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Achim Schad

Kinder brauchen mehr als Liebe

Klarheit, Grenzen, Konsequenzen

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eBook, 2018

Reihengestaltung: Uwe Göbel

eBook, 2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Carl-Auer Verlag GmbH

Inhalt

Vorwort

Teil 1: Stolpersteine der Erziehung

Macht, Gewalt und Zwang in der Erziehung: Eine Begriffsentwirrung

Grenzen setzen, ohne zu verletzen

Wodurch entstehen Erziehungsprobleme? Die Stellung des Kindes in der Familie

Vom »Befehlen« zum »Verhandeln«

Das Kind als »Dirigent«

Überforderte »Chefs«

Was schwächt die Eltern?

Der »Anwalt des Kindes« in den Köpfen der Eltern

Zwei Seelen in der Brust

»Bündnispartner« des Kindes

Ursachen für Eltern-Kind-Koalitionen

Uneinigkeit und Machtkämpfe zwischen den Eltern

Erfahrungen aus der Herkunftsfamilie

Männliche und weibliche Verhaltensstrategien

Das Kind im Mann

Was schwächt die Kinder?

Des Guten zu viel

Kontrolldramen

»Randständige« Väter

Zusätzliche Stressfaktoren für Eltern und Kinder

Probleme in der Paarbeziehung, Trennung und Scheidung

Jenseits aller Familiendynamik: Selbstüberforderung

Teil 2: Hilfen und Lösungswege

Machtkämpfe vermeiden

Aussagen statt Fragen

Kommentieren statt diskutieren

Fordern statt verwöhnen

Einstieg in die Verwöhnung durch Bewegungsmangel

Grenzen setzen, ohne zu verletzen

Essen

Schlafengehen

Hausaufgaben

Wutanfälle

Geschwisterstreit

Gemeinsame Aktivitäten entwickeln und Verantwortung übertragen

Konsequenzen statt Drohungen und Strafen

Strafen schaden Kindern

Jungenerziehung

Kinder brauchen Grenzen – und Jungen ganz besonders

Reden ist Silber, Handeln ist Gold

Denkhemmungen

Die »Das funktioniert doch sowieso nicht«-Blockade

Der freundliche Blick

Die Fixierung auf das Negative

Nicht »nicht« denken

Der Umgang mit Gefühlen

Kinder brauchen Väter

Wie werden Eltern ein Dreamteam?

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Familie

Vom distanzierten Ernährer zur vertrauten Bezugsperson: Die Veränderung der Vaterrolle

Der Umgang mit unterschiedlichen Erziehungsstilen

Was ist im Drei-Generationen-Verhältnis zu beachten?

Was gilt es in Patchworkfamilien zu beachten?

Was müssen Alleinerziehende beachten?

Elternschaft bei Trennung oder Scheidung

Die Paarbeziehung als Basis der Elternbeziehung

Teil 3: Das Wichtigste in Kürze

Problematische Familienstrukturen

Unklare Hierarchien zwischen Eltern und Kindern

Was Kinder wirklich brauchen

Die Bedürfnishierarchie

Schaffen Sie »Ordnung« in Ihrer Familie

Freundlichkeit und Bestimmtheit

Wie Kinder lernen, ihre Eltern zu achten

Nobody’s perfect

Internetseiten für Familien

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Die Elternschaft stellt hohe Anforderungen in einer Zeit, die gekennzeichnet ist durch starke berufliche und familiäre Belastungen, den Wandel von Lebensumständen und der Pluralisierung von Wertvorstellungen. Kindern geht es heute hinsichtlich materieller Versorgung und individueller Förderung sicherlich besser als je zuvor. Sie erleben auch weniger Gewalt in Familien als früher: Schläge, Drohungen und andere autoritäre Erziehungsmittel werden erfreulicherweise von immer mehr Eltern abgelehnt. Und dennoch: Die heutigen Lebensbedingungen bergen neue Risiken für die Entwicklung der Kinder und die Beziehungen innerhalb der Familie. Der Bedarf an Beratung und Orientierung bei Eltern nimmt zu, die Anmeldezahlen in Erziehungsberatungsstellen und psychologischen Praxen steigen. Schulen klagen über Verhaltensauffälligkeiten, Unkonzentriertheit, Unruhe und die Zunahme von Aggressivität.

Um die heutigen Konflikte und Probleme verstehen und lösen zu können, müssen die Stellung des Kindes in der Familie, die typischen Beziehungsmuster und die Entwicklungsprozesse von Familien in den Blick genommen werden. Es hat sich für die Erziehungsberatung eine systemische Sichtweise bewährt, die weniger das einzelne Kind oder die einzelne erziehende Person (zumeist die Mutter) als »problematisch« begreift, sondern die das »System Familie« betrachtet, mit dem Ziel, problematische Strukturen und Kreislaufprozesse in der Familienkommunikation aufzudecken. »Aus den Fugen« geratene Strukturen, doppelte Botschaften und sogenannte »Teufelskreise« in der Kommunikation produzieren Probleme, die als »schwierige Kinder«, »schwache Mütter« oder »hilflose Eltern« wahrgenommen werden.

Die nachfolgende Darstellung typischer Problemmuster und Lösungswege erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie beleuchtet jedoch die heute vorherrschenden Einflussfaktoren für Erziehungsschwierigkeiten und beschreibt Verhaltensstrategien, die Eltern darin unterstützen, gewaltfrei zu erziehen und dennoch den Kindern klare Grenzen aufzuzeigen.

Der vorliegende Ratgeber ist im Kontext von Elternseminaren entstanden, die ich seit über 20 Jahren durchführe. An dieser Stelle möchte ich allen Familien, Eltern und vor allem Müttern danken, die offen ihre Probleme benennen und konstruktiv an Lösungen mitarbeiten. Sie tragen dazu bei, dass Therapeuten wie ich Probleme besser verstehen, Lösungen erarbeiten und die gewonnenen Erkenntnisse anderen Familien zugänglich machen können.

Wuppertal, Dezember 2009
Achim Schad

Teil 1: Stolpersteine der Erziehung

Macht, Gewalt und Zwang in der Erziehung: Eine Begriffsentwirrung

Jonas wird von seinem Papa vom Kindergarten abgeholt. Zu Hause angekommen, möchte der Vater, dass der Junge sich duscht und umzieht, da er offenbar an diesem Tag viel draußen herumgetobt hat. Er sagt zu Jonas, der bereits an der Garderobe fragt, ob er gleich mit ihm spielt: »Na, meinst du nicht, du solltest vielleicht erst einmal duschen?«

Die Antwort kommt prompt: »Nein, das brauche ich nicht«, und Jonas zieht den Papa Richtung Kinderzimmer. Nun beginnt ein längerer Disput.

Der Papa sagt: »Schau mal, wie du aussiehst! So kannst du doch nicht in der Wohnung spielen!«

Jonas antwortet, nachdem er die Händchen an den Hosenbeinen abgewischt hat: »Doch, guck mal, meine Hände sind gar nicht mehr schmutzig.«

Papa: »Komm, du hast den ganzen Tag draußen gespielt und bist ziemlich schmutzig. Du musst duschen. Und umziehen solltest du dich auch.«

Jonas, inzwischen im Kinderzimmer angekommen, ignoriert die Aufforderung und zieht den Papa zur Legokiste: »Papa, baust du mir eine Garage für meine Autos?«

Der Vater (inzwischen in gereiztem Ton): »Jonas, los, komm jetzt mit ins Bad, du machst hier alles schmutzig!«

Der Junge reagiert bockig, weigert sich, das Kinderzimmer zu verlassen, und wirft sich auf den Boden. Er beginnt zu schreien und um sich zu treten, als der Vater ihn an der Hand hochziehen will, um mit ihm ins Badezimmer zu gehen. Der Vater lässt von Jonas ab und geht ratlos aus dem Kinderzimmer.

Gewaltfrei zu erziehen muss oberstes Ziel für alle sein, die Verantwortung für Kinder tragen. Im Zuge der allgemeinen Verunsicherung über den »richtigen« Umgang mit Kindern sind einige Begriffsverwirrungen entstanden, die um das Thema Gewalt in der Erziehung kreisen.

Viele Fragen tun sich auf: Ist der Klaps auf Hand oder Po schon »Gewalt«? Ist der Wutausbruch, verbunden mit Schreien, Schimpfen und abwertenden Äußerungen dem Kind gegenüber weniger schlimm als die im Affekt erteilte Ohrfeige? Dürfen Eltern Zwang ausüben? Wie bringen sie ohne Gewaltanwendung ihr Kind zu Verhaltensweisen, die es nicht einsieht?

Gewalt in der Kindererziehung

Folgende Passage aus Astrid Lindgrens Dankesrede »Niemals Gewalt!« anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 22. Oktober 1978 in der Frankfurter Paulskirche bringt es auf den Punkt:

»Jenen, die jetzt so vernehmlich nach härterer Zucht und strafferen Zügeln rufen, möchte ich das erzählen, was mir einmal eine alte Dame berichtet hat.

Sie war eine junge Mutter, als ihr kleiner Sohn etwas getan hatte, wofür er ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdiente, die erste in seinem Leben. Sie trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem Stock zu suchen, den er ihr dann bringen sollte. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: ›Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.‹ Da aber fing auch die Mutter an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles mit den Augen des Kindes. Das Kind musste gedacht haben, ›meine Mutter will mir wirklich weh tun, und das kann sie ja auch mit einem Stein‹. Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme. Dann legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde gegeben hatte: ›Niemals Gewalt!‹«

Die »körperliche Züchtigung«, wie sie die traditionelle autoritäre Erziehung kennt, basiert auf dem alttestamentarischen Grundsatz: »Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie.« Die Bestürzung der Mutter, deren Sohn diese Züchtigung als eine Handlung begreift, die ihn gezielt verletzen soll, führt sie zum Umdenken.

Auch heute wollen die wenigsten Eltern ihre Kinder verletzen. Sie schlagen, schreien und drohen weder aus der Überzeugung heraus, dass dies die geeignete Form sei, Kinder positiv zu beeinflussen, noch um ihnen zu schaden – sondern sie verhalten sich so aus Hilflosigkeit, Ohnmacht oder weil sie möglicherweise als Kind selbst so behandelt worden sind. Diese Gewalt erfolgt nicht planvoll, sondern im Affekt, oftmals mit dem schalen Nachgeschmack, versagt zu haben.

Grenzen setzen, ohne zu verletzen

Wenn Eltern Grenzen setzen, üben sie Zwang aus. Zwang bedeutet: Es geschieht etwas gegen den Willen des Kindes. Streng genommen beginnt der Zwang schon da, wo das Kind nicht zustimmt (oder zustimmen kann).

Die Eltern entscheiden von Geburt des Kindes an ohne dessen Zustimmung alles Erdenkliche für ihren Nachwuchs, üben also streng genommen Zwang aus: In welchem Land wird das Kind geboren, wo wächst es auf? Welche Sprache erlernt es? Wohnen Mutter und Vater zusammen? Gibt es Geschwister? In welchem Glauben wird das Kind erzogen? Auch machen Eltern von Anbeginn die Erfahrung, dass sie Dinge gegen den Willen des Kindes tun müssen (ärztliche Behandlungen, Schutzmaßnahmen, Einschränkungen verschiedenster Art). Würden die Eltern alle Willensbekundungen und spontanen Wünsche des Kindes zur Richtschnur elterlichen Handelns erklären, wären sie (auch bei nur einem Kind) schnell überfordert und nicht mehr in der Lage, den Alltag zu bewältigen. Diese Orientierung an dem sich entwickelnden kindlichen Willen würde zudem eine völlige Überforderung des Kindes mit sich bringen. Es würde völlig plan- und ziellos handelnde Eltern erleben, die sich an einem Kind orientieren, das selbst umfassende Orientierung braucht. Folglich dürfen die Begriffe »Gewalt« und »Zwang« nicht in einem Atemzug genannt werden, was jedoch häufig geschieht.

Im Zusammenhang des bisher Dargelegten ist die Frage nach der »Macht« der Eltern klar zu beantworten. Das Unbehagen von Eltern, Erziehern und Pädagogen zuzugeben, dass sie Macht ausüben, hängt mit den Vorstellungen von Unterdrückung und Gewalt zusammen, die in diesem Begriff mitschwingen.

Macht in Beziehungen heißt jedoch vor allem anderen, dass es ein Gefälle gibt, dass keine gleichberechtigte Beziehung vorliegt, sondern dass die Beziehungen durch Hierarchien bestimmt sind. Es gibt ein Oben und ein Unten. »Oben« wird bestimmt, was »unten« geschieht. Diese Macht kann verantwortungsbewusst, zum Wohle derer, für die entschieden wird, ausgeübt werden – oder aber ausbeutend, vernachlässigend, verletzend zum Schaden dieser Personen (weshalb Macht immer begrenzt und kontrolliert werden sollte). Macht ist also mit der elterlichen Rolle zwangsläufig verbunden und muss offen thematisiert werden, damit sie verantwortungsbewusst ausgeübt werden kann.

Die Zwangsläufigkeit, dass Eltern über ihre Kinder bestimmen, beinhaltet jedoch nicht, dass sie alles entscheiden, kontrollieren und steuern sollten: Die Eltern müssen entscheiden, was ihre Kinder entscheiden dürfen. Dabei können sie durchaus sehr großzügig sein und den Rahmen sehr weit stecken. Sie können auch sagen: »Lass uns diskutieren, ich will erst dann entscheiden, wenn du überzeugt bist.« Sie können sich so verhalten, wenn sie diese Einstellung wirklich vertreten, ohne es den Kindern übel zu nehmen, wenn sich diese nicht überzeugen lassen oder die Überzeugungsarbeit viel Zeit und Kraft erfordert. Entscheidend ist bei und vor allem, dass die Eltern aufrichtig sind.

Merke

Als Eltern können wir unsere Kinder sehr viel entscheiden lassen und über sehr viele Entscheidungen diskutieren, nur müssen wir dann auch mit den Konsequenzen einverstanden sein.

Eltern können so handeln, sie müssen es aber nicht, um »gute« Eltern zu sein.

Eltern müssen auch in der Lage sein, gegen den Willen bzw. ohne die Zustimmung der Kinder zu entscheiden und ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Sicherlich ist es ratsam, die Entscheidungsspielräume für Kinder nicht zu eng zu bemessen, jedoch: Wie auch immer der Rahmen gesteckt wird, die Eltern müssen das entscheiden und verantworten, nicht die Kinder.

Dieses Buch will dazu beitragen, Eltern aufzuzeigen, wie sie ihre Kinder gewaltfrei erziehen und zugleich von den Kindern als stark, entschlossen und entscheidungsfähig erlebt werden können.

Lea fällt es schwer, sich abends von Mama und Papa zu verabschieden und nach der Gute-Nacht-Geschichte einzuschlafen. Immer wieder kommt sie aus dem Zimmer, und es ergeben sich allabendliche Diskussionen mit den Eltern:

»Ich kann nicht einschlafen!«

»Du hast es ja noch gar nicht versucht.«

»Doch, aber ich bin noch nicht müde.«

»Du hast aber ganz müde Augen, mein Schatz.«

»Ich kann aber nicht einschlafen, außerdem habe ich Durst.«

»Na gut, aber trink nicht zu viel, sonst musst du gleich wieder auf die Toilette.«

Der Tipp war gut, aber Lea wäre auch ohne Mamas Hilfe auf diesen nächsten Anlass gekommen, nochmals aufzustehen. Nachdem auch der Toilettengang absolviert ist, steht Lea kurz darauf wieder im Wohnzimmer.

»Ich kann immer noch nicht schlafen, komm doch noch mal kuscheln.« Die Mama kann der Tochter den Wunsch nicht abschlagen, nach zehn Minuten versucht sie es wieder, sich vom Kind zu verabschieden. Lea folgt ihr jedoch ins Wohnzimmer.

»Ihr sitzt hier zusammen, und ich bin ganz allein in meinem Zimmer.«

Auch der Papa hat Verständnis und sagt: »Dann setzt dich noch einen Moment zu uns.«