Amos Oz

Wo die Schakale heulen

Erzählungen

Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler

Suhrkamp

Für Nili

Land der Schakale

1.

Endlich legte sich der Wüstenwind.

Vom Meer fuhr der Wind in das glühende Wassermelonenfeld und schlug kühle Schneisen. Die zunächst leichten, zögerlichen Brisen versetzten die Wipfel der Zypressen in ein sehnsüchtiges Schaudern, als flösse, von den Wurzeln in die erbebenden Stämme aufsteigend, Strom durch sie hindurch.

Gegen Abend frischte der Westwind auf, und der Wüstenwind, der Chamsin, zog sich nach Osten zurück, in die judäischen Berge, von dort aus in die Senke von Jericho und weiter bis zu den Wüsten der Skorpione östlich des Jordan. Es schien der letzte Wüstenwind zu sein. Der Herbst stand bevor.

In schrillen Freudenschreien stürmten die Kibbuz-Kinder über die Rasenflächen. Ihre Eltern zogen die Liegestühle von den Terrassen in die Gärten. »Keine Regel ohne Ausnahme«, lautete ein Spruch von Saschke. Diesmal war er die Ausnahme, er verbarg sich allein in seinem Zimmer, um ein weiteres Kapitel seines Buchs über die Probleme des Kibbuz in Zeiten des Wandels zu schreiben.

Saschke gehörte zu den Gründungsmitgliedern unseres Kibbuz und war einer der herausragenden Aktivisten. Ein vierschrötiger Mann, von rötlicher Hautfarbe, mit Brille und einprägsamen, weichen Gesichtszügen, der väterlich gelassen wirkte. Eine gewisse Umtriebigkeit ging von ihm aus. Der angenehm kühle Abendwind, der in sein Zimmer drang, zwang ihn dazu, einen schweren Aschenbecher auf die rebellierenden Blätter zu legen. Eine aufrichtige Begeisterung ließ ihn an seinen Sätzen feilen. Zeiten, die sich ändern, sagte sich Saschke, Zeiten, die sich ändern, erfordern Ideen, die sich ändern; nicht stehenbleiben, nicht sich wiederholen, man muss energisch und klug vorgehen.

Die Häuserwände, die Blechdächer der Vorbauten und die neben der Schreinerei lagernden Eisenrohre begannen die Hitze abzustrahlen, die sich in den Tagen des Chamsin in ihnen aufgestaut hatte.

Galila, Saschkes und Tanjas Tochter, stand unter der kalten Dusche, ihre Hände glitten über den Nacken, die Ellbogen nach hinten gedrückt. Der Duschraum war fast dunkel. Die blonden Haare fielen schwer und nass auf die Schultern, auch sie kamen ihr fast dunkel vor. Hinge hier ein großer Spiegel, ich hätte mich vielleicht vor ihn gestellt und meinen Körper betrachtet, langsam, zärtlich. Wie man den Meerwind betrachtet, der draußen weht.

Aber die Dusche war klein, eine quadratische Zelle, in der sich kein großer Spiegel befand und auch gar nicht hätte befinden können. Galila beeilte sich, leicht nervös. Ungeduldig trocknete sie sich ab und schlüpfte in saubere Kleidung. Was will Matitjahu Demkow von mir? Er bat mich, nach dem Abendessen zu ihm zu kommen. Als wir klein waren, schauten wir ihm und seinen Pferden gerne zu. Aber den Abend in irgendeinem verschwitzten Junggesellenzimmer zu vergeuden, das ist zu viel verlangt. Er hat zwar versprochen, mir Farben aus dem Ausland zu geben. Andererseits ist der Abend kurz, und andere freie Stunden haben wir nicht. Wir sind Arbeiterinnen.

Was für einen verwirrten und unbeholfenen Eindruck Matitjahu Demkow gemacht hat, als er sich mir in den Weg stellte und sagte, ich solle nach dem Abendessen zu ihm kommen. Und diese in der Luft herumfuchtelnde Hand, die versuchte, Worte aus dem Wüstenwind zu pflücken, wie der Mund eines nach Luft schnappenden Fischs, der nicht die Worte findet, die er sucht. »Heute Abend. Lohnt sich, wenn du kurz vorbeikommst«, sagte er, »du wirst sehen, es interessiert dich. Nur für einen Moment. Und auch ziemlich … wichtig. Du wirst es nicht bereuen. Richtige Leinwände und Farben von professionellen Malern, wirklich. Genau genommen habe ich das alles von meinem Cousin Leon, der in Südamerika lebt. Ich brauche keine Leinwände und keine Farben. Ich – und Malerei. Alles ist für dich, du musst nur kommen.«

Galila erinnerte sich an diese Worte und empfand dabei sowohl Widerwillen als auch Vergnügen. Sie dachte daran, wie abstoßend hässlich Matitjahu Demkow war, der sich dazu bereiterklärt hatte, sie mit Leinwänden und Farben zu versorgen. Nun, ich werde wohl zu ihm hingehen und sehen, was passiert, und herauskriegen, warum ich diejenige bin. Aber ich werde nicht länger als fünf Minuten in seinem Zimmer bleiben.

2.

In den Bergen ist der Sonnenuntergang schnell und heftig. Unser Kibbuz liegt in der Ebene, und die Ebene verzögert den Sonnenuntergang, mildert seine Heftigkeit. Langsam wie ein müder Zugvogel sinkt die Dämmerung herab. Erst werden die fensterlosen Schuppen und Vorratskammern dunkel. Das Dunkelwerden stört sie nicht, denn die Dunkelheit verlässt sie nie ganz. Dann kommen die Wohnhäuser an die Reihe. Eine Schaltuhr setzt den Generator in Bewegung. Sein Klopfen klingt wie ein schlagendes Herz, ein fernes Trommeln. Die elektrischen Adern werden lebendig und verborgener Strom fließt durch unsere dünnen Wände. In diesem Moment gehen auf einen Schlag in allen Fenstern der Pioniere die Lichter an. Die Metallteile auf der Spitze des Wasserturms fangen die letzten Strahlen des Tageslichts ein und halten sie lange fest. Schließlich verblasst auch der Blitzableiter ganz oben auf dem Turm.

Die Alten der Siedlung verharren in ihren Liegestühlen wie leblose Gegenstände, erlauben der Dämmerung, sie einzuhüllen, sie leisten keinen Widerstand.

Gegen sieben begeben sich alle langsam zum Speisesaal. Manche unterhalten sich darüber, was heute geschah, andere darüber, was morgen zu tun ist, wieder andere schweigen. Zeit für Matitjahu Demkow, seine Höhle zu verlassen und sich in menschliche Gesellschaft zu begeben. Er schließt die Wohnungstür ab, lässt die sterile Stille hinter sich und begibt sich in den betriebsamen Speisesaal.

3.

Matitjahu Demkow ist ein kleiner, dünner und dunkler Mann, der nur aus Knochen und Muskeln besteht, seine schmalen Augen liegen tief in den Höhlen, seine Wangenknochen sind ein bisschen schief und sein Gesicht hat immer einen leicht besserwisserischen Ausdruck: ›Habe ich’s euch nicht gesagt?‹ Er ist gleich nach dem Zweiten Weltkrieg zu uns gekommen. Eigentlich stammt er aus Bulgarien. Wo genau er gewesen ist und was er getan hat, erzählt dieser Demkow nicht. Wir verlangen keine Rechenschaft. Er hat sich eine Zeitlang in Südamerika aufgehalten. Und er trägt einen Schnurrbart.

Matitjahu Demkow verfügt über einen beinahe perfekten Körper: kompakt, jugendlich, fast unnatürlich stark und geschmeidig. Welchen Eindruck dieser Körper wohl auf Frauen macht? Bei Männern weckt er nervöses Unbehagen.

An der linken Hand hat Matitjahu Demkow nur noch Daumen und kleinen Finger. Dazwischen ist Leere. »In Kriegszeiten«, sagt Matitjahu Demkow, »haben Menschen mehr verloren als drei Finger.«

Tagsüber arbeitet er in der Schmiede, mit nacktem, schweißüberströmtem Oberkörper. Die Muskeln tanzen unter der gespannten Haut wie zusammengedrückte Sprungfedern. Er schweißt Zubehörteile, er lötet Rohre, hämmert verbogene Arbeitsgeräte wieder zurecht, haut ausrangiertes Werkzeug zu Schrott. Seine rechte Hand, die vollständige, ist stark genug, um den schweren Vorschlaghammer über den Kopf zu schwingen und mit gezügelter Wildheit auf die Gegenstände einzuschlagen.

Vor vielen Jahren hat Matitjahu die Pferde des Kibbuz derart geschickt beschlagen, dass alle ins Staunen gerieten. Schon in Bulgarien hatte er sich, so scheint es, mit Pferdezucht beschäftigt. Manchmal hat er groß und breit den Unterschied zwischen Zuchtpferden und Arbeitspferden erläutert und den Kindern, die ihm zuschauten, erzählt, er und sein Partner oder sein Cousin Leon hätten die wertvollsten Pferde zwischen Donau und Ägäis gezüchtet.

Ab dem Tag, ab dem der Kibbuz keine Pferde mehr benutzte, wurde Matitjahu Demkows Kunst überflüssig. Ein paar Mädchen sammelten die überflüssig gewordenen Hufeisen ein und schmückten damit ihre Zimmer. Nur die Kinder, die beim Beschlagen zugeschaut hatten, erinnerten sich noch manchmal daran: an die Geschicklichkeit. An den Schmerz. An den beißenden Geruch. An die Gelenkigkeit. Galila hatte auf ihrem hellen Zopf herumgekaut und den Mann von weitem mit grauen, weit geöffneten Augen angestarrt, den Augen ihrer Mutter, nicht ihres Vaters.

Sie wird nicht kommen.

Ich glaube ihrem Versprechen nicht.

Sie hat Angst vor mir. Und sie ist misstrauisch wie ihr Vater und schlau wie ihre Mutter. Sie wird nicht kommen. Und wenn doch, werde ich’s ihr nicht erzählen. Und wenn ich’s ihr erzähle, wird sie’s mir nicht glauben. Sie wird Saschke alles sagen. Mit Worten ist nichts zu erreichen. Aber hier sind Menschen, hier ist Licht: Guten Appetit!

Auf jedem Tisch glänzte Besteck, standen Metallkannen und Brotkörbe.

»Man muss die Messer mal wieder schleifen«, sagte Matitjahu Demkow zu seinen Tischnachbarn. Er schnitt die Zwiebeln und die Tomaten in dünne Scheiben, würzte sie mit Salz, Essig und Öl. »Im Winter, wenn ich weniger Arbeit habe, werde ich alle Messer des Speisesaals schärfen, und ich werde auch die Dachrinne reparieren. Der Winter ist schon nicht mehr weit. Dieser Chamsin, denke ich, war der letzte. Das war’s. Der Winter wird uns in seinen Fängen haben, bevor wir darauf vorbereitet sind.«

 

Am Rand des Speisesaals, neben dem Durchgang zu dem Raum mit den Wasserkesseln und zur Küche, drängte sich eine Gruppe knochiger Veteranen, manche kahlköpfig, manche weißhaarig, um das einzige Exemplar der Abendzeitung. Die Seiten wurden auseinandergetrennt und die Rubriken abwechselnd unter den Lesern, die sie für sich »reserviert« hatten, herumgereicht. Einige gaben Kommentare ab. Andere betrachteten die ›Experten‹ mit altersmüder, spöttischer Miene. Und es gab welche, die nur stumm zuhörten, die Gesichter von stiller Trauer gezeichnet. Sie waren, nach Saschkes Worten, die Treusten unter den Treuen, jene, die das ganze Leid der Arbeiterbewegung ertrugen.

In der Zeit, in der die Männer sich um die Zeitung drängten und sich mit Politik beschäftigten, versammelten sich die Frauen um den Tisch des Arbeitszuteilers. Tanja, das Gesicht faltig, die Augen müde und angestrengt, protestierte lautstark. Sie hatte einen Metall-Aschenbecher in der Hand und klopfte mit ihm im Takt ihrer Beschwerden auf den Tisch, erstens und zweitens und drittens. Sie beugte ihren Oberkörper über die Arbeitslisten, als ob sie ihn unter das Joch der Ungerechtigkeit beuge, das ihr auferlegt wurde oder ihr auferlegt werden würde. Ihre Haare waren grau. Matitjahu Demkow hörte ihre Stimme, verstand aber nicht, was sie sagte. Bestimmt versuchte der Arbeitszuteiler jetzt, sich angesichts von Tanjas Zorn mit Würde aus der Affäre zu ziehen. Und nun sammelte sie wie nebenbei die Früchte ihres Siegs ein, richtete sich auf und wandte sich Matitjahu Demkows Tisch zu.

»Und jetzt zu dir. Du weißt, dass ich sehr viel Geduld habe, aber alles hat seine Grenzen. Und wenn der Rahmen bis morgen früh um zehn nicht gelötet ist, werde ich Krach schlagen. Was zu viel ist, ist zu viel, Matitjahu Demkow. Und überhaupt …«

Der Mann verzog das Gesicht, so dass er noch hässlicher wurde, bis er aussah wie ein Schreckgespenst, oder als trüge er eine Clownsmaske.

»Wirklich«, sagte er leise, »du regst dich völlig unnötig auf. Dein Rahmen ist schon seit Tagen fertig gelötet, du hast ihn nur nicht abgeholt. Komm morgen, wann immer du willst. Mich muss man bei der Arbeit nicht drängen.«

»Drängen? Ich? Nie im Leben hätte ich es gewagt, dich zu drängen. Entschuldige. Ich hoffe, dass du nicht gekränkt bist.«

»Ich bin nicht gekränkt«, schloss Matitjahu. »Im Gegenteil. Ich bin völlig entspannt. Friede sei mit dir.«

Mit diesen Worten waren die Angelegenheiten des Speisesaals beendet. Eigentlich war es jetzt an der Zeit, ins Zimmer zu gehen, Licht anzuzünden, sich aufs Bett zu setzen und ruhig zu warten. Und was brauche ich noch? Genau. Eine Zigarette. Streichhölzer, Aschenbecher.

4.

Elektrischer Strom pocht in den miteinander verwobenen Adern und beleuchtet alles mit mattem Licht: unsere kleinen Häuser mit den roten Dächern, unsere Gärten, unsere rissigen Betonwege, die Zäune und den Schrott, die Stille. Weiche, gedämpfte Lichtpfützen. Altes Licht.

Holzpfosten stehen in regelmäßigen Abständen entlang des äußeren Zauns, auf ihnen sind Scheinwerfer montiert. Sie versuchen, die Felder und die Täler bis zum Fuß der Berge zu erhellen. Ein kleiner Kreis der Anbauflächen ist tatsächlich lichtüberflutet. Doch außerhalb des Lichtkegels herrschen Dunkelheit und Stille. Herbstnächte sind nicht schwarz. Nicht hier. Die Nächte sind fast violett. Ein violetter Schimmer scheint auf den Weinbergen und Obstgärten zu liegen. Die Obstgärten werden langsam gelb. Das weiche, violette Licht verhüllt voller Zärtlichkeit die Wipfel, überdeckt die harten Konturen, bringt den Unterschied zwischen Leblosem und Lebendem zum Verschwinden. Auf diese Weise verzerrt es das Aussehen der leblosen Gegenstände, es flößt ihnen Leben ein, kalt und unheimlich, zitternd wie durch ein Gift. Andererseits verlangsamt es die Bewegungen des Lebendigen, verbirgt dessen Anwesenheit. Deshalb können wir die Schakale nicht sehen, wenn sie aus ihrem Bau kommen. Zwangsläufig verpassen wir den Anblick ihrer weichen Nasen, die in der Luft schnuppern, ihrer Pfoten, die förmlich über die Erde schweben, sie kaum berühren.

Die Hunde des Kibbuz sind die Einzigen, die diese unwirkliche Bewegung wahrnehmen. Deshalb heulen sie nachts aus Neid, Zorn und Wut. Deshalb scharren sie die Erde auf und zerren an ihren Ketten, bis ihre Halswirbel knacken.

Ein alter Schakal hätte die Falle bestimmt umgangen. Aber es war ein junger Schakal, geschmeidig, weich, mit gesträubtem Fell, angelockt vom Geruch des Bluts und des Fleischs. Er tappte jedoch nicht aus völliger Torheit in die Falle. Er folgte nur seinem Geruchssinn. Er näherte sich seinem Ende vorsichtig, mit kleinen Schritten. Einige Male hielt er inne, eine dumpfe Warnung in seinen Adern spürend. Vor der Falle blieb er stehen, erstarrte mitten in der Bewegung, still, grau wie die Erde und geduldig wie sie. Gepackt von einem unbestimmten Schrecken, spitzte er die Ohren, hörte aber nichts. Die Gerüche lenkten ihn ab.

War es wirklich Zufall? Wir behaupten, der Zufall sei blind, aber er schaut uns mit tausend Augen an. Jung war dieser Welpe, und selbst wenn er die tausend Augen spürte, die ihn anschauten, konnte er ihre Bedeutung nicht verstehen.

Eine Wand aus alten, staubigen Zypressen umgibt den Obstgarten. Was ist der verborgene Faden zwischen Leblosem und Lebendem? Wir suchen verzweifelt nach dem Ende des Fadens, zornig, verkrampft, beißen uns auf die Lippen, bis sie bluten, verdrehen die Augen wie im Wahn. Die Schakale kennen den Faden. Sinnliche Ströme pulsieren in ihm, die von Körper zu Körper springen, von Lebewesen zu Lebewesen, von Zittern zu Zittern. Und dann Ruhe und Frieden.

Schließlich senkte das Tier den Kopf und streckte die Nase vor zum verlockenden Fleisch. Ein Geruch von Blut und Saft. Die Nasenspitze des jungen Schakals war feucht und beweglich, Speichel trat aus dem Maul, tropfte auf das Fell, die Sehnen waren gespannt. Seine Vorderpfote tastete nach der verbotenen Frucht, sanft wie ein Hauch.

Nun kam der Moment des kalten Eisens. Mit einem leichten, metallischen Klicken schnappte die Falle zu.

Das Tier war wie versteinert. Vielleicht wollte es die Falle überlisten, indem es sich leblos stellte. Kein Ton, keine Bewegung. Lange prüften Schakal und Falle die Stärke des Gegners. Langsam, unter Qualen, kam wieder Leben in das Tier.

Die Zypressen bewegten sich lautlos, neigten sich, richteten sich wieder auf. Der Schakal riss das Maul auf und entblößte kleine, schaumverschmierte Zähne.

Plötzlich packte ihn die Verzweiflung.

Er sprang auf und versuchte, sich loszureißen und dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Schmerz schoss durch seinen Körper.

Der kleine Schakal sank auf die Erde, schnaufte schwer, schnaufte und schnaufte.

Dann öffnete er das Maul und begann zu schreien. Sein Schreien und Heulen erfüllte die Nacht bis in die Tiefen der Ebene.

5.

In dieser Dämmerstunde besteht unsere Welt aus ineinandergeschobenen Kreisen. Außen befindet sich der Kreis der allgemeinen Dunkelheit, weit entfernt von hier, in den Bergen und den großen Wüsten. Von ihm umgeben und in ihn eingebettet ist der Kreis unserer nächtlichen Felder, der nächtlichen Weinberge, Orangenhaine und Obstgärten. Ein trübes Meer aus Flüstern und Schweigen. Unsere Felder täuschen uns in der Nacht. Jetzt sind sie nicht mehr vertraut und gehorsam, durchzogen von Bewässerungsschläuchen und Feldwegen. Jetzt sind sie ins Feindeslager übergetreten. Und schicken uns Wogen fremder Gerüche. Vor unseren Augen erheben sich nachts, drohend und feindselig, die Felder und kehren wieder in den Zustand zurück, in dem sie sich vor unserer Ankunft befanden.

Der mittlere Kreis, der Kreis der Lichter, schützt unsere Häuser und uns selbst vor zunehmender Bedrohung von außen. Aber das ist eine durchlässige Wand, sie hält nicht die nächtlichen, seltsamen Gerüche des Feindes und seine Stimmen ab. Alle nächtlichen Stimmen und Geräusche berühren unsere Haut wie Zähne und Klauen.

Und ganz im Inneren, im innersten Kreis der Kreise, im Herzen unserer beleuchteten Welt, steht Saschkes Schreibtisch. Die Tischlampe wirft einen ruhigen hellen Kreis aus Licht, der die Schatten von den Papierstapeln vertreibt. Der Stift tanzt in seiner Hand, und die Worte sprudeln hervor. »Es gibt kein Standhalten, das tapferer zu nennen ist, als das Standhalten weniger gegenüber vielen«, pflegt Saschke zu sagen.

Der Blick seiner Tochter ruhte lange und neugierig auf Matitjahu Demkows Gesicht. Du bist hässlich, du bist keiner von uns. Und es ist gut, dass du kinderlos bist und dass sich diese dummen mongoloiden Augen eines Tages schließen und du stirbst. Und keiner wie du wird zurückbleiben. Ich wäre jetzt gern woanders, doch vorher möchte ich wissen, was du von mir willst und warum du gesagt hast, ich solle kommen. Es ist so stickig in deinem Zimmer, es riecht nach altem Junggesellen, wie nach zu oft erhitztem Öl.

»Man kann sich auch setzen«, sagte Matitjahu aus dem Schatten heraus. Die schäbige Stille, die den Raum füllte, machte seine Stimme, die von weit her zu kommen schien, tiefer.

»Ich hab’s ein bisschen eilig.«

»Es gibt auch Kaffee. Echten. Aus Brasilien. Den Kaffee hat mir ebenfalls mein Cousin Leon geschickt, er denkt, ein Kibbuz ist eine Art Kolchose. Eine Arbeitslager-Kolchose. In Russland heißen die Kollektive Kolchosen.«

»Für mich bitte schwarz, ohne Zucker«, sagte Galila, und diese Worte überraschten sie selbst.

Was hat dieser hässliche Mann vor? Was will er von mir?

»Du hast gesagt, du willst mir irgendwelche Leinwände zeigen. Und irgendwelche Farben, nicht wahr?«

»Immer mit der Ruhe.«

»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du dir die Mühe machst, Kaffee anzubieten und Kekse, ich habe gedacht, ich werde nur kurz vorbeischauen.«

»Du bist hell.« Er atmete schwer. »Du bist hell, aber ich irre mich nicht. Es gibt einen Zweifel. Muss einen geben. Aber so ist es. Das heißt, du wirst deinen Kaffee trinken, schön langsam, und ich werde dir eine Zigarette geben, eine Virginia aus Amerika, und inzwischen schaust du dir diese Kiste an. Die Pinsel. Und das besondere Öl. Und die Leinwände. Alle Tuben. Alles ist für dich. Aber trink zuerst, ganz langsam, lass dir Zeit.«

»Aber ich verstehe nicht«, sagte Galila.

Ein Mann, der im Sommer im Unterhemd in seinem Zimmer umherläuft, ist kein befremdlicher Anblick. Aber der affenähnliche Körper Matitjahus wühlte sie auf. Und dann geriet sie in Panik. Sie stellte die Kaffeetasse auf das Kupfertablett, sprang auf, trat hinter den Stuhl und hielt sich an der Lehne fest, als wäre sie eine schützende Sperre.

Ihre offensichtlich ängstliche Bewegung bereitete dem Gastgeber Vergnügen. Er sprach geduldig, fast spöttisch:

»Genau wie deine Mutter. Bei Gelegenheit muss ich dir etwas erzählen, etwas, das du bestimmt nicht weißt, etwas über die Wildheit deiner Mutter.«

Jetzt, angesichts der Gefahr, kam in Galila Kälte und Bosheit hoch:

»Du bist verrückt, Matitjahu Demkow. Alle sagen, dass du verrückt bist.« Ihr Gesicht zeigte eine milde Strenge, geheimnisvoll und mitleidig. »Du gehst jetzt zur Seite und lässt mich vorbei. Ich möchte weg. Ja. Jetzt. Geh zur Seite.«

Der Mann rückte etwas seitwärts, ließ sie aber nicht aus den Augen. Plötzlich machte er einen Satz auf sein Bett, setzte sich, lehnte den Rücken halb an die Wand und lachte lange und fröhlich.

»Langsam, meine Tochter, warum hast du es so eilig?«, sagte er. »Langsam. Wir haben erst angefangen. Geduld. Du darfst dich nicht so schnell aufregen. Du darfst deine Kräfte nicht sinnlos vergeuden.«

Galila überschlug rasch die beiden Möglichkeiten, die sichere und die aufregende, und sagte:

»Sag mir bitte, was du überhaupt von mir willst.«

»Eigentlich«, sagte Matitjahu Demkow, »eigentlich kocht der Kessel schon. Machen wir doch eine Pause und trinken noch einen Kaffee. Du wirst nicht bestreiten, bestimmt wirst du nicht bestreiten, dass du noch nie einen solchen Kaffee getrunken hast.«

»Für mich ohne Milch und ohne Zucker. Das habe ich dir ja schon gesagt.«

6.

Der Kaffeeduft vertrieb alle anderen Gerüche: Es war ein starker, scharfer, angenehmer, fast durchdringender Geruch. Galila bemerkte Matitjahu Demkows gute Manieren, sah die Muskeln, die sich unter seinem Netzhemd abzeichneten, sah seine absonderliche Hässlichkeit. Und als er erneut zu sprechen anfing, umklammerte sie mit beiden Händen die Tasse, und etwas wie eine vorübergehende Ruhe kehrte in sie ein.

»Wenn du willst, kann ich dir inzwischen etwas erzählen. Über Pferde. Über das Gehöft, das wir in Bulgarien hatten. Ungefähr siebenundfünfzig Kilometer von der Hafenstadt Varna entfernt, ein Gestüt zur Pferdezucht, es gehörte meinem Cousin Leon und mir. Zwei Geschäftszweige pflegten wir besonders: Arbeitspferde und Zuchtpferde. Das heißt Kastrieren und Decken. Was willst du zuerst hören?«

Galila beruhigte sich. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schlug ein Bein über das andere und war bereit für die Geschichte, so wie sie unmittelbar vor der Gute-Nacht-Geschichte im Kinderhaus immer bereit gewesen war für die Erzählung.

»Ich erinnere mich«, sagte sie, »als wir klein waren, haben wir immer zugeschaut, wie du die Pferde beschlagen hast. Das war schön und sonderbar… auch du.«

»Eine gelungene Paarung vorzubereiten«, sagte Matitjahu und schob ihr einen Untersetzer mit salzigen Keksen zu, »das ist eine Aufgabe für Profis. Verlangt auf der einen Seite Wissen, auf der anderen auch Intuition. Erst muss der Hengst lange abgesondert werden. Damit er verrückt wird. Das verbessert seinen Samen. Man hält ihn ein paar Monate von den Stuten fern und von den anderen Hengsten. Vor lauter Lust könnte er auch über einen anderen Hengst herfallen. Nicht jeder Hengst ist zur Zucht geeignet. Vielleicht einer von hundert. Ein Zuchthengst auf hundert Arbeitspferde. Man braucht viel Erfahrung und ein gutes Auge, um das richtige Pferd auszuwählen. Ein dummes und wildes Pferd ist am besten geeignet. Aber das ist nicht so leicht herauszufinden, welches Pferd das dümmste ist.«

»Warum muss es dumm sein«, fragte Galila und schluckte Speichel hinunter.

»Es ist so etwas wie Verrücktheit. Nicht immer macht ein großer, schöner Hengst kräftige Fohlen. Ausgerechnet ein mittelmäßiger Hengst kann voller Energie und Nervosität sein. Wenn wir einen solchen Kandidaten monatelang allein gehalten haben, kippen wir ihm eine halbe Flasche Wein in seinen Trog. Das war eine Idee meines Cousins Leon. Um den Hengst ein wenig besoffen zu machen. Dann lassen wir ihn durch ein Gitter die Stuten sehen und auch riechen. Und da fängt er an, verrückt zu werden. Wird wild wie ein Stier. Wirft sich auf den Rücken, die Beine trampeln in der Luft. Er reibt sich an allem, kann aber seinen Samen nicht verspritzen. Brüllt und beginnt, nach allen Seiten zu beißen. Das ist das Zeichen dafür, dass die Zeit reif ist. Wir öffnen das Tor und lassen ihn zur Stute rasen. Und ausgerechnet in diesem Moment hält der Hengst inne, zitternd und schnaubend. Wie eine Sprungfeder.«

Galila zuckte leicht, wie hypnotisiert hing ihr Blick an Matitjahus Lippen.

»Ja«, sagte sie.

»Und dann passiert es. Als wäre in diesem Moment die Schwerkraft außer Kraft gesetzt. Der Hengst rennt nicht, sondern scheint durch die Luft zu fliegen. Wie eine Granate. Wie eine Feder, die zerspringt. Die Stute beugt sich, senkt den Kopf, und er versetzt ihr einen Stoß nach dem anderen. Seine Augen sind blutunterlaufen. Die Luft geht ihm aus, er beginnt zu röcheln wie ein Sterbender. Er reißt das Maul auf, Schaum fällt auf ihren Kopf. Plötzlich fängt er an zu beißen und zu jaulen. Wie ein Hund. Wie ein Wolf. Krümmt sich und brüllt. In diesem Moment gibt es keinen Unterschied zwischen Genuss und Schmerz. Das Decken ist genau wie das Kastrieren.«

»Genug, Matitjahu, echt, es reicht.«

»Jetzt machen wir eine Pause. Oder soll ich dir noch erzählen, wie wir einen Hengst kastriert haben?«

»Ehrlich, es reicht«, sagte Galila flehend.

Langsam hob Matitjahu Demkow die Hand, an der die drei Finger fehlten. In seiner Stimme lag ein sonderbares, fast väterliches Erbarmen.

»Wie deine Mutter«, sagte er, »wie bei den Fingern und wie beim Kastrieren. Wir werden ein andermal darüber sprechen, jetzt ist es genug. Hab keine Angst, jetzt können wir uns beruhigen und eine Pause einlegen. Ich habe irgendwo noch Kognak. Nein? Nein. Vielleicht Wermut. Ich habe auch Wermut. Er soll gesund sein, von meinem Cousin Leon. Trink, ruh dich aus. Es reicht.«

7.

Das kalte Licht der fernen Sterne verbreitete einen rötlichen Schimmer auf den Feldern. Im Lauf der letzten Sommerwochen, der Wochen des Chamsin, hatte sich das Land verändert. Es war bereit für die Wintersaat. Feldwege schlängelten sich über die Ebene, da und dort erstreckten sich von Zypressen umhegte Obstgärten.

Zum ersten Mal seit vielen Monaten bekamen unsere Felder die noch zögerlichen Finger der Kälte zu spüren. Die Bewässerungsrohre, die Wasserhähne und die metallenen Ersatzteile waren stets die Ersten, die sich jedwedem Eroberer ergaben, der glühenden Sommerhitze wie der herbstlichen Kälte. Auch jetzt waren sie die Ersten, die vor der feuchten Kälte kapitulierten.

Damals, vor vierzig Jahren, hatten sich die Kibbuz-Gründer in diesem Land festgesetzt und es mit ihren blassen Fingern umgegraben. Unter ihnen waren blondhaarige wie Saschke und missmutige wie Tanja. In den langen, glühend heißen Stunden des Tages verfluchten sie die steinige, von der Sonne verbrannte Erde, verzweifelt, zornig, voller Sehnsucht nach Flüssen und Wäldern. Aber in der Dunkelheit, wenn die Nacht herabsank, besangen sie die Erde und vergaßen darüber Ort wie Zeit. Das Vergessen war der Sinn ihres nächtlichen Tuns. In der bedrohlichen Dunkelheit umgab sie das Vergessen wie ein mütterlicher Schoß, und sie sangen »Dort« und nicht »Hier«.

Dort, im Land der Väter,

werden sich alle Träume verwirklichen,

dort werden wir leben, dort werden wir schaffen,

ein reines Leben, ein Leben in Freiheit.

Menschen wie Saschke und Tanja versteckten sich hinter ihrem Zorn, ihrer Sehnsucht und Aufopferung. Matitjahu Demkow und die anderen später angekommenen Flüchtlinge hatten keine Ader für jene brennende Sehnsucht und jene Aufopferung, die einen die Zähne auf die Lippen beißen ließ, bis sie bluteten. Deshalb wollten sie mit Gewalt in den inneren Kreis eindringen. Sie streckten die Hände nach den Frauen aus. Sie verwendeten die gleichen Wörter. Aber ihre Traurigkeit war eine andere, sie gehörten nicht zu uns, denn sie waren später ins Land gekommen, sie waren außen vor, und so soll es bis zu ihrem letzten Tag auch bleiben.

Der gefangene junge Schakal wurde müde. Seine rechte Pfote steckte in den eisernen Fängen. Ergeben streckte er sich auf dem Boden aus.

Zuerst leckte er sein Fell, langsam, wie eine Katze. Dann machte er den Hals lang und begann, das glatte, glänzende Metall zu lecken. Als übergösse er es mit Wärme und Liebe. Liebe und Hass, beides führt zu Unterwerfung. Er schob seine freie Pfote unter die Falle, tastete langsam nach dem Köderfleisch, zog die Pfote vorsichtig wieder zurück und leckte den Geruch ab, der an ihr hängen geblieben war.

Schließlich erschienen auch die anderen.

Große Schakale mit struppigem, schmutzigem Fell und aufgeblähten Bäuchen. Manche mit eitrigen Stellen und manche, die nach verfaultem Aas stanken. Einer nach dem anderen kamen sie von allen Seiten aus ihren Verstecken, versammelten sich zur grausigen Zeremonie.

Sie bildeten einen Kreis und betrachteten mit falschem Erbarmen den zarten Gefangenen. Die Schadenfreude machte es schwer, Erbarmen zu zeigen. Wachsende Bosheit zitterte unter der Maske der Trauer. Auf ein geheimes Zeichen hin bewegten sich die Raubtiere vorwärts, im Kreis, wie tanzend, mit weichen, gleitenden Schritten. Als die Fröhlichkeit überhandnahm und zum Toben wurde, zerbrach der Rhythmus, platzte die Zeremonie, und die Schakale sprangen wie tollwütig herum. Da stiegen die verzweifelten Stimmen hinauf ins Herz der Nacht, Trauer, Geilheit, Neid und Toben, das Gelächter der Schakale und ihr flehendes Heulen klangen bedrohlich und steigerten sich zu einem Schrei der Angst, dann ebbte der Lärm wieder ab, wurde zur Klage, und Stille kehrte ein.

Nach Mitternacht hörten sie auf. Vielleicht aus Verzweiflung um ihren verlorenen Sohn. Heimlich gingen sie in alle Richtungen fort, zurück zu ihrem eigenen Leid. Die Nacht, die geduldige Sammlerin, nahm sie alle auf und verwischte die Spuren.

8.

Matitjahu Demkow genoss die Pause. Auch Galila versuchte nicht zu drängen, es war Nacht, das Mädchen rollte die Leinwände zusammen, die Matitjahu Demkow von seinem Cousin Leon bekommen hatte, und prüfte die Farbtuben. Es waren großartige Produkte, echter Künstlerbedarf. Sie hatte bis dahin nur auf gefettetem Sackleinen gemalt, oder auf billigen Stoffen, und die Farben hatte sie aus dem Kindergarten bekommen. Sie ist klein, dachte Matitjahu Demkow, sie ist ein kleines Mädchen, dünn und verwöhnt. Ich könnte sie zerbrechen. Ganz langsam. Er hatte Lust, es ihr unvermittelt zu sagen, heftig, wie mit einem Hammerschlag, beherrschte sich aber. Die Nacht knisterte. Gedankenverloren, freudig und hingebungsvoll strich Galila plötzlich mit den Fingern über den dünnen Pinsel, tippte mit ihm ganz kurz in die orange Farbe, streichelte mit den Pinselhaaren leicht die Leinwand, wie eine unbewusste Liebkosung, wie Fingerspitzen auf den Nackenhaaren. Die Unschuld, die Arglosigkeit übertrug sich von ihrem Körper auf seinen, sein Körper reagierte mit Wellen des Verlangens.

Danach lag Galila bewegungslos, wie schlafend, auf den mit Farben und Öl befleckten Fliesen, um sie herum verstreut die Leinwände und Farbtuben. Matitjahu lehnte sich zurück auf sein Junggesellenbett, schloss die Augen und beschwor seine Phantasien.

Wenn er sie beschwört, stellen sie sich meistens sofort ein, seine geheimen und auch seine wilden Phantasien. Sie kommen zu ihm und präsentieren sich. Diesmal wählte er die Flutphantasie aus, eine der schwersten in seinem Repertoire.

Am Anfang sieht man unzählige Schluchten, die an Bergflanken herabstürzen, und eine große Zahl fließender Gewässer, mäandernd und einander kreuzend. Mit einem Mal taucht an den Hängen ein Gewimmel kleiner Menschen auf. Wie winzige schwarze Ameisen schwärmen sie, pressen sich aus ihren in den Felsspalten verborgenen Höhlen heraus und ergießen sich abwärts wie ein Wasserfall. Horden von schwarzen, mageren Menschen strömen die Hänge herab, rollen wie reißende Steinlawinen ins Tal. Dort teilen sie sich in Tausende Kolonnen auf, rasen in wilder Flut Richtung Westen. Jetzt sind sie schon so nah, dass man ihre Form erkennen kann: eine ekelhafte, dunkle, abgezehrte Menge, voller Läuse und Flöhe, stinkend. Hunger und Hass entstellen ihre Gesichter. In ihren Augen glüht der Wahnsinn. Sie überschwemmen die fruchtbaren Täler, überrennen unaufhaltbar die Ruinen der verlassenen Dörfer. In ihrem Sog Richtung Meer reißen sie alles mit sich, was ihnen im Weg steht, entfernen Pfähle, überfluten Felder, zerbrechen Zäune, zerstören Gärten, räumen die Obstplantagen ab, plündern die Höfe, kriechen durch Schuppen und Speisekammern, krabbeln wie verrückte Affen die Wände hoch, immer weiter, westwärts, bis zum Meer.

Und plötzlich bist auch du umzingelt. Belagert. Stehst du wie versteinert da. Aus der Nähe erkennst du erst den Hass, der in ihren Augen lodert, die Münder sind weit aufgerissen, sie atmen schwer, ihre Zähne sind gelb und faul, und in ihren Händen blitzen gebogene Messer. Sie verfluchen dich in abgehacktem Ton, mit unterdrücktem Zorn oder mit dunklem Begehren. Schon greifen ihre Hände nach deinem Fleisch, schon sind da Messer und Schrei. Mit letzter Kraft löschst du diese Phantasie und atmest fast erleichtert auf.

»Auf geht’s«, sagte Matitjahu Demkow. Seine rechte Hand packte das Mädchen, die linke, an der die drei Finger fehlen, streichelte ihren Nacken. »Auf geht’s, lass uns von hier abhauen. In dieser Nacht noch. An diesem Morgen. Ich werde dich retten. Wir fliehen zusammen nach Südamerika. Zu meinem Cousin Leon. Ich sorge für dich, ich werde immer für dich sorgen.«

»Lass mich, rühr mich ja nicht an«, sagte sie.

Er zog sie schweigend in seine Arme.

»Mein Vater wird dich morgen umbringen. Lass mich, habe ich gesagt.«

»Dein Vater sorgt jetzt für dich und wird immer für dich sorgen«, antwortete Matitjahu Demkow ruhig. Er ließ sie los. Das Mädchen stand auf, strich sich den Rock glatt, fuhr sich durch die hellen Haare.

»Ich möchte das nicht. Ich wollte überhaupt nicht zu dir kommen. Du hast mich gezwungen und du tust mir Dinge an, die ich nicht will, und du sagst alles Mögliche, weil du verrückt bist, und alle wissen, dass du verrückt bist, da kannst du fragen, wen du willst.«

Matitjahu Demkow verzog die Lippen, als würde er lächeln.

»Ich werde nie mehr zu dir kommen. Und ich will deine Farben nicht. Du bist gefährlich. Du bist hässlich wie ein Affe. Und du bist verrückt.«

»Ich kann dir etwas über deine Mutter erzählen, wenn du es hören willst. Und wenn du jemanden hassen und verfluchen willst, solltest du sie hassen und verfluchen, nicht mich.«

Das Mädchen drehte sich schnell zum Fenster, riss es mit einer verzweifelten Bewegung auf und streckte den Kopf hinaus in die leere Nacht. Sie wird jetzt schreien, dachte Matitjahu Demkow erschrocken, sie wird jetzt schreien, und ich werde keine zweite Chance bekommen. Das Blut schoss in seine Augen. Er rannte zu ihr, hielt ihr den Mund zu, zog sie ins Zimmer, grub seine Lippen in ihre Haare, seine Lippen suchten ihr Ohr, fanden es, und er erzählte.

9.

Wellen kalter, herbstlicher Luft schmiegten sich an die Hauswände und suchten einen Weg ins Innere. Von dem Hof am Hügelabhang drangen Viehgebrüll und Flüche. Vielleicht fand bei einer Kuh eine schwere Geburt statt, und die große Taschenlampe warf Licht auf Blut und Schleim. Matitjahu Demkow kniete auf dem Fußboden seines Zimmers und sammelte die Malutensilien auf, die seine Besucherin verstreut hatte. Galila stand wieder am offenen Fenster, mit dem Rücken zum Raum und dem Gesicht zur Dunkelheit. Dann sprach sie, noch immer mit dem Rücken zu dem Mann:

»Das ist höchst zweifelhaft«, sagte sie, »das kann kaum sein, es ist auch nicht logisch, das kann man nicht beweisen und es ist verrückt. Vollkommen verrückt.«

Matitjahu Demkow starrte mit seinen mongolischen Augen auf ihren Rücken. Jetzt war seine Hässlichkeit vollkommen, eine komprimierte Hässlichkeit, durchdringend.

»Ich zwinge dich zu nichts. Bitte. Ich werde schweigen. Vielleicht werde ich heimlich in mich hineinlachen. Von mir aus kannst du Saschkes Tochter sein, sogar die von Ben-Gurion. Ich schweige. Ich schweige wie mein Cousin Leon, er liebte heimlich den christlichen Sohn, den er hatte und zu dem er nie ich liebe dich sagte, erst, nachdem dieser Sohn elf Polizisten und sich selbst umgebracht hatte, sagte er an seinem Grab zu ihm ich liebe dich. Bitte.«

Plötzlich, ohne Ankündigung, brach Galila in Lachen aus.

»Du Dummkopf, schau mich doch an, ich bin blond.«

Matitjahu schwieg.

»Ich bin nicht von dir, ich bin sicher, dass ich nicht so blond wäre, ich bin weder von dir noch von Leon, ich bin blond und wir dürfen es! Komm!«

Der Mann machte einen Satz hin zu ihr, schnaufte, stöhnte, suchte blind seinen Weg, stieß den Kaffeetisch um, zitterte, und das Mädchen zitterte mit ihm.

Dann wich sie vor ihm zurück an die Wand. Er schob den umgekippten Tisch zur Seite. Trat nach ihm. Die Augen blutunterlaufen, ein Röcheln drang aus seiner Kehle, und sie erinnerte sich plötzlich an das Gesicht ihrer Mutter und an ihre zitternden Lippen und ihr Weinen, und sie stieß den Mann wie träumend von sich. Als Geschlagene gingen sie auseinander, mit weit aufgerissenen Augen.

»Vater«, sagte Galila erstaunt, als würde sie am ersten Wintermorgen am Ende eines langen Sommers aufwachen, aus dem Fenster schauen und »Regen« sagen.

10.

Der Sonnenaufgang hat bei uns nichts Edles. Aus billiger Sentimentalität steigt die Sonne über die Berggipfel im Osten und berührt unsere Erde mit tastenden Strahlen. Ohne Glanz und ohne komplizierte Lichtspiele. Nur gewöhnliche Schönheit, wie auf einer Ansichtskarte, nicht wie eine wirkliche Landschaft.

Doch das ist bestimmt einer der letzten Sonnenaufgänge. Der Herbst kommt schnell. In wenigen Tagen werden wir am Morgen aufwachen, und es wird regnen. Vielleicht auch hageln. Der Sonnenaufgang wird hinter einer Leinwand aus grauen Wolken stattfinden. Frühaufsteher werden sich in ihre Mäntel wickeln, hinausgehen und vor dem schneidenden Wind erstarren.

Die Jahreswechsel sind banal. Herbst, Winter, Frühling, Sommer, Herbst. Es hat sie schon immer gegeben. Wer den Lauf der Zeit und der Jahreszeiten aufhalten will, sollte auf die nächtlichen Geräusche hören, die sich nie ändern. Diese Geräusche erreichen uns von dort draußen.

(1963)