Adrian McKinty

Dirty Cops

Kriminalroman

Aus dem Englischen von
Peter Torberg

Suhrkamp

Dirty Cops

Police at the station and they don’t look friendly,
Police at the station and they don’t look friendly to me …

 Tom Waits, Cold Water (1992)

Die Alpträume sind nicht unterschiedlich, da ja bereits zwei opponierte Spiegel ausreichen, ein Labyrinth zu schaffen.

 Jorge Luis Borges, Sieben Nächte (1977)

Prolog

Trau keinem Special Agent

Blaudunkel, rotdunkel, gelbdunkel.

Schnee glitzert in den Senken. Zwischen den wie in einem Zoetrop flackernden Baumstämmen tauchen der Große Bär und der Polarstern auf.

Der Wald ist uralt, Überbleibsel der riesigen Holozän-Bewaldung, die einst ganz Irland bedeckte, nun aber fast vollständig verschwunden ist. Riesige fünfhundert Jahre alte Eichen, knorriger, weitverzweigter Weißdorn, Rosskastanien mit roter Rinde.

»Das gefällt mir nicht«, mault der Mann hinter dem Bewaffneten.

»Damit musst du dich jetzt einfach abfinden, ich kriege auch nasse Füße«, erwidert der Mann mit der Waffe.

»Das mein ich nicht. Ich mein diese verfluchten Bäume. Ich seh so gut wie nichts. Das gefällt mir nicht. Das ist unheimlich, aber echt.«

»Ach, jetzt reiß dich mal zusammen, du Heulsuse.«

Dabei ist es hier in den grobschlächtigen Schatten der ehrwürdigen Eichen, vier Stunden nach Mitternacht, in der Mitte von Nirgendwo, während Irland schläft und träumt, tatsächlich unheimlich …

Der kleine Anstieg ist trügerisch, er ist so steil, dass er mir den Atem raubt, und wenn das so bleibt, brauche ich meinen neuen Inhalator. Aber der liegt natürlich im Handschuhfach, weil ich mir noch nicht angewöhnt habe, ihn überallhin mitzunehmen. In ein paar Minuten macht das allerdings keinen Unterschied mehr. Eine Kugel in den Kopf ist die schnellste Kur gegen eine Asthmaattacke.

»Beeil dich gefälligst«, knurrt der Mann mit der Waffe und bohrt mir zur Bekräftigung die hässlich stumpfe Nase des Revolvers in den Rücken.

Ich erwidere nichts darauf, stapfe weiter durch Brennnesselgestrüpp und Farne und steige über mächtige, flechtenbewachsene Eibenwurzeln.

Ein paar Minuten gehen wir schweigend weiter. Opfer. Killer. Helfershelfer. Das blanke Klischee. Exakt dieselbe Szene hat sich im ländlichen Ulster seit 1968 mindestens tausend Mal so abgespielt. Ich selbst war der diensthabende Beamte bei einem halben Dutzend solcher Fälle, in denen die Leichen mit dem Gesicht nach unten in einem Sheugh gefunden wurden oder in einer Schlammgrube auf dem Hochmoor landeten. Stets weisen die Opfer Striemen an den Handgelenken auf, von Handschellen oder Fesseln, und die tödliche Verletzung ist ein Schuss in den Kopf hinter dem linken oder rechten Ohr aus weniger als einem Meter Entfernung und fast immer von oben.

Stapf, stapf, stapf, geht es den Hügel hinauf über einen schmalen Waldpfad.

Wenn ich entsprechend veranlagt wäre, dann könnte ich leicht an eine diesem Ort innewohnende Niedertracht glauben: Mondlicht, das die winterlichen Äste zu Vogelscheuchen verzerrt, der Geruch von verrottendem Moorholz und gleich neben dem Pfad, im Laub am Waldboden, diese hohen, beunruhigenden Geräusche, bei denen es sich wohl um den Todeskampf kleiner nachtaktiver Tiere handelt. Doch die Vermenschlichung der Natur ist noch nie mein Ding gewesen, und ich bin auch nicht sonderlich romantisch veranlagt. Nicht Gott, nicht die Natur und auch nicht der Erzengel Michael, Schutzpatron der Polizisten, werden kommen und mich retten. Ich muss mich selbst retten. Diese Männer werden mich umbringen, es sei denn, ich kann mich herausreden oder herauskämpfen.

Eine Brandschneise im Wald.

Himmel.

Ist es im Osten schon ein wenig heller? Vielleicht ist es später, als ich dachte. Das Verhör schien nicht allzu lang zu dauern, aber man verliert das Zeitgefühl, wenn man an einen Stuhl gefesselt ist und einen Sack über dem Kopf hat. Fünf Uhr früh? Halb sechs? Sie haben mir die Armbanduhr abgenommen, ich bin mir also nicht sicher, aber die Wespen und Schmeißfliegen sind schon aktiv, und wenn man die Ohren spitzt, hört man das erste Einsetzen des Morgengesangs: Amseln, Rotkehlchen, Ringeltauben. Für Kuckucke ist es noch zu früh im Jahr.

Wenn sie mich erschießen, wer wird dann Emma beibringen, welche Vögel auf welche Weise singen? Wird Beth weiterhin nach Donegal fahren, damit Emma Zeit mit den Großeltern verbringen kann? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich wird Beth nach alldem hier nach England gehen.

Vielleicht wäre das am besten so.

Dieses Land hat keine Zukunft.

Die Zukunft gehört den Männern mit den Waffen hinter mir. Von mir aus. Die letzten fünfzehn Jahre habe ich mein Bestes gegeben, um gegen die Entropie anzukämpfen und im Meer des Chaos für ein kleines Inselchen Ordnung zu sorgen. Ich bin daran gescheitert. Und nun zahle ich den Preis für dieses Scheitern.

»Na komm schon, Duffy, nicht trödeln«, sagt der Mann mit der Waffe. Wir überqueren die Schneise und verschwinden wieder im Wald.

Direkt vor uns flattert eine große alte Krähe von einem Weißdornast und warnt alle anderen Krähen, dass wir auf sie zustolpern.

Krah, krah, krah!

Ich habe Krähen schon immer gemocht. Sie sind gewieft. So klug wie die klügsten Hunderassen. Krähen erinnern sich noch nach Jahrzehnten an ein menschliches Gesicht. Sie können die guten von den bösen Menschen unterscheiden. Und wenn diese Verbrecher vergessen haben, was sie mit mir an diesem Morgen angestellt haben, werden sich die Krähen daran erinnern.

Darin liegt ein gewisser Trost. Noch bevor ich zählen konnte, hat mein Vater mir die Rufe der Vögel und die Namen ihrer Verbünde beigebracht. Ein Schof Enten, eine Kette von Rebhühnern, ein Schwarm Tauben, ein Trupp Lerchen, eine Brut

»Schluss mit der Trödelei, schneller, Duffy! Ich weiß, was du vorhast! Geh schneller, verflucht«, sagt der Mann mit der Waffe.

»Der Anstieg«, sage ich und schaue ihm in das von einer Sturmhaube verdeckte Gesicht.

»Nicht umdrehen, weitergehen«, befiehlt er und drückt mir wieder den Revolver in den Rücken. Wenn meine Hände nicht gefesselt wären, könnte ich einen dieser Schubser dazu verwenden, ihn zu entwaffnen, so wie uns das 1980 der Armee-Sergeant im Selbstverteidigungskurs beigebracht hat. Wenn du die Waffe im Rücken spürst, drehst du den ganzen Körper plötzlich um die eigene Achse in Richtung des Schützen, so dass er nur Luft vor sich hat, reißt die Hände herum und packst die Schusshand. Dann kommt es ganz allein auf dich an – brich ihm das Handgelenk und schnapp dir die Waffe, oder tritt ihm in die Eier und schnapp dir die Waffe. Der Sergeant meinte, wenn man schnell genug sei, hätte man eine 75-prozentige Chance, den Gegner zu entwaffnen. Blitzschnelle Drehung, sofortiger Zugriff, kein Zögern. Wir alle wussten, dass der Sergeant sich diese Statistik aus den Fingern gesogen hatte, aber selbst eine zehnprozentige Chance ist immer noch besser, als sich wie ein räudiger Hund abknallen zu lassen.

Das alles ist heute Morgen allerdings reine Theorie. Meine Hände stecken hinter dem Rücken in Polizeihandschellen. Selbst wenn ich mich schnell genug umdrehen würde, könnte ich nicht nach der Waffe greifen, und wenn ich plötzlich losrennen wollte, würde ich wahrscheinlich stolpern oder von hinten erschossen werden.

Nein, am besten versuche ich, mit ihnen zu reden und sie zu überzeugen. Und falls das nicht funktioniert (und das wird es höchstwahrscheinlich nicht), dann werde ich irgendetwas versuchen müssen, wenn sie mir die Handschellen abnehmen und mir die Schaufel in die Hand drücken, um mein eigenes Grab zu schaufeln. Das steht schon mal fest. Wenn sie einfach nur einen Bullen hätten umbringen wollen, dann hätten sie mich schon im Versteck abgeknallt, meine Leiche auf irgendeiner Nebenstraße abgelegt und die BBC angerufen. Aber das haben sie mit mir nicht getan, ihr Auftrag lautet, mich verschwinden zu lassen. Deshalb der Spaziergang durch den Wald, deshalb der Mann mit der Schaufel hinter dem Mann mit der Waffe. Die Frage ist nur: Warum? Warum muss Duffy verschwinden, wenn doch die Ermordung eines Bullen ihrer Sache zum richtigen Zeitpunkt einen moralischen Schub geben würde?

Es kann nur einen Grund dafür geben. Wenn meine Leiche tatsächlich auftaucht, dann kriegt Harry Selden Ärger mit den Bullen, und Ärger mit den Bullen ist genau das, was Harry Selden trotz seiner Unschuldsbeteuerungen nicht braucht.

Der Hang wird steiler, und ich versuche, ruhiger zu atmen.

Immer mit der Ruhe, Sean, immer mit der Ruhe.

Ich umgehe eine riesige umgestürzte Eiche, die wie eine gefallene Gottheit daliegt. Die Erde ringsherum ist weich, ich rutsche auf einem großen Flechtenteppich aus und falle beinah hin.

»Schluss damit!«, knurrt der Mann mit der Waffe, so als ob ich das mit Absicht getan hätte.

Ich fange mich und gehe weiter.

Trödelei, hat er vorhin gesagt.

Ein Wort, das man heutzutage nicht mehr zu hören kriegt. Ein älterer Mann also. Älter als er klingt. Vielleicht lässt er mit sich reden …

Plötzlich fällt mir ein Lied im Viervierteltakt ein, das mein Großvater auf der Ziehharmonika gespielt hat:

My old man said »Foller the van, and don’t dilly dally on the way.«

Off went the van wiv me ’ome packed in it, I followed on wiv me old cock linnet.

But I dillied and dallied. Dallied and dillied,

Now you can’t trust a special like the old-time coppers,

When you’re lost and broke and on your uppers …

Die Ziehharmonika klang wunderbar, aber der Gesang … Mein Großvater, der aus einer sehr wohlhabenden Gegend in Foxrock, Dublin, stammte, konnte einfach keinen Londoner Akzent nachmachen, und wenn sein Leben davon abgehangen hätte.

Aber das ist schon komisch, oder? Seit fünfundzwanzig Jahren lauert das Lied irgendwo in meinem Gedächtnis.

O ja, Sean, die Ziehharmonika zu spielen, sieht fürchterlich kompliziert aus, aber wenn du den Bogen mal raus hast, geht es ganz leicht.

Wirklich?

Na klar. Probier’s mal, ich zeig dir, wie

»Verdammt noch mal, beeil dich, du scheiß Bulle!«, sagt der Mann mit der Waffe. »Glaubst du, du hast eh nichts zu verlieren? Wir müssen uns damit nicht beeilen, weißt du? Wir müssen dich nicht schonen.«

»Das hier nennt ihr schonen?«

»Wir haben dir deine Eier gelassen, oder nicht?«

»Ich laufe so schnell ich kann. Versuchen Sie doch mal, mit den Händen hinter dem Rücken durch das Gelände zu stapfen. Wenn Sie die Handschellen abnehmen würden … die sind eh viel zu eng.«

»Schnauze! Niemand hat gesagt, dass du sprechen darfst. Also halt die Fresse und geh weiter, verflucht.«

»Okay. Okay.«

Stapf, stapf, stapf, den Hügel hinauf.

Der Hang wird wieder steiler, und der Wald wird lichter. Am Rand erkenne ich Schafweiden und Hügel, und der dunkle Fleck im Norden ist vielleicht der Atlantik. Wir sind nur eine dreiviertel Stunde mit dem Auto von Belfast entfernt, doch wir befinden uns in einer vollkommen anderen Welt, weit weg von Flugzeugen und Maschinen, weit weg vom Antlitz des Krieges. Ein anderes Irland, eine andere Zeit. Und ja, die Sterne sind jetzt erheblich weniger klar zu sehen, und die Sternbilder verblassen am eierschalenfarbenen Himmel. Die Sonne geht auf, aber die Sonne wird mich nicht retten. Wenn die Kerle auch nur halbwegs kompetent sind, und davon gehe ich aus, bin ich vor Tagesanbruch tot.

»Was ist denn nur mit denen los?«, murmelt der Mann mit der Waffe. »Beeilt euch gefälligst, ihr zwei!«, brüllt er die anderen an.

Man hat mir befohlen, mich nicht umzudrehen, aber das bestätigt meine Vermutungen. Von den fünf Mann, die mich entführt haben, wartet einer beim Wagen, einer unten am Pfad als Späher, und die anderen drei führen die Tat aus.

»Also los, keiner hat dir gesagt, dass du stehenbleiben sollst, weiter, Duffy!«, schimpft der Mann mit der Waffe.

Ich schüttle den Kopf. »Ich muss Luft holen. Ich hab Asthma«, erwidere ich. »Ich kriege schlecht Luft.«

»Gar nichts hast du!«

»Ich bin Asthmatiker. Haben sie bei meiner amtsärztlichen Untersuchung rausgefunden.«

»Was für eine Untersuchung?«

»Na, bei der Polizei. Ich dachte erst, das kommt nur vom zu vielen Rauchen, aber der Arzt meinte, ich hätte Asthma. Ich hab einen Inhalator.«

»Blödsinn!«

»Stimmt aber.«

»Hast du ihn dabei?«

»Nein. Der liegt im Handschuhfach von meinem Wagen.«

»Was ist denn los? Erledigen wir ihn hier?«, fragt einer der beiden anderen, als er zu uns aufschließt. Der, der sich über die unheimlichen Bäume beschwert hat. Der mit der Schaufel.

»Er behauptet, er hat Asthma. Er kriegt keine Luft, sagt er«, erklärt der Mann mit der Waffe.

»Aye, an so kalten Vormittagen wie heute kriegt man so was. Unser Jack hat Asthma«, erklärt der zweite Mann. Jünger als der Mann mit der Waffe, Jeansjacke, enge, verblichene Jeans, weiße Sneaker. Die Schaufel ist altmodisch: schwerer Holzgriff, gusseisernes Blatt, tiefer Schwerpunkt …

»Ich glaub nicht an Asthma. Asthma ist nur ein Märchen. Frische Luft, das ist alles, was man braucht«, verkündet der Mann mit der Waffe.

»Na, das erzähl mal der Ma von unserem Jack, die ist bei den besten Ärzten in ganz Waterside gewesen.«

Der dritte schließt zu uns auf. Er ist kleiner als die anderen. Er trägt eine braune Sturmhaube und eine Fliegerjacke.

Nein, kein er. Eine Frau. Sie hat während der Autofahrt kein Wort gesagt, aber mit etwas mehr Verstand hätte ich drauf kommen können, dass der Geruch im Wagen Parfüm war. Ich hatte es für den Wunderbaum gehalten. Sie hat ebenfalls eine Waffe dabei. Eine alte .45er. Schau sich das mal einer an. Aus US-Army-Beständen. 1930er ACP. Die hat bei irgendwem in der Schuhschachtel herumgelegen, seit die GIs im Zweiten Weltkrieg hier gewesen waren. Bei so einer Waffe hätte ich nicht lange zu leiden. Ich würde den Schuss nicht mal hören. Ein unmittelbares Auslöschen des Bewusstseins. Ich würde nichts spüren. Völlige Dunkelheit, einfach so. Und dann, wenn Father McGuigan recht hat, vergeht eine kaum wahrnehmbare Zeitspanne, bis der Leib am Jüngsten Tag wiederaufersteht …

»Ist es hier? Ist das die Stelle?«, fragt sie.

»Nein, noch ein kurzes Stück«, antwortet der Mann mit der Waffe.

»Können wir es nicht hier machen? Wir sind eh schon meilenweit von allen anderen entfernt«, sagt der Schaufelmann.

»Wir machen es dort, wo man es uns aufgetragen hat«, beharrt der Anführer. »Es ist eh nicht mehr weit. Hier, ich zeig’s euch.«

Er faltet eine auf dickes, grobes Papier selbstgezeichnete Landkarte auseinander. Eine solche Kartografie habe ich noch nie gesehen, voller esoterischer Symbole und Piktogramme, rätselhafter, sich überschneidender Pfade und Linien. Der Typ ist ein Exzentriker, der sich seine eigenen Landkarten zeichnet. Unter anderen Umständen würden wir wahrscheinlich prima miteinander auskommen.

»Was ist das denn? Irgendeine neue Generalstabskarte?«, fragt die Frau.

»Nein! Also wirklich nicht. ›Generalstabskarte‹, sagt sie.«

»Was denn dann?«

»Jeder sollte sich eine Landkarte seiner verlorenen Felder anlegen. Die eigene Landkarte. Mit eigenem Maßstab und eigener Legende«, führt der Mann mit der Waffe aus.

»Was meinst du mit ›verlorene Felder‹?«, fragt die Frau irritiert.

»Er zitiert Gaston Bachelard«, erkläre ich.

»Wer hat dich gefragt? Schnauze!«, faucht der Mann mit der Waffe.

»Welcher Gaston?«, will der Mann mit der Schaufel wissen.

»Schlag nach. Es gibt mehr im Leben als Pub, Wettbüro und Sozialamt, weißt du? Asthma, für’n Arsch! Es gibt kein Asthma. Ist euch aufgefallen, dass keiner von uns hingefallen ist? Habt ihr bemerkt, wie schnell sich unsere Füße an den Untergrund gewöhnt haben?«, fragt der Mann mit der Waffe.

»Eigentlich nicht«, erwidert die Frau.

»In der letzten halben Stunde haben unsere Augen Rhodopsin ausgeschüttet. Wir passen uns an die Dunkelheit an. Deswegen muss man ab und zu raus, weg vom künstlichen Licht. Gut für die Augen, gut für die Seele.«

»Rhodopsin?«, fragt die Frau.

»Ein Proteinrezeptor in der Netzhaut. Das ist die Chemikalie, die die Stäbchen im Auge verwenden, um Photonen zu absorbieren und Licht zu erkennen. Der Schlüssel zur nächtlichen Sehfähigkeit.«

»Wovon um alles in der Welt redest du, Tommy?«, fragt die Frau.

»Keine Namen!«

»Ach, was macht das schon, ob wir unsere Namen benutzen? Er ist doch sowieso bald tot«, meint der Mann mit der Schaufel.

»Egal, ob er bald tot ist oder nicht. So lautet die Regel! Keine Namen. Hört ihr eigentlich bei den Lagebesprechungen jemals zu? Solche Anfänger!«, murmelt »Tommy«, faltet die Landkarte zusammen und steckt sie beleidigt ein.

»Ist es noch weit?«, fragt die Frau.

»Also, weiter geht’s«, brüllt Tommy und richtet die Waffe wieder auf mich.

Stapf, stapf, stapf, den Hügel hinauf, aber ich muss zugeben, dass ich bei dieser kleinen Unterhaltung eine Menge gelernt habe. Der Mann mit der Waffe ist etwa 45, 50. Biologielehrer? All das Zeug über Proteinrezeptoren … nein, das hat er wahrscheinlich alles im New Scientist gelesen und sich daran erinnert. Nicht Biologie. Kommt mir nicht wie der Typ für einen naturwissenschaftlichen Hochschulabschluss vor. Geografie vielleicht. Hippie, vielleicht ein linker Radikaler, und der Akzent ist definitiv Derry. In den frühen Siebzigern sind wir höchstwahrscheinlich auf dieselben Demos gegangen. Katholisch, also wahrscheinlich Lehrer am St Columba’s College, an der St Joseph’s Secondary oder St Malachy’s National School. Damit kann ich schon eine Menge anfangen. Er ist der Anführer, ein paar Jahrzehnte älter als die anderen beiden. Wenn ich ihn umdrehen kann, ziehen die anderen mit.

Ein ziemlich großes »Wenn«.

»Rhodopsin, für’n Arsch. Ich bin hingefallen«, sagt Schaufelmann und reicht der Frau eine Wasserflasche. »Zwei Mal. Und abwärts wird es noch schlimmer. Achtet auf meine Worte. Wir werden alle auf die Schnauze fallen, werdet schon sehen.«

Der Wald wird ein wenig lichter, und im Westen sehe ich Scheinwerfer auf einer Straße. Allerdings fünfzehn Kilometer weg, und sie entfernen sich. Von dort ist also keine Hilfe zu erwarten.

Ein klarer, urwüchsiger Wind weht von der Hügelspitze herunter. Ich trage nur Jeans, T-Shirt und Doc Martens. Wenigstens ist es mein Glücks-T-Shirt, Che Guevara, handgedruckt und von Jim Fitzpatrick höchstpersönlich signiert. Wenn in ein paar Jahren ein Hundehalter oder ein Wanderer auf meine Leiche stößt und die Baumwolle bis dahin nicht verrottet ist, dann können sie mich vielleicht anhand des T-Shirts identifizieren.

»Jetzt seid vorsichtig!«, verkündet Tommy. »Hier ist es schlammig wie sonst was. Da drüben ist ein Sumpfloch. Da liegt ein totes Schaf drin. Aber wenn wir das hinter uns haben, sind wir da.«

Wir waten durch ein Gewirr aus Baumwurzeln und feuchter Erde und kommen schließlich an einer kleinen Talsenke an, die wohl der Hinrichtungsort sein soll.

Ein guter Platz, um jemanden umzubringen. Die umstehenden Bäume werden den Schuss dämpfen, und die überhängenden Äste schützen die Mörder vor den neugierigen Blicken aus Helikoptern und Satelliten.

»Wir sind da«, sagt Tommy und schaut noch einmal auf seine Karte.

»Es muss doch einen besseren Weg geben als diesen«, meint Schaufelmann erschöpft. »Guck dir meine Sneakers an. Das waren funkelnagelneue Schuhe! Nikes. Durchgeweicht bis auf die Socken.«

»Mehr hast du nicht zu sagen? ›Guck dir meine Sneakers an‹? Mecker, mecker, mecker. Hast du denn gar keinen Anstand? Das hier ist eine ernste Angelegenheit. Ist dir klar, dass wir heute Morgen jemandem das Leben nehmen?«, fragt Tommy.

»Klar ist mir das klar. Aber warum wir das in der Mitte von Nirgendwo auf halber Höhe einen verfluchten Berg hinauf machen müssen, ist mir überhaupt nicht klar.«

»Und ich dachte schon, dir wäre die Bedeutung der Aufgabe bewusst oder du würdest wenigstens die Natur genießen. Weißt du überhaupt, was das da sind?«, fragt Tommy und zeigt auf die überhängenden Äste.

»Bäume?«

»Ulmen! Nach allem, was wir wissen, die letzten Ulmen auf der Insel.«

»Ulmen? Nie im Leben.«

»Aye, als wenn du dich mit Bäumen auskennen würdest. Du kommst doch aus West Belfast«, knurrt Tommy.

»Es gibt in Belfast Bäume. Überall! Man muss ja nicht gleich im Wald leben, um zu wissen, was ein verfluchter Baum ist. Weißt du, wer im Wald lebt? Weggelaufene Irre. Überall. Und irgendwelche Kultanhänger. Hast du dir jemals The Wicker Man angeschaut? Und Großkatzen. Panther. In der Sunday World war neulich ein Foto von …«

»Gentlemen, bitte«, sagt die Frau, die sich zu uns gesellt hat. »Sind wir endlich da oder was?«

»Sind wir«, murmelt Tommy.

»Na dann, bringen wir es hinter uns«, sagt sie.

»Nimm ihm die Handschellen ab und gib ihm den Spaten«, sagt Tommy.

Schaufelmann macht mich los und lässt die Schaufel neben mir liegen. Die drei gehen ein paar Schritte zurück und lassen mir Platz. »Du weißt, was du zu tun hast, Duffy«, sagt Tommy.

»Ihr macht einen Riesenfehler«, sage ich zu ihm und schaue ihm in die braunen Augen hinter der Sturmmaske. »Euch ist nicht klar, was ihr da tut. Ihr werdet nur benutzt. Ihr …«

Tommy richtet die Waffe auf meinen Schritt.

»Ich schieß dir die Eier weg, wenn du noch ein Wort von dir gibst. Dann kannst du ohne Gemächt buddeln. Und jetzt halt die Schnauze und fang an.«

Ich reibe mir die Handgelenke, nehme die Schaufel und fange an zu graben. Der Boden ist feucht und weich und nachgiebig. Es wird keine zehn Minuten dauern, um ein flaches Grab zu schaufeln.

Die drei halten sich in gebührender Entfernung von der Schaufel. Sie mögen vielleicht neu in diesem Geschäft sein, aber dumm sind sie nicht.

»Ich bin froh, wenn das vorbei ist«, flüstert die Frau dem jüngeren Mann zu. »Ich würde für eine Tasse Tee sterben.«

»Und ich könnte eine Zigarette brauchen. Ich fass es nicht, dass ich die auf der Farm vergessen habe«, erwidert der Mann.

»Tee und Zigaretten, das ist alles, was den beiden einfällt, wenn wir jemandem das Leben nehmen«, brummelt Tommy.

»Für dich ist das kein Problem, du rauchst ja nicht. Ich …«

Ich schalte die Ohren auf Durchzug, und ihr Gemurmel ist nur noch Hintergrundrauschen.

Ich denke an Beth und Emma, während ich durch eine überraschende Schicht Kalk in all dem Torf grabe. Kalk.

An Emmas Lächeln und Beths grüne Augen.

Emmas Lachen.

Das soll das Letzte sein, an das ich denke. Nicht das Gebrabbel dieser irregeleiteten Idioten.

Schaufel.

Erde.

Schaufel.

Ich hab ja gewusst, dass der Tod bei meiner Art von Arbeit ein Berufsrisiko ist, aber es ist völlig absurd, dass dieser banale Fall eines toten Drogendealers in Carrickfergus hierzu geführt hat. Einen durchschnittlicheren Mord als den hier kann man sich in Ulster gar nicht denken. Lächerlich.

Erde.

Schaufel.

Erde.

Schaufel.

Luft …

Ich kriege schon wieder keine Luft. Ich schnappe nach …

schnappe nach …

Sie glauben, ich tu nur so.

Ich habe ihre Geduld überstrapaziert.

Jemand schubst mich, und ich falle hin.

Ich liege rücklings im schwarzen Torf.

»Also, knallen wir ihn ab«, sagt eine Stimme aus tausend Meilen Entfernung.

»Also gut.«

Über mir Baumwipfel, Krähen, Himmel.

Und gelbdunkel, rotdunkel, blaudunkel …