlurfte ins Zelt. Der wusste auch nicht mehr. Als ich mich zum Gehen umdrehte, brachte man gerade eine alte Frau auf einer Bahre; offensichtlich war die Aufregung für sie zu viel geworden.

Also ging ich enttäuscht zurück zur wartenden Menge. Manchmal sah ich bekannte Gesichter, grüßte flüchtig, nickte kurz mit dem Kopf und huschte schnell weiter. Mir war nicht nach Konversation.

Wo Papa wohl geblieben war?

Endlich sah ich ihn, weit hinten, angeregt mit einer älteren Frau sprechen, die ich nicht kannte. Der hat Nerven, wie konnte er nur so entspannt dastehen und reden? Schon wollte ich umdrehen und weiterlaufen, als er mich erblickte. Rasch verabschiedete er sich, seine weißen Haare lugten dicht unter der dicken Mütze hervor und mit raschen Schritten kam er auf mich zu. Vorwurfsvoll blickte er mich an.

Wo steckst du denn die ganze Zeit? Du wirst die Einfahrt des Zuges noch versäumen. Stell dir vor, Frau Müller hat mir gerade erzählt, dass sich der Mann von der Gruber Gerti erschossen hat. Ein Wahnsinn, sie wollte sich scheiden lassen, angeblich soll er seit seiner Rückkehr kaum gesprochen haben. Eine schreckliche Sache!

Mir wurde schlecht. Der hatte auch Stalingrad überlebt, man hatte mir von dieser Tragödie schon berichtet, doch das war jetzt das Letzte, was ich hören wollte.

Sei bitte still, wies ich ihn zurecht, ich bin schon aufgeregt genug. Beim Roten Kreuz wissen sie auch nichts, ich habe mich erkundigt, erzählte ich ihm dann, ich halte diese Anspannung fast nicht mehr aus. Das Herumlaufen hat mich ein wenig beruhigt.

Papa legte den Arm liebevoll um meine Schultern und drückte mich an sich. Für einen kurzen Augenblick entspannte sich mein Körper. Dann griff er in seine Umhängtasche und zauberte eine Thermosflasche hervor. Dankbar nahm ich den Becher mit Tee und bald spürte ich wohltuende Wärme im Bauch. Ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es half mir trotzdem.

Die Sonne stand schon tief und der Himmel strahlte in einem eisigen Blau. Die Krähen sammelten sich bei einer nahe gelegenen Baumreihe. Der Wind wirbelte die feinen Schneekörner unerbittlich über den Boden, hob sie hoch hinauf, von wo die zarten Flocken wieder herunter schwebten, dann begann der Tanz von neuem. Immer dichter standen die Menschen, um sich so wenigstens gegenseitig ein wenig Wärme zu spenden. Alle rückten immer näher zu einer schützenden Mauer, welche die Bomben verschont hatten. Die Gespräche verstummten allmählich, die ganze Szene wirkte unwirklich.

Was suchen so viele Menschen an einem späten Nachmittag Anfang Jänner, bei eiskaltem Wetter, neben einem fast zerstörten Bahnhof? Warum starren sie unbeweglich, dicht gedrängt, in dieselbe Richtung? Papa und ich mitten unter ihnen.

Auf einmal kam Bewegung in die Menge, ein Lastwagen fuhr vor und mehrere Männer sprangen von der Ladefläche. Zuerst luden sie einige Kisten aus, dann begannen sie eine Absperrung mit Seilen aufzubauen, sodass wir Wartenden nicht zu den Bahnsteigen durchkommen konnten. Alle blickten gebannt auf dieses Treiben, zuletzt wurde noch ein Lautsprecher angeschlossen. Nach erfolgreicher Sprechprobe kam ein älterer Mann aus dem Zelt des Roten Kreuzes, ergriff den Lautsprecher und wies uns an, die Heimkehrer in Ruhe aussteigen zu lassen. Jeder Mann musste sich anschließend registrieren lassen, erst dann durfte er mit seinen Angehörigen weiterziehen.

Aus der Ferne hörten wir plötzlich das Pfeifen einer Lokomotive. Blitzschnell drehten sich alle Köpfe in Richtung der Geleise, niemand achtete mehr auf die Worte des Sprechenden.

Mein Herz begann schneller zu schlagen, Freude und Angst mischten sich. Ich trat von einem Fuß auf den anderen, stellte mich auf die Zehenspitzen und mit einiger Mühe konnte ich den Bahnsteig sehen. Nun war ich doch nicht die Erste beim einfahrenden Zug, aber im Augenblick erschien mir diese Distanz wie ein Schutz vor dem, was mich erwartete. Dann, ganz weit hinten, sah man den Rauch der Lokomotive aufsteigen, kerzengerade und weiß. Bald hörte man das Schnaufen der Maschinen und das Rattern der Räder, endlich fuhr ein Zug mit mehreren Waggons ein und kam allmählich zum Stillstand.