Elke Worg

Sehnsucht nach Veränderung

Wie ein Neuanfang gelingen kann

Elke Worg, geboren 1959, ist freie Journalistin und Autorin u.a. zahlreicher Sachbücher und Biografien. Sie arbeitet für den Bayerischen Rundfunk und ist dort vor allem für die Redaktion „Religion und Orientierung“ zuständig.

 

 

© Kreuz Verlag GmbH, Hamburg 2018

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Umschlag: griesbeck design, München

Umschlagbild: fotolia/dobri71

Autorenfoto: © Hannes Mauerer

Satz und E-Book-Konvertierung: NagelSatz, Reutlingen

ISBN 978-3-946905-45-5 (E-Book)

ISBN 978-3-946905-25-7 (Buch)

 

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Inhalt

 

Impressum

Auftakt
Zeit für Veränderung
Ostern als Symbol

Ingrid Mumm: Bleiben oder Gehen

Beate Stelzer: Von der Krankenschwester zur Kapitänin

Götter der Zeit

Christine Margreiter und „Wax in the City“

Peter Sillem: Und schon beim ersten Click

Warum wir Veränderungen lieber vermeiden wollen

Christine Margreiter: Mangel an Mut

Ingrid Mumm: Bequemlichkeit

Teil I: Wandlungsprozesse
Wandlung ist Wachstum

Peter Sillem: Ein besonderes Geburtstagsgeschenk

Andreas Dürr: Ein Banker vermietet Drachenboote

Sibylle Vollrath: Mit 46 Jahren in die Krankenpflegeausbildung

Anselm Bilgri: Vom Mönch zum Unternehmensberater

Sibylle Vollrath: Neubeginn

Lebenslang lernen
Symbolsprache
Die Exit-Strategie – mein Palmsonntag

Was der Einzug in Jerusalem mit Wax in the City, Zen, dem Jakobsweg, der Telekom, einer Galerie und Maßschuhen zu tun hat

Impuls für Palmsonntag
Die Wut-Strategie – mein Karmontag

Was die Tempelreinigung mit einem bayerischen Mönch zu tun hat

Impuls für Karmontag
Die Redestrategie – mein Kardienstag

Was wir von den Jerusalemer Streitgesprächen lernen können

Außerdem: Kleiner Rhetorikkurs in Zeiten der Veränderung mit Marc Wittfeld, Anselm Bilgri, Beate Stelzer, Gabriele Braun, Christine Margreiter und Peter Sillem

Impuls für Kardienstag
Die Verschwendungsstrategie – mein Karmittwoch

Was Nardenöl mit Schuhen, schönen Dingen und einem Pferd zu tun hat

Öl für die Füße, aufs Haupt oder ins Feuer?
Verschwendung ist relativ
Impuls für Karmittwoch
Teil II: Auferstehungsübungen
Abschied und Neubeginn
Ganz unten, ganz allein – mein Gründonnerstag

Sibylle Vollrath: Schichtdienst

Wolfgang Mainka: Mein Gethsemane

Auferstehungsübung für Gründonnerstag
Nägel mit Köpfen machen – mein Karfreitag

Manfred Weindl: Auf der Suche nach dem todsicheren Tod

Marc Wittfeld: Freiheit trägt keine Krawatte

Abstraktes fassbar machen
Auferstehungsübungen für Karfreitag
Die Zeit steht still – mein Karsamstag

Sibylle Vollrath: In der Warteschleife

Manfred Weindl: Kalter Entzug

Auferstehungsübung für Karsamstag
Den Stein ins Rollen bringen – mein Ostersonntag

Marc Wittfeld: Ich stehe jeden Morgen gerne auf

Manfred Weindl: Vom Polizisten zum Pferdeflüsterer

Beate Stelzer: Zufriedenheit

Peter Sillem: Selbstbestimmt

Andreas Dürr: Selbstkritisch

Gabriele Braun: Change Management

Auferstehungsübung für Ostersonntag
Unterwegs, doch nie am Ziel – mein Ostermontag

Christine Margreiter: Es gibt immer Lösungen

Auferstehungsübung für Ostermontag
Schlusstakt
Was Sie gewinnen, wenn Sie neu anfangen

Cheryl Shepard: Aus jeder Situation das Beste machen

Anselm Bilgri: Äußere Zwänge nicht zu wichtig nehmen

Ingrid Mumm: Ich weiß, wer ich bin

Ein herzliches Dankeschön …

Auftakt

Der Frühling ist die Zeit des Neuanfangs. Kein Wunder, dass viele Menschen gerade zu dieser Jahreszeit den Drang verspüren, etwas in ihrem Leben verändern zu wollen. Ein Tapetenwechsel – wörtlich oder im übertragenen Sinne – steht an. Die meisten Wohnungsrenovierungen und Wohnungsumzüge finden im Frühjahr statt. Um diese Zeit werden auch mehr neue Beziehungen geschlossen als zu anderen Jahreszeiten. Mensch und Natur befinden sich in Aufbruchstimmung. Einige denken gerade jetzt darüber nach, wie sie ihrem Leben eine neue Richtung geben können. Sie tun das, wovon viele in der Lebensmitte träumen: Sie drücken den Reboot-Knopf. Alles zurück auf Anfang. Sei es, weil die Umstände sie dazu zwingen oder weil sie aus freien Stücken die eingefahrenen Gleise verlassen wollen. Für ein solches Unterfangen braucht man einen kühlen Kopf. Denn nur wer die Ursachen für die eigene Unzufriedenheit mit seinem bisherigen Leben versteht, kann diese auch in einen größeren Zusammenhang stellen. Dieser weite Blick zum Horizont ist nötig, um keine voreiligen, unüberlegten Kurzschlusshandlungen zu treffen, die man möglicherweise später bereuen könnte.

Manche Rebooter schwören auf ausgeklügelte Strategien, damit der Neuanfang gelingt. Andere gehen eher spielerisch an die neue Lebensweise heran und warten, welche Gelegenheit sich ihnen bietet. Die Wege zum Neubeginn sind so verschieden, wie es die Menschen nun mal sind. Einig sind sich jedoch alle darin, dass man in jedem Alter neugierig bleiben sollte und offen wie ein Kind.

Schon der Schweizer Psychiater und Psychologe C.G. Jung forderte eine Schule für Menschen in der Lebensmitte, in der Männer und Frauen lernen können, mit den besonderen Aufgaben dieser Lebensphase zurechtzukommen. Die besten Lehrmeister sind Vorbilder, die diese „Metanoia“ bereits hinter sich haben. Darum erzählt dieses Buch von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen einen Kurswechsel vollzogen haben und seither auf der neu gewählten Spur unterwegs sind.

Zeit für Veränderung

Das Frühjahr ist eine Zeit der Reinigung. Frühjahrsputz und Frühjahrsfasten sind beliebte Aktionen, die diesen Prozess in Gang setzen sollen. Der Mensch schwingt stärker im Rhythmus der Natur, als ihm bewusst ist. Psychologisch gesehen ist das Jahr eine viel wichtigere Zeiteinheit als die Einteilung in Stunden, Minuten und Sekunden. Der Tag strukturiert unsere Aktivitäten im Kleinen. Das Jahr ordnet das große Ganze. Jeder von uns kennt das: Am Ende beziehungsweise zu Beginn eines neuen Jahres gleichen wir einem janusköpfigen Wesen. Wir blicken gleichzeitig zurück auf das, was war, und auf das, was kommen mag. Mitunter beschleicht uns dabei ein mulmiges Gefühl. Denn die Vergangenheit kennen wir. Die Zukunft aber bleibt ungewiss.

Auch der Wechsel der Jahreszeiten beeinflusst unsere Stimmungen. Unsere Befindlichkeit hängt zum großen Teil davon ab, ob es heiß oder kalt ist, ob die Tage lang oder kurz sind. Der Rhythmus des Jahres ist ein Symbol für unser Leben. Denn der Übergang von einer Jahreszeit zur nächsten verläuft nicht immer schleichend. Ein Wetterumschwung steckt oft voller Kapriolen. Frühjahrsstürme lassen uns spüren, wie schwer es ist, das Alte loszulassen, damit Neues wachsen und gedeihen kann. Der Chronobiologe Till Roenneberg fand heraus, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Jahreszeiten und dem menschlichen Verhalten. Der Wissenschaftler arbeitet am Institut für Medizinische Psychologie an der LMU München und nahm für seine Studie 166 Länder ins Visier. Er fand heraus: Suizid, Unfälle, Krankheiten, Verbrechen, Nahrungsaufnahme und sogar Lesegewohnheiten werden vom Wechsel der Jahreszeiten beeinflusst. Nicht dass wir ihnen hilflos ausgeliefert wären oder dass wir sie gar als Entschuldigung für unerwünschte Taten heranziehen könnten, aber sie können bestehende Absichten durchaus verstärken. Die Auswirkungen der jahreszeitlich bedingten Vorfälle sind umso gravierender, je weiter ein Land vom Äquator entfernt liegt. Denn mit zunehmender Distanz treten die unterschiedlichen Jahreszeiten ausgeprägter zutage. Einbruchsdelikte und Diebstähle finden am häufigsten im Herbst und Winter statt, was natürlich an den längeren Nächten liegt. Im Sommer häufen sich Gewaltverbrechen. Die Suizidrate hingegen steigt im Frühjahr auffallend an. Das mag auf den ersten Blick unverständlich erscheinen. Warum setzen Menschen ihrem Leben bei strahlendem Sonnenschein ein Ende? Manche Psychologen sind der Ansicht, dass der Frühling als Jahreszeit, in der alles auf Hoffnung gepolt ist, im krassen Gegensatz zu dem steht, was depressive Menschen empfinden. Besonders ältere Menschen glauben, dass ihre Zukunft nicht mehr offen ist und dass ein Neubeginn keinen Sinn mehr hat. Viele haben ihre Wünsche längst begraben. Und das oft so gründlich, dass sie sich nicht einmal mehr an ihre Träume erinnern können. Je aktiver Menschen, Tiere und Natur im Frühling werden, umso überzeugter sind depressive Menschen von der Sinnlosigkeit ihres eigenen Daseins. Im Winter ist diese Diskrepanz nicht so spürbar. Erstens passt das trübe Wetter besser zu ihrer Stimmung. Und zweitens sind auch andere Menschen zu dieser Jahreszeit nicht sonderlich gut gelaunt.

Experten wie Till Roenneberg sehen allerdings noch einen weiteren möglichen Grund für die hohe Suizidrate im Frühling. Seiner Ansicht nach ist es nicht allein die Perspektivlosigkeit, die gerade ältere Menschen vorzugsweise im Frühjahr in den Freitod treibt. Vielmehr verleiht ihnen genau diese Jahreszeit die nötige Energie und den Mut, um den Suizid nicht nur zu planen, sondern auch tatsächlich zu vollziehen.

Zum Glück assoziieren die meisten Menschen den Lenz aber nicht mit Suizid, sondern mit den legendären „Frühlingsgefühlen“. Diese sind keine Einbildung, sondern Realität, auch wenn die Wissenschaftler dieses Phänomen immer noch nicht vollständig erklären können. Erlebt haben das aber schon die meisten von uns: Nach dem dunklen, kalten Winter, in dem wir uns eher in unser Schneckenhaus verziehen, sehnen wir uns nach Wärme und Licht. Längere Tage und steigende Temperaturen kurbeln nicht nur unseren Kreislauf, sondern auch die Hormone an. Oder sagen wir besser: Die meisten Menschen funktionieren so. Ein kleiner Teil reagiert auf den Umschwung erst einmal mit Antriebslosigkeit, der so genannten Frühjahrsmüdigkeit. Doch auch die geht vorbei und dann wird auch bei diesen Nachzüglern das Schläfrigkeitshormon Melatonin gedrosselt; dafür steigt der Stimmungsmacher Serotonin. Wir fühlen uns unternehmungslustiger und passen uns der erwachenden Natur an. Überall grünt und sprießt es und wir wollen es ihr gleichtun. Deswegen verlieben wir uns im Frühjahr häufiger. Und weil unser innerer Kalender auf Anfang steht, eignet sich diese Jahreszeit wie keine andere dafür, einen Lebens-Wandel zu vollziehen.

Ostern als Symbol

Schon das heidnische Frühlingsfest anlässlich der Tag- und Nachtgleiche markierte einen Neuanfang – genau wie das religiöse Osterfest. Das Wort „Ostern“ ist germanischen Ursprungs. Längst ist allerdings erwiesen, dass der Begriff nichts mit der Göttin Ostara zu tun hat, wie mit sturer Beharrlichkeit immer wieder gern behauptet wird. Auch nichts mit der Himmelsrichtung Osten, wie manche Forscher angenommen hatten. „Ostern“ kommt viel mehr vom altnordischen „austr“, was soviel wie „mit Wasser begießen“ bedeutet. Der Sprachwissenschaftler Professor Jürgen Udolph fand heraus, dass es sich dabei um ein heidnisches Taufritual handelte, bei dem das Neugeborene mit Wasser begossen wurde und auch seinen Namen erhielt (Jürgen Udolph: Ostern – Geschichte eines Wortes, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2011). Im Zuge der Christianisierung, die bei den alten Germanen im 3. bis 6. Jahrhundert nach Christi Geburt stattfand, wurde der frühere Begriff auch für die christliche Taufe übernommen. Dreimal wurde der Täufling mit Wasser übergossen, wobei der Missionar die Formel sprach: „Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Über lange Zeit fand die Taufe nur einmal im Jahr statt, nämlich in der Nacht zu Ostersonntag. Ostern – das wichtigste Fest im Kirchenjahr – fiel auf den ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond. So hatte es das Konzil von Nicäa 325 nach Christus beschlossen. Ostern und die Taufe gehörten eng zusammmen. Es gab also einen bestimmten Zeitpunkt für die Verwandlung. Im übertragenen Sinne bedeutet dies: Es gibt Zeiten in unserem Leben, die reif sind für Veränderungen. Wer diese Momente rechtzeitig erkennt, wird nicht so leicht zum Spielball der Ereignisse, sondern kann diese bewusst gestalten.

Der sinnbildliche (Ver-)Wandlungsprozess wurde besonders bei einer Form der Erwachsenentaufe deutlich, wie sie im frühen Christentum praktiziert wurde: Nackt stieg der Täufling über eine Treppe ins Wasser. Damit sollte angedeutet werden, dass er seinem vergangenen Leben entsagte. Anschließend wurde er vollkommen untergetaucht – der alte Mensch war gestorben. Als symbolisch neuer Mensch entstieg er dem Wasser – meist an einer anderen Stelle. Als Zeichen der Verwandlung zog man ihm ein weißes Kleid an. Typisch ist die Dreigliederung: Erstens der Abschied vom alten Leben, zweitens der gleichnishafte Tod und drittens die Wiederauferstehung in einer neuen Identität. Diese Struktur kennzeichnet auch alle archaischen Initiationsriten, die einen Neuanfang im Leben eines Menschen markieren. Immer steht dabei der symbolische Tod im Zentrum des Rituals. In manchen afrikanischen Stämmen werden junge Männer in ein Tierfell gewickelt und in ein Grab gelegt, wo sie eine Zeitlang ausharren müssen, bevor sie als Verwandelte in die Welt der Lebenden zurückkehren dürfen. Das Kind in ihnen muss sterben, damit der Junge erwachsen werden kann.

In fast allen Mythen dieser Welt müssen die Helden eine Reise in die Unterwelt antreten, um das Mysterium von Tod und Wiedergeburt zu erfahren. Der Vogel Phönix verbrennt am Endes seines Lebenszyklus und steigt nach drei Tagen aus seiner Asche wieder auf. Osiris, der ägyptische Totengott, wird von seinem Bruder ermordet und zerstückelt. Doch seine Schwester legt die Körperteile wieder zusammen, so dass er zu neuem Leben erwacht. Orpheus befreit Eurydike aus der Unterwelt. Jona wird von einem Walfisch verschluckt, der ihn nach drei Tagen wieder an Land spuckt. Und auch Jesus muss sterben, hinabsteigen in das Reich des Todes und am dritten Tage auferstehen.

Ostern ist die Geschichte einer Umwandlung. Der Tod ist der Übergang in eine andere neue Existenz – auch im übertragenen Sinn. Man muss nicht Christ sein, um zu erkennen, dass Ostern die Blaupause für das eigene, im Wandel begriffene Leben sein kann. Damit kann das freiwillige oder auch das unfreiwillige Ende eines Lebensabschnitts gemeint sein. Oder aber das Ende einer Beziehung.

 

Ingrid Mumm war neunundvierzig Jahre alt, als sie nach fünfundzwanzigjähriger Ehe die Scheidung einreichte. Vorausgegangen war ein jahrelanger, innerlicher Ablösungsprozess, ein Abwägen zwischen Gehen oder Bleiben. „Wenn man das Gefühl hat, ein Leben zu führen, das überwiegend fremdbestimmt ist, dann – glaube ich – ist es Zeit zu gehen. Auch mit siebzig würde ich noch einen Neuanfang wagen. Es ist einfacher, mit weniger Geld auszukommen als in einem Leben festzustecken, das nicht mehr das eigene ist.“

 

„Stirb und werde“, heißt es in Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ aus dem „West-östlichem Diwan“. Viele kluge Köpfe haben sich den Kopf darüber zerbrochen, was uns der Dichter mit diesem Werk wohl sagen wollte. Die letzten Zeilen des Gedichts gehören zu den meist zitierten Goethe-Versen. Etwas verwirrend ist die Tatsache, dass sie inhaltlich und stilistisch nicht recht zu den erotisch angehauchten vorhergehenden vier Strophen passen wollen. Manche Interpreten sind deshalb davon überzeugt, der letzte Vers sei erst später hinzugefügt worden. Dort heißt es:

 

Und so lang du das nicht hast,

dieses Stirb und Werde,

bist du nur ein trüber Gast

auf der dunklen Erde.

 

Wie diese Zeilen im Kontext des Gedichts zu verstehen sind, darüber kann man trefflich streiten. Für sich allein betrachtet, lässt dieser Vers die Deutung zu, dass Veränderungen und Neuanfänge unabdingbar zum Leben aller Menschen gehören. Sie kommen nicht nur dann, wenn wir sie selbst herbeiführen. Sie kommen auch ungerufen. Im Laufe unseres Lebens müssen wir viele kleine Tode sterben und genau so häufig auferstehen, bevor der endgültige Tod unserem irdischen Dasein ein Ende setzt. Interessant ist übrigens, dass im Tarot die Karte „Tod“ nicht unbedingt bedeuten muss, dass jemand stirbt. Der Tod ist in diesem Spiel ein Symbol, ein Archetypus, der für irgendeine Veränderung steht. Unser Leben ist ständig im Wandel begriffen. Es steckt voller unvorhersehbarer Überraschungen. Nichts, absolut nichts, muss so bleiben wie es ist. Schon im nächsten Augenblick kann sich unser Leben von Grund auf ändern.

Veränderungen sind immer mit Problemen verbunden. Manchmal türmen sie sich wie Berge vor uns auf. Oft scheinen sie unlösbar: der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod eines nahestehenden Menschen, das Ende der Partnerschaft oder eine schockierende ärztliche Diagnose. In der Lebensmitte sind solche Hiobsbotschaften allerdings viel wahrscheinlicher als in jüngeren Jahren. Und kaum jemand bleibt davon verschont. Auch willentlich herbeigeführte Veränderungen können uns ins Chaos, in Angst und Verzweiflung stürzen. Als besonders schwierig und verunsichernd empfinden wir jenen Zeitraum, in dem wir das Alte noch nicht ganz losgelassen und das Neue noch nicht fest im Griff haben. Es ist der Moment, in dem wir das Gefühl haben festzustecken. Die Probleme nehmen überhand und wir meinen, dass es nicht mehr weitergeht. Wenn es uns aber gelingt, diesen dunklen Punkt der Orientierungslosigkeit zu überwinden, dann feiern wir eine kleine Auferstehung.

In diesem Frühling erlebten wir in Griechenland erstmals die Geburt der Zikaden. Es ist ein beeindruckendes Naturschauspiel und eine wunderbare Allegorie. Über mehrere Wochen krochen die unschönen Larven aus der Erde. Eine nach der anderen erklomm mit Vorliebe die Südwand unseres Hauses und klammerte sich an den rauen Putz. Wenig später sprang die Larvenhaut auf und die fertige Zikade wand sich mühsam heraus. Auf ihrer Larve sitzend, wartete sie geduldig, bis ihre Flügel getrocknet waren und der richtige Zeitpunkt für den Abflug kam. Manchmal vergingen Stunden. Mit einem Mal – löste sich das je nach Art bräunlich oder bunt schillernde Insekt und flog davon. Ihre leere Hülle blieb an der Wand zurück. Die Männchen begannen sofort zu singen.

Eine ähnliche Metamorphose erlebt, wer sich auf einen Neubeginn einlässt. Sobald wir unser altes Leben zurücklassen, fühlen wir uns wie ein neues Wesen. Die Dunkelheit in uns weicht dem Licht. Die Verzagtheit verwandelt sich in eine neu gewonnene Zuversicht und vielleicht sogar in Abenteuerlust. Stirb und werde.

In allen Kulturen der Welt findet sich die Überzeugung, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens verschiedene Entwicklungsstufen durchläuft, in denen er das Alte loslassen muss, um sich weiterzuentwickeln. Die meisten Menschen erleben ja nicht nur eine Krise. Auch die Pubertät, der Eintritt in das Berufsleben oder in den Ruhestand setzen voraus, dass uns die Ablösung vom alten Stadium gelingt. Immer warten an der Schwelle des Übergangs, zwischen Ende und Neuanfang, zahlreiche Prüfungen auf den Kandidaten. Das gilt ganz besonders für die Lebensmitte. Der Volksmund bezeichnet diese Zeit gern als „Midlife-Crisis“. Mitleid schwingt in diesem Wort mit, manchmal auch so etwas wie Bewunderung. Der Begriff „Midlife-Crisis“ muss als Erklärung für Aktionen und Reaktionen herhalten, zu denen sich Männer und Frauen ab einem gewissen Alter nach Meinung ihrer jüngeren Zeitgenossen scheinbar hinreißen lassen. Wir alle kennen die Geschichten, in denen sich Männer im mittleren Alter mit deutlich jüngeren Gefährtinnen umgeben, um sich und anderen zu beweisen, dass sie es noch „locker mit den jungen Schnöseln aufnehmen“ können. Und Frauen, die bis dato ein eher biederes Leben führten, tun endlich das, wozu es sie drängt.

 

Beate Stelzer