image

LUTZ DAMMBECK

Besessen von Pop

Wenn rechts neben der Uhr

vor der Tagesschau ein

schwarzer Punkt ist, läuft

nachts um drei ein Pornofilm

image

image

Edition Nautilus

Inhalt

I     Kindheit

II    Studium

III   La Sarraz

IV   Leerstelle Herakles

V    Ausreise

VI   Herakles Höhle

VII  Zeit der Götter

VIII Nueva Germania

IX    Dürers Erben

X     Das Meisterspiel

XI    Das Netz

XII   Im Laufrad der Institutionen

Ausstellungsverzeichnis & Filmografie

Bildnachweise

Personenregister

I Kindheit

Langsam kam das Dröhnen und Rasseln näher. Ich kletterte auf die kleine Fußbank unter dem Wohnzimmerfenster und schaute auf die Adolf-Hitler-Straße, die nun schon seit acht Jahren Karl-Liebknecht-Straße hieß. In langen Kolonnen zogen russische Panzer in die Leipziger Innenstadt. Sie sollten dort den Aufruhr beenden, der am 17. Juni 1953 in Leipzig und anderen Städten der sowjetischen Besatzungszone aufgeflackert war. Auch mein Vater war mit einigen Jockeys von der Rennbahn am Leipziger Scheibenholz in die Innenstadt gelaufen, um sich das anzuschauen.

Mein Vater war Trainer für Rennpferde. Seit ich acht war, half ich in den Sommerferien im Stall aus. Ich führte die ruhigen Pferde zum Morgentraining, rieb sie danach mit Stroh trocken, fütterte sie und half bei der sommerlichen Heuernte. Mittags nahm mich mein Vater mit ins Café. Das lag im Barfußgäßchen in der Leipziger Innenstadt nahe dem Alten Rathaus. Dort trafen sich an den Wochentagen Jockeys, Trainer, Pferdebesitzer und Zocker, und ab und an gesellten sich auch hübsche und stark geschminkte junge Frauen dazu. Mir gefiel diese Mischung aus Sport, Zirkus und Geschäftemachen. Die Gespräche am Caféhaustisch drehten sich meist um den nächsten Renntag, um die Gewinnchancen für dieses oder jenes Pferd, aber oft auch um den verlorenen Krieg. Einer der Pferdebesitzer, Inhaber einer orthopädischen Werkstatt, wollte die Jockeyblusen seines kleinen Rennstalls in den Farben des Regiments gestalten lassen, in dem er bis zum Kriegsende als Leutnant gedient hatte. Ihm wurde von der Runde am Cafétisch abgeraten. Da gehst du ab nach Sibirien, hieß es, da verstehen die Russen keinen Spaß.

In den 1950er Jahren sorgten bald Gesetze und Verordnungen für das Verschwinden des sogenannten Mittelstands. Danach gab es kaum noch private Besitzer von Rennpferden. Stattdessen wurden »volkseigene« Rennställe gegründet, die Phantasienamen erhielten, was eine Vielfalt vortäuschen sollte, die nicht existierte. Auch das Pferderennen in der DDR war nun in einem einzigen volkseigenen Betrieb organisiert.

image

Einer der ehemaligen Pferdebesitzer, ein Bankbeamter, war mit einer Opernsängerin liiert. Die Sängerin war eine dramatische Erscheinung, die mich durch ihr üppiges schwarzes Haar und ihre riesigen angeklebten schwarzen Wimpern faszinierte. Sie schenkte meiner Mutter zwei Freikarten für eine Aufführung von Peer Gynt im Leipziger Schauspielhaus. Die weibliche Hauptrolle spielte eine der Leipziger Diven, Marilou Poolmann, die in einer Szene nackt unter einer Art Gazevorhang auftrat. Am nächsten Morgen betrachtete meine Mutter besorgt das Produkt meiner fiebrigen Jünglingsphantasien, das ich nächtens mit Hilfe des Schulmalkastens angefertigt hatte, und meldete mich in einem privaten Zeichenzirkel an.

Der wurde geleitet von einer ehemaligen Bauhausschülerin, Frau Gödel-Schütze, und fand in deren geräumiger Altbauwohnung statt. Dort trafen sich einmal in der Woche Kunstinteressierte verschiedenster Altersgruppen und Milieus, die zeichneten und aquarellierten. Frau Gödel-Schütze, die Käthe Kollwitz frappierend ähnlich sah, gab Korrekturen, wobei sie jedes Mal ihren mächtigen Busen an mich drückte. Ich war der Jüngste. In den Arbeitspausen wurden Schallplatten aufgelegt und über die Musik diskutiert. Meist war das Jazz, aber auch moderne Musik etwa von Olivier Messiaen. In den hohen, alle Wände des Malzimmers bedeckenden und bis unter die Zimmerdecke reichenden Regalen standen Kunstbände und Bücher von Böll und Grass, die man sich auch ausleihen durfte. Die mit Kunstwerken und Wohnutensilien zugemüllte und dunkel verhangene Wohnung war eine Klause, die mich eine erste Ahnung vom Geist der Kunst lehrte.

Während der Schulferien fuhr ich mit meiner Oma in ihr Heimatdorf in Oberfranken, das direkt hinter der Zonengrenze lag. Einer ihrer Cousins leitete dort eine Edeka-Filiale. Ich bekam während der vier Ferienwochen ein eigenes Zimmer. Das war ein kleiner Verschlag hinter einem Vorhang zum Laden, in dem ein altes Sofa stand und zahlreiche Lebensmittelkisten abgestellt waren. Allerdings war darunter auch ein kleiner Schatz: eine Rama-Kiste mit zerlesenen Westernheften, die ich bis tief in die Nacht im Schein meiner Taschenlampe schmökerte. Mit den Dorfkindern ging ich oft zu dem immer frisch geharkten Sandstreifen vor dem Stacheldrahtzaun, wo wir auf die Jeeps mit den amerikanischen Soldaten warteten, die uns Schokolade und Kaugummis schenkten. Im kleinen Gasthof des Ortes stand einer der wenigen Fernseher, dort sahen wir uns 1960 die Übertragungen von den Olympischen Spielen in Rom an.

Fuhr ich mit meinen Eltern an die DDR-Ostsee, machten wir in Westberlin Station und wohnten beim Bruder meines Vaters im Hansaviertel. Meine Mutter traf sich dann manchmal in einem der großen Hotels am Kudamm mit der Witwe ihres ehemaligen Arbeitgebers in Leipzig, dem Musikverleger Wilhelm Zimmermann. Während mir vom Zimmerkellner ein riesiges Wiener Schnitzel serviert wurde, tauschten die beiden Frauen Erinnerungen aus. Wilhelm Zimmermann galt nach den Nürnberger Rassegesetzen als Vierteljude. 1934 wurde er in die Reichsmusikkammer aufgenommen, aber später als »Nicht-Arier« wieder ausgeschlossen und stand dann im »Juden ABC der Musik«. Dass und wie er eine Arisierung wieder rückgängig machen und den Verlagsbetrieb bis Kriegsende in Leipzig am Laufen halten konnte, war oft Gegenstand von Gesprächen und Vermutungen bei Familientreffen gewesen. 1954, nach dem Tod des Verlegers, wurde der Verlag dann von Leipzig nach Frankfurt am Main verlagert.

Das Verhalten der Erwachsenen gegenüber dem Westen war für mich als Kind rätselhaft. Im neuerbauten Leipziger Zentralstadion, das hunderttausend Zuschauer fasste und in dem später die Massenübungen der Turn- und Sportfeste abgehalten wurden, spielte 1956 eine ostdeutsche Mannschaft gegen den 1. FC Kaiserslautern. Fast alle im Stadion unterstützten lautstark die Gäste aus dem Westen. Als Fritz Walter, einer der Helden von Bern, mit einem Fallrückzieher die Lauterer zum Sieg schoss, tobte das Stadion. Ich verstand das nicht. Das waren doch nicht Unsere, das waren doch Fremde! Aber die sind aus dem Westen, wurde ich von meinem Vater belehrt. Scheißkommunisten. Fast jeden Sonntag hörte sich die Familie gemeinsam nach dem Mittagessen eine Radiosendung im Rias an. Meist waren es Reden und Ansprachen von Politikern, die den Landsleuten im Osten versprachen, dass sich bald für sie etwas ändern würde. Reden, reden, immer nur reden, tut endlich was, schimpfte mein Vater. Es war das einzige Mal, dass ich ihn weinen sah. Schweigend löste sich die Familienrunde auf.

Es dauerte lange, bis wir einen eigenen Fernseher besaßen. Meist ging ich zu einem Schulfreund, um dort Westfernsehen zu gucken. Dieser Fernsehapparat wurde nun fast jeden Nachmittag zum regelmäßigen Treffpunkt nach der Schule, um Fury, Lassie, Texas Rangers, Wyatt Earp anzuschauen, abends war dann Richard Kimble auf der Flucht. An den Wochenenden waren wir oft bei einer ehemaligen Schulfreundin meiner Mutter eingeladen, um den neuen Durbridge oder Kulenkampff zu sehen. Als wir dann ein eigenes Gerät hatten, sahen wir im Familienkreis Familie Hesselbach, die Aktuelle Schaubude oder den Blauen Bock mit Heinz Schenk. Niemand aus meiner Klasse schaute sich die Sendungen im Ostfernsehen an, ausgenommen die Tochter eines Volkspolizisten, die deshalb von allen bemitleidet wurde.

Irgendwann in den 1950er Jahren begannen meine Eltern, zwei Zimmer unserer Wohnung an Messegäste zu vermieten. Die kamen aus dem Rheinland, eine Familie aus Gummersbach, Herr und Frau Schumacher, zwei Söhne, zwei Vertreter und ein Chauffeur. Die wohnten dann zum Teil in unserer Wohnung und auch bei anderen Familien im Haus, was meine Mutter organisierte. Zunächst handelte Herr Schumacher mit Stahldraht. Als die Firma in Insolvenz ging, vertrat er Canada Dry, und in unserer Wohnung stapelten sich unzählige Limonadenkisten. Dann handelte er wieder eine Zeit lang mit Schrauben, die er in der DDR und ČSSR produzieren ließ und dann im Westen verkaufte.

Die Firma Schumacher brachte alles, was für einen Messestand und dessen Betrieb nötig war, in großen Holzkisten mit, einschließlich einiger Fässer Kölsch. Die riesigen Kisten standen zunächst in unserer Wohnung, ehe sie zum Messegelände transportiert wurden. Zum Ritual, das zweimal im Jahr stattfand, gehörte, dass ich am Ankunftstag mit dem aus Weidenruten geflochtenen Wäschekorb meiner Mutter ins Wohnzimmer ging, wo Herr Schumacher in einem Sessel neben einer der geöffneten Kisten saß.

Ich hielt den Korb hin, und er griff in die Kiste und warf in schneller Folge Sardinenbüchsen, Schokolade, Zigaretten, Flaschen mit Wein, Whiskey und Campari, Dosen mit Würstchen und Gulaschsuppe, Kaffeebüchsen, Filtertüten und vieles mehr, was es im Osten nicht gab, hinein. Alles war bunt und roch gut.

Zur Frühjahrsmesse schauten sich Schumachers und meine Eltern gemeinsam die Übertragungen des Kölner Karnevals im Fernsehen an. Dazu trug man Hütchen, dekorierte mit Luftschlangen und tanzte Polonaise.

Zur Messe fuhren Schumachers mit einem großen Daimler, den ein Chauffeur in grauer Livree mit Schirmmütze lenkte. Die tägliche Abfahrt zum Messegelände war für die Nachbarschaft ein Ereignis. Der Chauffeur hielt den Fond des Wagens auf, und Schumachers stiegen ein. Stand der Wagen vor dem Haus, wurde von Passanten oft heimlich mit der Hand auf die Kotflügel des großen Daimlers gedrückt, und das leichte Nachgeben der Federung mit einem kennerischen Lächeln quittiert, das der DDR den Todesschein ausstellte. Das war der Westen! Wahnsinn.

image

Wann gehen wir in den Westen, war eine in vielen Familien diskutierte Frage. Bei uns schien es 1961 so weit zu sein. Meine Mutter hatte schon begonnen, mit der Post erste Pakete mit Bettwäsche und Kleidung nach Frankfurt am Main zu schicken. Mein Vater war zufrieden von einer Erkundungsreise aus Frankfurt zurückgekehrt. Er hatte Zusagen von mehreren Geschäftsleuten, deren Pferde er dort trainieren sollte. Dann wurde meine Großmutter krank.

Als ich mich am Morgen des 13. August 1961 in der Umkleidekabine des Tennisvereins von LVB Leipzig – der Verein wurde von den Leipziger Verkehrsbetrieben finanziert, weshalb viele Straßenbahnfahrer und -schaffner Mitglieder waren – für ein Punktspiel der Jugendmannschaft umzog, riss einer der Spieler die Tür auf und rief in die Kabine: »Berlin ist zu!« Die Punktspiele fielen an diesem Tag aus. Alle Spieler saßen noch eine Weile zusammen, die Älteren rauchten und tranken ein Bier, ehe sie sich wieder auf ihre Fahrräder schwangen. »Das war’s dann«, rief einer beim Wegfahren. Am Abend waren die Wäschepakete aus unserem Flur verschwunden.

Am Ende der acht Jahre Grundschule stand die Frage, ob ich auf die Erweiterte Oberschule gehen würde, um das Abitur zu machen. Zunächst wurde ich abgelehnt, da mein Vater als Selbstständiger und damit als Kapitalist galt und die vorgegebene Quote von Arbeiterkindern, die auf die weiterführende Schule delegiert werden sollten, an meiner Schule noch nicht erreicht war. Erst die Intervention der Mutter einer Klassenkameradin, die über den nötigen Einfluss verfügte, brachte mir die Zulassung zum Abitur.

Ich war wie meine Mitschüler Proband eines Schulexperiments, das in einer Kombination von Abitur und Lehre bestand, die wir mit einer Facharbeiterprüfung abschlossen. Ich musste also auch einen Lehrberuf auswählen. Dafür gab es eine Liste mit etwa vierzig Berufsbezeichnungen. Meine erste Wahl war Landschaftsgestalter. Aber dort waren schon alle Plätze vergeben. Freie Plätze dagegen gab es bei den Köchen, Kellnern und Schriftsetzern. Also wurde ich Schriftsetzer. Drei Wochen gingen wir zur Schule, und eine Woche in den Betrieb und in die Berufsschule, wo wir in den Grundlagen des grafischen Gewerbes unterrichtet wurden.

Die Tage im Betrieb unter den Arbeitern, der »herrschenden Klasse«, brachten jedes Mal das mühsam im Unterricht in der Schule errichtete Phantasiegebäude »realer Sozialismus« zum Einsturz. Die Mitglieder der herrschenden Klasse schimpften auf den Staat und schienen damit nichts am Hut zu haben. Breite Zustimmung bei den Setzern fand lediglich der Fußballklub BSG Chemie Leipzig. Der Fußball in der DDR war neu organisiert worden, und alle guten Spieler wurden in neu gegründeten Sportklubs konzentriert. Die ausrangierten Spieler wurden Betriebssportgemeinschaften zugeteilt und galten als zweite Wahl. Einer dieser Klubs war Chemie Leipzig. Das Stadion lag in Leutzsch, einem alten Arbeiterviertel. Gleich im ersten Jahr wurden die Chemiker, die mangels technischer Fähigkeiten ein robustes und kampfstarkes kick and rush spielten, DDR-Meister. Den Leutzschern, die in den alten sächsischen Landesfarben grün und weiß spielten, gehörten die Herzen der Leipziger Massen. Das verlieh den Siegen gegen die von der Partei aufgepäppelten Spitzenklubs, allen voran der verhasste Stasiklub Dynamo Berlin, eine besondere Würze. Das waren Volksfeste, wo sich in das begeisterte Gebrüll der vieltausendköpfigen Menge auch ein Hauch von politischer Opposition mischte.

Bei den Setzerinnen und Auslegerinnen an den Druckmaschinen war es dagegen Rex Gildo, der viele Fans hatte. Sexy Rexy. Den Alltag im Betrieb bestimmten Materialmangel, Schlamperei und von Ideologie geleitete Planvorgaben. Staunend vernahmen wir Schüler den scharfen Spott der Arbeiter über »ihren« Staat. Diese Beobachtungen machten mich und die anderen Lehrlinge bald immun gegen die Rotlichtbestrahlung im Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde. Und ich lernte: Es gab zwei Wirklichkeiten, und man konnte in dieser oder jener DDR leben.

Mir gefielen der proletarische Witz und das Standesbewusstsein der Setzer und Drucker, das sich aus alten Traditionen speiste. Aber auch die Arbeit mit den Bleilettern, das Zusammenbinden der Satzblöcke mit einer Schnur, das Herstellen der Probedrucke und der Geruch von Terpentin und Druckfarbe. Ich zeichnete gern, wollte aber künftig gern was mit Schrift machen. Also bewarb ich mich an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, der HGB, für die Fachrichtung Buchgestaltung.

Ich war naiv und ahnungslos zur Aufnahmeprüfung gepilgert, ohne zu wissen, was mich dort erwartete. Andere Mitbewerber schienen dagegen genau zu wissen, worauf es ankam. Einige trugen Baskenmütze und warfen mit Fachausdrücken und Referenzen um sich, und eine junge Frau zog mit langer Zigarettenspitze und Federboa die Aufmerksamkeit auf sich. Ein anderer zog überlegen lächelnd schon zu Hause vorgefertigte Einzelteile für Collagen und mitgebrachte Gerätschaften, um diese zu bearbeiten, aus einem kleinen Musterkoffer, mit denen er in Windeseile die Prüfungsaufgaben erledigte und nun Zeit hatte, durch den Atelierraum zu spazieren, um anderen Mitbewerbern Korrekturen und gute Ratschläge zu geben. Es war ein bisschen wie im Zirkus, und mir gefiel das. Nach Abschluss der mehrtägigen Aufnahmeprüfung gehörten wir beide zu der kleinen Schar derer, die angenommen wurden.

II Studium

Nach dem Abitur und der Facharbeiterprüfung, zu der auch das für Schriftsetzer traditionelle Gautschfest und die Überreichung des Gautschbriefs gehörten, begann ich 1967 mein Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, zunächst in der Buchgestaltung. Dort lehrten Schrift- und Buchkünstler wie Egon Pruggmayer, der die Reihe Diederichs gestaltet hatte, oder Walter Schiller. Der Schweizer Jan Tschichold besuchte die Hochschule und gab Seminare.

Am Anfang eines jeden Semesters fuhren alle Studenten mit ein paar Dozenten zum Ernteeinsatz nach Mecklenburg. Dort wohnten wir in einer Scheune und halfen den Bauern bei der Kartoffelernte. Nach der Arbeit wurde gezeichnet. Die Studenten der Tübkeklasse verblüfften uns Studienanfänger durch ihre minutiös dem Meister nachgeahmten Naturstudien in der Manier der Altdeutschen. Sich vor dem Ernteeinsatz zu drücken, wurde oft versucht, hatte aber meistens keinen Erfolg. Das gelang nur einem Studenten, der auf die Frage des Rektors nach jemandem mit handwerklichen Fähigkeiten, der bei der Renovierung der Hochschule während des Ernteeinsatzes helfen sollte, sich meldete und auf die Frage: »Wer sind Sie?« antwortete: »Bin nichts, kann alles!« Das wurde honoriert und imponierte mir. Das war lässig, das hatte Stil und schien die Akademie von den anderen drögen Kaderschmieden zu unterscheiden, die die Universitäten in der DDR im Allgemeinen waren.

Das Studium selbst war locker organisiert. Nach einem strengen und handwerklich soliden Grundlagenstudium suchte man sich eine der Fachklassen. Ich wechselte in die Klasse von Heinz Wagner, in die sogenannte Plakatklasse. Wagner hatte in Weimar Malerei studiert und dort zu einer Gruppe »roter Maler« gehört. Mit einem Bild über die Novemberrevolution hatte er Furore gemacht und war an die Leipziger Hochschule berufen worden. Dann hatte er Walter Ulbricht gemalt, zu dessen Zufriedenheit, wie es hieß. Wagner galt als Filou, der die Tributspflicht an Partei und Ideologie mit einem Augenzwinkern entrichtete. In seine Klasse wechselten die Studenten, die aus den verschiedensten Gründen nicht in die Klassen von Tübke, Heisig oder Mattheuer wollten oder durften, weil sie denen nicht gut genug zeichnen konnten, aber auch diejenigen, die insgeheim Freiräume für einen offeneren Kunstbegriff suchten, als es der an der Leipziger Hochschule verordnete Kanon zuließ.

Heinz Wagner und sein dekorativ ausgestelltes savoir vivre war das komplette Gegenteil zu den immer frisch gespitzten Bleistiften im weißen Kittel von Werner Tübke und dem grimmigen deutschen Ernst von Bernhard Heisig. Heinz kam einmal im Monat in die Klasse, setzte sich zu uns und hörte zehn Minuten zerstreut und höflich interessiert lächelnd unseren wirren Gesprächen zu und legte fünfzig Mark auf den Tisch. Dann klopfte er dem Nächstsitzenden auf die Schulter und sagte: Ihr macht das schon. Dann ging er wieder und widmete sich seinen Passionen. Das waren schöne Frauen und das Kochen. In seinem Hochschulatelier, in dem effektvoll grundierte, aber ansonsten bis zu seiner Emeritierung unbearbeitete Leinwände an den Wänden hingen, hatte er sich ein kleines Kochstudio eingerichtet, wo er blonde Friseusen und andere Damen der Leipziger Gesellschaft empfing.

Ein erster tiefer Einschnitt im Verhältnis zum Staat waren die Ereignisse 1968 in Prag. Ich war mit drei anderen Kommilitonen mit dem Zug nach Bulgarien gefahren. Bulgarische Mitstudenten hatten uns eingeladen. Zur gleichen Zeit fanden in Sofia die Weltjugendspiele statt. Schon in Prag und Budapest waren viele französische, italienische und englische Festivalbesucher zugestiegen, die ebenfalls nach Sofia fuhren. Man diskutierte in schlechtem Englisch über den Eurokommunismus und die Kafka-Konferenz 1963, mit der der Prager Frühling eingeleitet worden war. Alle hofften, dass die Entwicklung in der ČSSR etwas in Bewegung bringen würde. Sogar die ansonsten mit unbeweglicher Mimik und fatalistischem Gleichmut ihren Dienst verrichtenden Dozenten im Grundlagenstudium der Hochschule hatten uns Studenten gegenüber zaghafte Andeutungen von Optimismus gemacht. Es schien etwas in Bewegung zu kommen.

In Sofia trafen nun westdeutsche Maoisten, französische Eurokommunisten und amerikanische Hippies auf fassungslose Bulgaren. Wir waren Beobachter. Vor der chinesischen Botschaft reihten wir uns in die lange Warteschlange ein, wo uns dann im Innern ein kleiner, dicker und uniformierter Chinese mehrere Maofibeln und Propagandabroschüren überreichte, die wir uns beim Hinausgehen unter die Kleidung stopften. Draußen galoppierten unterdessen die Aktivisten vom SDS untergehakt mit Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufen durch die Sofioter Straßen. An den Abenden gingen wir zu den Rockkonzerten tschechischer, ungarischer und englischer Bands.

Von Sofia reisten wir weiter ins Rilagebirge und von dort ans Schwarze Meer. Dort war das geplante Ende der Reise. Beim Übernachten am Strand wurden zwei Mitgliedern unserer kleinen Gruppe Geld und Ausweise gestohlen, so dass sie noch länger bleiben mussten, um sich neue Papiere ausstellen zu lassen. So fuhren wir zu zweit über Prag zurück, wo wir in den Zug nach Dresden umsteigen wollten. Am 21. August 1968 fuhr unser Zug pünktlich kurz nach 5:00 früh in den Prager Hauptbahnhof ein. Wir hatten eine Stunde Aufenthalt und beschlossen, noch einen kurzen Stadtspaziergang zu machen. In der Bahnhofshalle scharten sich Menschengruppen eng gedrängt um Kofferradios. Sowjetische Truppen besetzten Prag. Wir hatten im letzten Zug gesessen, den die Russen in den Bahnhof einfahren ließen. Alle später ankommenden Züge wurden umgeleitet. Wir schlossen uns einer Gruppe von Westdeutschen und Österreichern an, die ebenfalls in Prag festsaßen und mit denen wir nun durch die Stadt irrten. Am brennenden Gebäude des Prager Rundfunks fuhr ein russischer Panzer auf uns zu, stoppte abrupt und schoss in die Luft über der das Gebäude einschließenden Menge.

Wir warfen uns zu Boden, irgendwo klirrte Glas, jemand schrie. Den zahllosen Schweigemärschen über den Wenzelsplatz wurden blutgetränkte Fahnen vorangetragen. Die vorwiegend usbekischen und tadschikischen Sowjetsoldaten saßen in ihren Jeeps inmitten der erregten Menge und weinten vor Ratlosigkeit und Angst. Man hatte ihnen gesagt, sie würden eine Konterrevolution niederschlagen. Nun waren sie von alten Mütterchen und jungen Studenten umringt, die mit ihnen auf Russisch über Demokratie und einen offenen Sozialismus diskutieren wollten. Vier Tage blieben wir in der Stadt, bis uns das Geld ausging. Dann wurden wir auf einem von der DDR-Botschaft gecharterten offenen LKW mit anderen in Prag vom Einmarsch überraschten DDR-Bürgern zur Grenze nach Schmilka gefahren.

Zum Semesterbeginn 1968 fand an der Hochschule eine Vollversammlung zu den Prager Ereignissen in der Aula statt. Die Stimmung war gedrückt. Zunächst wurde vom Parteisekretär der Hochschule eine Einschätzung gegeben: Der Einmarsch war erfolgreich, die Konterrevolution wurde niedergeschlagen. Niemandem wird es gelingen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Nun muss unsere Kunst noch besser werden, um den Sozialismus noch atttraktiver zu machen. Eisiges Schweigen im Versammlungssaal. Die Dozenten und Professoren der Hochschule saßen mit strengen Mienen links und rechts vom Parteisekretär, einem ehemaligen Offizier der Volksarmee. Auf die Frage vom Podium hinab in den Saal, ob jemand in Prag war und aus eigenem Erleben etwas dazu sagen könne, reichte mein Mut nur zum Heben des Fingers. Ja, bitte, erzählen Sie doch mal. Als ich aufstand, brachte ich nur ein unverständliches Gestammel hervor. Mit rotem Kopf setzte ich mich wieder. Ich schämte mich wegen meiner Feigheit und Sprachlosigkeit, statt offen heraus zu sagen, was ich in Prag gesehen und gefühlt hatte.

Ich war mit einem Packen Flugblätter zurückgekommen. Die wollte ich den Kommilitonen zeigen. Bei der Fahrt in die Hochschule spürte ich, dass mich jemand verfolgte. Meine Mutter auf dem Fahrrad. Sie versuchte, mir den Packen mit den Flugblättern zu entreißen. Bist du verrückt, willst du von der Hochschule fliegen? Mir war das peinlich. Meine Mutter wollte meinen revolutionären Elan unterbinden. Ich schrie sie an: du mit deiner ewigen Scheißangst, erst bei den Nazis und nun hier! Bei dem Gerangel fiel der Beutel mit den Flugblättern und Plakaten auf die Erde. Mir war der Spaß vergangen. Sollte sie doch machen. Zu Hause verbrannte meine Mutter das Material in einem der großen Kachelöfen.

Das, was wesentlich war, spielte sich für mich und meine Kommilitonen außerhalb der Hochschule ab.

Zum einen bei den Konzerten von Bands wie der Renft-Combo in entlegenen Dorfgasthöfen und in alten verwitterten Tanzsälen fernab der größeren Städte. Es waren noch nicht die Jahre, als diese Bands begannen, deutsche Texte mit nervtötender Metaphorik und schlechter Poesie zu verfertigen, sondern einfach Coverversionen aktueller Songs spielten, von den Stones, Cream, Jefferson Airplane, Mothers of Invention oder King Crimson. Dafür saßen musikverrückte Fans nächtelang an den Radios und kopierten die neuesten Songs auf Tonbänder, andere notierten nach Gehör die Noten und die Texte und fertigten Notenauszüge an. Tags darauf fingen die Bands an zu proben und am Wochenende wurden die Songs im Saal gespielt. Dort traf sich eine Szene aus Musikfans, Groupies und Aussteigern, die mit den Bands von Spielort zu Spielort zog.

image

Einer der Spielorte war der »Grafikkeller«, wie er in der Szene hieß, für uns war es »Der Klub«. Der Studentenrat hatte – ich glaube, es war 1970 – die Erlaubnis des Rektors erhalten, im Keller der Hochschule einen ungenutzten Raum als »Klub« auszubauen. Die Programmgestaltung und die grafische Gestaltung der Mitgliedskarten und Ankündigungen wurden mir und einigen Studenten meiner Klasse übertragen. Bald war der Grafikkeller ein Geheimtip. Hier spielten Bands, die ansonsten in der Stadt Auftrittsverbot hatten, hier gab es Lesungen, endlose Sessions mit Jazzern, Barbetrieb und Tanz. Beim alljährlichen Hochschulfasching weitete sich der Klub in die gesamte Hochschule aus. Selbst die entlegensten Winkel der Heizungskeller wurden gesäubert, gestrichen, dekoriert, um dort Bars und Spielorte für Bands und Tanzflächen einzurichten. In der mit Malereien und Zeichnungen auf Packpapier bis unter das Dach ausgeschmückten und abgedunkelten Hochschule wogte dann während dieser drei Tage eine zuckende, schwitzende und in heimlichen Verstecken zu später Stunde offen kopulierende und miteinander verfitzte Masse. Der Zugang zu dieser orgiastischen Messe war begehrt. Einmal musste die Hochschule gegen eine Gruppe von zwanzig Afrikanern verteidigt werden, die sich von einer nahen Baustelle einen Telegrafenmast geholt hatten und nun versuchten, mit diesem die große hölzerne Eingangstür zu rammen, gegen die sich von innen Studenten und die von der Leipziger Sporthochschule engagierten Ordner stemmten.

Ein Mitstudent verwaltete die Kasse des Klubs. Nach einem Konzert mit bekannten Bands wie Renft waren da ein paar Tausend Mark drin. Damit zogen wir dann nachts noch ins Ringcafé, wo es eine Bar gab, die bis frühmorgens geöffnet war. Die eiserne Kasse stand dann unter einem der plüschigen Sofas zwischen die Beine des Klubchefs geklemmt, und bei Bedarf holte dieser Scheine hervor. An dieser Bar sammelte sich nach zwei Uhr nachts der Bodensatz der Stadt und wurde von der tief dekolletierten und resoluten Barfrau Ilse im Zaum gehalten. Einmal sang im leeren großen Tanzsaal des Cafés der italienische Schlagerstar Peppino di Capri für uns, der in der Bar des in der Nähe gelegenen Interhotels gastierte und im Ringcafé seinen Absacker nahm, für uns sein L’ultimo romantico und andere Italoschnulzen, währenddessen wir uns bei Sekt, Schnaps und Wein die Köpfe über Konzeptkunst und den entgrenzten Kunstbegriff heißredeten.

Diese Barbesuche, Rockmusik und die Abende und Nächte im Umfeld der Bands waren zwar wichtig, aber dort waren ich und die anderen Studenten im Grunde genommen Fremdkörper in der Masse der Lehrlinge, jungen Arbeiter und Angestellten. Wir waren »die Grafiker«. Man war zwar stolz, dass wir da waren, aber es war klar, dass wir eigentlich nicht dazugehörten.

Wichtiger für meine spätere künstlerische Entwicklung war ein anderer Ort in Leipzig, das Kino Casino. Es lag in unmittelbarer Nähe der Universitätsmensa, die abends bis 22 Uhr geöffnet war. Dort bediente Erich, ein Faktotum, das angeblich in einem Stummfilm an der Seite Greta Garbos aufgetreten war. Ein beliebtes Gericht auf der umfangreichen Speisekarte war die 29, Reis mit Gulasch für 1,20. Ein Bier kostete 40 Pfennige.

Meist gingen wir direkt von der Hochschule zum Abendessen in die Mensa, dann in die Vorstellung um 19 Uhr, dann wieder zurück in die Mensa, um ein paar Bier zu trinken und den gerade gesehenen Film zu diskutieren, und dann in die Spätvorstellung um 21 Uhr.

Das Casino war Ende der 1950er Jahre als ein Filmkunsttheater gegründet worden, wo die sogenannten schwierigen Filme gezeigt wurden, die der Bezirksfilmdirektion, der dieses wie alle anderen Leipziger Kinos gehörte, an der Kinokasse keine Umsätze brachten. Ab 1963 durfte dann der studentische Filmklub der Universität Leipzig, der zunächst den Filmsaal des Grassi-Museums als Spielort genutzt hatte, im Casino eine eigene Programmschiene bespielen. Schon ein Jahr früher, 1962, hatte das Staatliche Filmarchiv der DDR in Berlin ein Kino als Spielstätte eingerichtet, wo Filme des Archivs öffentlich vorgeführt wurden. Das ganze nannte sich »Camera-Programm« und sollte auch eine Reminiszenz an die proletarische »Volksfilmbewegung« in den 1920er und 1930er Jahren sein. Als eine zusätzliche Spielstätte außerhalb Berlins gesucht wurde, fiel 1968 die Wahl auf Leipzig und hier auf das Casino. Fred Gehler, ein junger Absolvent der Leipziger Universität und Mitglied des Leipziger Filmklubs, erhielt einen Vertrag als künstlerischer Mitarbeiter, um das Programm mitzugestalten und vor den Vorführungen eine Einführung zu geben.

Gehler war nach Abschluss seines Studiums an der journalistischen Fakultät zunächst dort Assistent gewesen und schrieb auch Filmkritiken. Die missfielen einigen Parteifunktionären, so geriet er in deren Schusslinie, und nach der Veröffentlichung eines offenen und nur mit »M« gezeichneten Briefs in der Kulturzeitschrift Sonntag mit der Überschrift »Cui bono, Fred Gehler?« wurde er zum Abschuss freigegeben und von der Universität entlassen.

Im Casino gab es nun zwei Programmsäulen. Zum einen das Camera-Programm, das aus Filmen wie Metropolis, Die Nibelungen, Ein andalusischer Hund, aber auch King Kong, Frankenstein, UFA-Filmen und klassischem Genrekino bestand, zum anderen Filme, die der Filmklub zeigte, die zum Teil durch Verbindungen und Kooperationen mit den ungarischen, polnischen oder tschechischen Kulturinstituten beschafft wurden.

Das staatliche Filmarchiv war Partner zahlreicher internationaler Filmarchive, und so konnten Länder- oder Themenprogramme gezeigt werden, in denen auch Filme von Antonioni, Kurosawa, Bergman, dem New British Cinema, aber auch von Fassbinder und Werner Herzog enthalten waren. Die Filme liefen in der Originalsprache, und die deutsche Übersetzung wurde live, und nicht immer synchron, in den Film hineingesprochen. Das Programm war von einer erstaunlichen Vielfalt und Breite. Waren die Filme einmal von den staatlichen Zensoren abgenommen, konnten sie immer wieder ins Programm genommen werden. »Zeig ihn aber nicht so oft!«, mahnten dann die Chefs des Staatlichen Filmarchivs Fred Gehler sanft oder ließen es bei einem »Muss das denn jetzt schon wieder sein?« bewenden, wenn es um die »Westfilme« ging.

Fred Gehler, der vor den Vorführungen eine Einführung gab, in der er den jeweiligen Film in seine Zusammenhänge stellte oder auf stilistische Besonderheiten aufmerksam machte, war für uns eine Instanz. Meist in Schwarz gekleidet, mit einer schwarzen Brille mit abgedunkelten Gläsern und einer existenzialistischen Frisur, war »die Eule«, wie Gehler von uns ironisch und respektvoll genannt wurde, der Zeremonienmeister dieser filmischen Seancen und Messen, in die wir mehrmals in der Woche strömten.

Nimmt man noch die Komplettierung des Angebots durch Filme wie Godards Weekend, Nortons Cisco Pike oder The Killing of a Chinese Bookie von Cassavetes dazu, die in den Dritten Programmen der ARD gezeigt wurden, war eigentlich alles greifbar und vorhanden, um auf dem Laufenden zu sein. Nur die Transformation und Einspeisung in die tägliche künstlerische Praxis funktionierte nicht. Zum einen fehlte die soziale Wirklichkeit, an der sich diese Kunst entzündet hatte. Zum anderen waren die Spielräume unglaublich eng, in denen ernsthaft eine Synthese von Kältestrom West, das waren für mich Godard oder Kluge, und Wärmestrom Ost, das waren Tarkowski, Zanussi oder Lenica, versucht werden konnte. Für mich war es ein unglaublich langer und mühsamer Prozess, bis ich überhaupt den Mut hatte, nach diesen Räumen zu suchen.

Als ich 1967 mit dem Studium begann, gab es in Leipzig eine kleine Kolonie von Bohemiens, die sich in halbverfallenen Gehöften an einer Ausfallstraße in Richtung des Messegeländes Ateliers eingerichtet hatten. Das war eine bunte Mischung aus Autodidakten, Dilettanten und Asozialen, die in den baufälligen Gebäuden malten, dabei Baskenmützen trugen, Gitarre spielten und Rotwein tranken. Oft gab es Feiern und Feste, bei denen Lesungen befreundeter Poeten stattfanden. Das Nichtamtliche und Ruinöse im besten Sinne faszinierte uns. Der Kontakt kam durch einen Mitstudenten zustande, der einen der Maler in der Kolonie kannte. Der Mitstudent war »Weimaraner«, wie er sagte, worunter sich niemand von uns etwas vorstellen konnte. Er hatte Gärtner gelernt und war Mitglied der anthroposophischen Gemeinde in Leipzig, in die er uns bald einführte. Der Vorsitzende dieser Gemeinde war Pfarrer Palmer, er wohnte in einer der alten Bürgervillen am Stadtpark, wo er auch Vorträge zur Anthroposophie Rudolf Steiners hielt. Wenn wir zu diesen Seancen gingen, schlichen wir leise und auf Zehenspitzen an der Wohnungstür von Wolfgang Mattheuer vorbei, der unter Palmer wohnte, um von ihm nicht gesehen zu werden. Denn Mattheuer hasste Palmer und sein »mystisches Gequatsche«, wie er es nannte. Unser Weimaraner war aber auch mit Alfred Kurella verwandt. Alfred Kurella war der ehemalige Kunstpapst in der DDR unter Walter Ulbricht gewesen, und diese nun im Geist des Surrealismus und Automatismus in der Leipziger Südvorstadt vor sich hin werkelnde Künstlergruppe war das pure Gegenbild zu Alfred Kurellas Traum vom sozialistischen Künstlerkollektiv, den ihm Jahre zuvor Heinrich Witz, Bernhard Heisig und Werner Tübke zu erfüllen versucht hatten.

Dieses nichtoffizielle Biotop war in jeder Hinsicht das Gegenteil zur Leipziger Schule und deren schneidender Schärfe des Zeichenstifts und der Linie, der hochartistischen Koloristik und erzählerischen Malweise, die nach 1945 an der Leipziger Hochschule herangezüchtet wurde. Leipzig hatte keine wesentlichen Traditionen auf dem Gebiet der Malerei. Hier, in der Buchstadt, war es immer um das Zeichnen für Bücher, um das Illustrieren von Geschichten und um Linien gegangen, die dann mit Farbe gefüllt und »ausgemalt« wurden. Malerei im Sinne des Vom-Fleck-Ausgehens, aus der Farbe ein Bild und einen Bildraum aufzubauen und wachsen zu lassen, war in Leipzig nie recht heimisch geworden. Das war immer Dresden gewesen, die aus Leipziger Perspektive belächelte Dresdner Farbschmiererei. Worauf es dann aus Dresden, dem Tal der Ahnungslosen, fröhlich zurücktönte: »Die Leipziger malen mit zusammengekniffenem Arsch.« Dresden war Residenzstadt, Leipzig sah sich gern als kühl, intellektuell, ironisch und kritisch distanziert und pochte auf seinen Status als internationale Messe- und Kaufmannsstadt.

image

Alles hätte so schön sein können, wenn es nicht die herrschende Partei und ihre Ideologen gegeben hätte, die diesen kühlen, intellektuell-erzählerischen Malstil als besonders prädestiniert für ein Geschichtenerzählen im Sinne der Partei gesehen hätte. Das war der Auftrag an die jungen Leipziger Malergenossen wie Werner Tübke, Heinrich Witz, Bernhard Heisig oder Wolfgang Mattheuer, mit dem diese sich abzumühen hatten. Obwohl verschiedene Tricks der Verweigerung und des sich Entziehens versucht wurden, blieb der Makel der Einlassung. Die daraus resultierenden Verrenkungen und die damit verbundene politische Inszenierung der »Leipziger Schule« registrierten wir als Studenten aufmerksam. Nur nicht so werden wie die, denen die täglichen Zerreißproben und Unterwerfungsgesten ins Gesicht und auch in die Bilder eingeschrieben standen, dachten wir mit der gnadenlosen Selbstgerechtigkeit der Anfänger.

Da war das Bröckelnde, Morbide dieser Boheme aus Autodidakten, Naiven und Dilettanten anziehend, ohne dass wir uns vorbehaltlos damit identifizierten. Es bestärkte aber den Wunsch und die Hoffnung, sich später, nach Ende des Studiums, vielleicht auch irgendwie dem allgegenwärtig spürbaren Druck entziehen zu können.

1970 sah ich im westdeutschen Fernsehen eine Sendung von Loriot, in der er aktuelle Trickfilme und Cartoons vorstellte. Polnische, jugoslawische und englische Zeichentrickfilme, die so anders waren als das, was ich aus den sowjetischen und ostdeutschen Studios kannte. Und ich dachte: Das wär’s, das müsstest du auch machen. Deine Zeichnungen in Bewegung setzen. Vom Einzelblatt weggehen und Geschichten erzählen.

Diese kurzen Filme und Cartoons, die Comicstrips von Robert Crumb, die in zerlesenen Exemplaren in der Leipziger Szene kursierten, die Zeichnungen von Roland Topor, die ich in den zur Internationalen Leipziger Buchmesse ausgestellten Bildbänden entdeckte, oder die in den aktuellen Nummern der in der Hochschulbibliothek ausliegenden Zeitschrift Kunstwerk abgebildeten Werke der Pop-Art schienen symbiotisch mit der Rockmusik zusammenzuhängen, die für mich und meine Mitstudenten so elementar und wichtig war.

Das alles zusammen war für uns Pop. Wir waren besessen von Pop oder besser von dem, was wir dafür hielten. Das Westfernsehen war eines der Fenster in diese Welt. Das hatte auch schizophrene Züge. Eine Zeit lang hielt sich in Leipzig das Gerücht: Wenn rechts neben der Uhr, die vor der Tagesschau eingeblendet wurde, ein Punkt ist, läuft nachts um drei ein schwedischer Pornofilm. Einige wollten sogar gehört haben: ein Experimentalfilm, und setzten sich mit einem Fotoapparat bewaffnet nachts vor den Fernseher und versuchten, wie Spiritisten in einer Seance, im Rauschen und Flimmern der Zeilen des Fernsehbildes etwas Figuratives zu erspähen, um es zu fotografieren.

Der Vater eines Mitstudenten war Geschäftsführer im Schorschl, einem Tanzcafé mit Barbetrieb im Süden Leipzigs. Das Schorschl war auch bekannt als Kontakthof. Gregors Vater stand am Einlass und sortierte die Gäste, so dass immer gleich viel Frauen und Männer an den Tischen saßen. Bei der Auswahl verließ er sich auf seinen Riecher, wie er sagte. Auf den Tischen im Schorschl standen Tischtelefone, die eifrig genutzt wurden. Während der Leipziger Messe gab es Apfelsinen, Spargel und geräucherten Aal. Wir verdienten uns etwas Geld, indem wir die Kulissen für eine »Ultralight-Messe-Show« der Hauskapelle malten. Das war der Höhepunkt des Abends. Nach einem Tusch wurde das Licht gelöscht, die Musiker setzten sich Sombreros und Sonnenbrillen auf und legten Glitzerwesten an. Dann zogen sie an den Strippen einiger Rollos, die wir mit fluoreszierender Plakatfarbe bemalt hatten. Nackte Frauen, Wüstenmotive, Dschungel, Wolkenkratzer. Im Saal tanzten nun die zur Messe angereisten Vertreter und Geschäftsleute aus dem Westen mit den Messemuttis Polonaise. Zweimal im Jahr die Sau rauslassen, hüben wie drüben. Minipli, weiße Socken, Slipper mit Bommeln und Pilotenbrille, Minirock, Netzstrümpfe, tiefe Ausschnitte.

Wir saßen in der schwitzenden und tobenden Meute in einer Wolke aus Dreiwettertaft und Kölnisch Wasser vor Riesenportionen geräuchertem Aal und staunten.