Curtis
Dawkins

Alle
meine
Freunde
haben
wen
umgebracht

Stories

Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer

Suhrkamp

Für meine Leute in Portland –Kim, Henry, Elijah und Lily Rose

Cold bloodflowing through the veins ofme and all my friends.Still lovecan be pumped out of our hearts.This start might be the end.

The Dears

Inhalt

County Jail

Eine menschliche Nummer

Sunshine

Nachmittagsserien

Der Junge, der zu viel träumte

573543

Im Aufenthaltsraum mit Stinky

Schwäne

Die Welt da draußen

Sechs Bilder eines Feuers am Abend

Depakote Mo

Bruder Gans

In Flammen

Leche Quemada

Danksagungen

County Jail

Italian Tom war Saucier gewesen, bevor ihn ein Cadillac mit hundert Sachen erwischte und ihm die Rezepte aus dem Schädel haute. Eine blasse Linie wie eine alte, glatte Schweißnaht zog sich quer über seine Stirn, gespickt mit den dunklen Punkten der Nahtstiche. Er war noch keine fünf Minuten bei uns in der Zelle, als er sich schon mit den Fingerknöcheln an die Narbe klopfte, was sich blechern anhörte, als würde er eine offene Coladose anschnippen. »Komm, probier du auch mal«, sagte er und kam einen Schritt näher.

»Hab’s schon gehört. Ich glaub dir ja«, erwiderte ich von meiner Matte auf dem Boden. Tom sah sich in der Zelle nach einem anderen Interessenten um, aber Domino und Ricky Brown schliefen beide.

Eigentlich liegt mir Smalltalk nicht so, aber in den letzten beiden Monaten im County Jail ist mir klargeworden, dass ich sonst nichts Besseres zu tun habe. Wenn mich also jemand ansprach, ließ ich mich darauf ein. Zumindest, bis er mich langweilte oder mir die Lügen zu viel wurden oder The Price Is Right lief. Es war erst zehn Uhr früh, darum fragte ich: »Wie lange ist das her?«

»Gut fünfzehn Jahre.« Tom saß auf der Bank unseres Stahlpicknicktisches und dachte nach. »Und der Witz ist, ich war nur den einen Tag in Cadillac. Meine Schwester wollte unbedingt, dass ich mal hochkomme und ihren neuen Mann kennenlerne.«

Der Fernseher war noch nicht an, und Tom schaute durch die Stäbe den kalten, schwarzen Bildschirm an, den wir uns mit der Nachbarzelle teilten. Ich freute mich schon auf Bob Barker und Rod Roddys Stimme, die die Leute aus dem Publikum runterrief. Eine Stunde am Tag konnte ich in einer Welt voller Licht und Farbe leben, voller Jubel und lächelnder Frauen, deren anmutige Gesten die präsentierten Produkte nie ganz berührten. Und voller Hoffnung. Die Hoffnung auf einen guten Ausgang bannte mich. »Moment«, unterbrach ich. »Du bist in Cadillac von einem Cadillac angefahren worden?«

»Kranke Sache, oder?«, sagte Tom. Er wandte sich vom Fernseher ab, und ich konnte seine anderen Narben sehen, manche davon selbst zugefügt, wie die, die senkrecht durch die Augenbrauen liefen, und die winzigen Kerben am Rand der rechten Ohrmuschel. »Ich geh nur eben über die Straße, eine Flasche Gin und eine Packung Kippen kaufen, und wumm! Tempo hundert, wo vierzig erlaubt sind. Bin zwanzig Meter weit geflogen, und einen Schuh hat’s mir ausgezogen.«

»Wie soll das denn gehen?«, fragte ich. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass einem so was die Schuhe auszieht. Und bei dir ist es ja noch komischer, weil es nur einer war.«

»Es gab Zeugen«, erwiderte Tom. »So konnte der Bulle ja feststellen, wie schnell das Auto unterwegs war.«

»Welches physikalische Gesetz bestimmt denn, ob man den Schuh verliert oder nicht?«

Und wie wahrscheinlich ist es überhaupt, dass man in einer Stadt namens Cadillac von einem Cadillac angefahren wird?, fragte ich mich. Bedeutete das, dass alles etwas bedeutet? Selbst, wenn es eine Lüge ist? Und wer bestimmt die Bedeutung? Der Lügner? Der Belogene? Und was zum Teufel konnte das alles bloß heißen?

Ricky Brown wachte auf. Er hatte sich totgestellt. Das ist im Knast eine Kunstform für sich, vor allem, wenn ein Neuer reinkommt, und ganz besonders, wenn er will, dass man ihm an den Schädel klopft.

»Ich sag dir, was das bedeutet«, meldete Ricky sich aus seinem Bett. Er hatte das unheimliche Talent, die Fragen zu beantworten, die mir gerade durch den Kopf gingen, als hörten wir beide dem gleichen Telefongespräch zu, nur dass er eine bessere Verbindung hatte. »Es bedeutet, hau kein Vermögen für Tennisschuhe raus! Und außerdem: Das Leben ist eine große, schimmernde Maschine von General Motors, ein Märchen, erzählt von einem Narren, das einen Scheiß bedeutet.«

Ricky las viel – hauptsächlich Faulkner und Shakespeare –, also meinte er, so einiges zu wissen. Er war ein dürrer, rothaariger Kerl vom alten Schlag mit einem Tattoo eines Hofnarren auf dem linken Arm und einem grünen, ausgeblichenen Zauberer auf dem rechten. Innen auf den Handgelenken trug er die typischen Narbenkonstellationen eines Cracksüchtigen, exakt die Form einer heißen, im Ärmel versteckten Glaspfeife. Auch ohne seine Schienbeine gesehen zu haben, wusste ich, dass sie genauso vernarbt waren, von derselben Pfeife in seinen Socken.

»Genau, genau«, sagte Tom. »Märchen, erzählt von einem Narren. Bedeutet einen Scheiß. Weise Worte, Alter! Gefällt mir.«

Kalamazoo ist das uramerikanische Wort für »kochendes Wasser«. Es hieß, das County Jail sei auf einer mit Lehmboden verfüllten alten heißen Quelle gebaut worden und versinke deshalb langsam. Nach vierunddreißig Jahren war die Vorstellung, die indianische Erde würde sich das Gefängnis zurückholen, nichts mehr als eine Gutenachtgeschichte, aber das hieß nicht, dass nicht alle darüber redeten, wenn der Fernseher wieder aus war. Die Fantasie war stärker als die Realität. Manchmal wachte ich aus einem Traum auf, in dem ein Geisterhäuptling die Rache für sein Land herausbrüllte, das Gebäude entzweischlug und wir alle hervorsprangen und auf Wildpferden davongaloppierten, während das Gefängnis vom Boden verschlungen wurde.

Wir saßen im A North Wing, wo das Licht niemals ausging. A North war der Suizidgefährdetenflügel, und auch wenn nur wenige von uns tatsächlich versucht hatten, sich umzubringen, machten sich die da oben doch um jeden von uns irgendwelche Gedanken. Ich war zum ersten Mal im Gefängnis und würde lange dort bleiben, also strahlte mich das County zu jeder Tageszeit mit seinem Hochleistungs-Sorgenlicht an.

Außerdem kamen alle sieben Minuten draußen die Wärter vorbei wie der stete Schwenk eines Leuchtturmstrahls. Sie traten an die Gitterstäbe, schauten rein, und wenn sich ihnen kein Bild des Schreckens bot, gingen sie wortlos weiter. Manchmal fragte ich sie nach dem Wetter, und manchmal antworteten sie, und es tat gut zu wissen, dass es die Welt da draußen noch gab. Aber normalerweise erregte man nur die Aufmerksamkeit eines Wärters, wenn man starb oder auf den Notfallknopf über dem Telefon mit dem Hinweis NUR FÜR NOTFÄLLE in roter Schablonenschrift drückte.

In A North gab es acht Zellen – die eine Hälfte mit vier Plätzen, die andere mit sechs. Aber das Gefängnis war immer überfüllt, also saßen in jeder einzelnen meistens ein, zwei Mann zu viel. Ich war der fünfte Mann in Zelle sieben gewesen, also hatte ich eine Matte auf dem Boden in der dunklen Ecke neben der Tür genommen. Die Zellengenossen kamen und gingen, und ich hätte längst eins der Betten an der westlichen Wand beanspruchen können, aber als ich kein Methadon mehr bekam, spendete mir die Dunkelheit der Ecke Trost. Ich lag da, schwitzte und zitterte, prägte mir den dreiundzwanzigsten Psalm ein und sagte ihn mir auf, Minute für Minute, Stunde für Stunde.

Doch jeden Morgen unter der Woche hatte ich Bob Barker. Die Spiele, die neuen Autos, das Rad, die Produktvorstellungen. Manchmal bekam ich feuchte Augen, wenn jemand aus dem Publikum auf dem Weg zum Kandidatenpult jede Hand aus der Menge abklatschte. Sie waren alle so ehrlich glücklich über ihre Chance, und wenn sie den hell angestrahlten Bob auf der Bühne vor sich sahen, spürten sie sicher, dass ein besseres Leben zum Greifen nah war. Ihre sehnlichsten Wünsche waren erreichbar – und nicht erst in irgendeiner fernen Zukunft, sondern sofort oder wenigstens innerhalb der nächsten Stunde. Aber Bob Barker und ein kreischendes Studiopublikum können als Gesellschaft nur bedingt herhalten, also war ich wohl bereit, als Italian Tom bei uns in A North 7 reinkam.

Tom erzählte nun nicht mehr bloß von dem Unfall, sondern spielte ihn in Zeitlupe nach wie eine Marionette, deren Gelenke mit Bolzen zusammengehalten werden. Er erklärte, die meisten seiner Knochen und Gelenke bestünden aus Metall und er könne sich erst locker bewegen, wenn er ein paar Stunden auf den Beinen sei, noch länger, wenn es kalt war. »Ich bin immer noch ein bisschen steif«, sagte er, als er sein Hemd auszog. Es war Januar und erst halb elf.

Toms Oberkörper war grün vor Tattoos. Schon nach zwei Monaten im Knast konnte ich die Tattoos erkennen, die drinnen gestochen worden waren – sie waren grün oder grau und hatten nicht die scharfen Konturen einer professionellen Nadel. Im Gefängnis nehmen die Tätowierer, was sie eben kriegen können, meistens eine angespitzte Gitarrensaite an einem Walkman-Motor. Die Tinte wird aus Ruß und Spucke, manchmal auch Urin, hergestellt, und die noch so brillanten, präzisen Entwürfe sehen auf der Haut nur noch stumpf und verwaschen aus. Tätowieren im Knast ist wie der Versuch, feine Näharbeiten mit der Stricknadel auszuführen. Es ist ein Musterbeispiel vom Einfallsreichtum im Knast – wie viel man mit beschränkten Mitteln schaffen kann.

Toms Brust sah aus wie ein Skizzenblock – zwei Oldtimer, ein Löwe, Micky Maus, Gitterstäbe, durch die Tränen tropfen, ein grünes Etwas, das vielleicht die Erde darstellte oder ein Schiff oder einen Basketball oder den Mond, und das Ganzfigurenportrait einer Frau, die Tom später Karen nannte.

Karen war kein Knasttattoo. Sie fing über seinem Herzen an und war klar umrissen, scharf und hatte volle, rote Lippen. Ihr rechtes Auge zwinkerte, aber die linke Iris schimmerte unter langen Wimpern hellgrün durch. Ihre Haare wehten scheinbar im Wind hoch zu Toms linker Schulter und seinem Hals und endeten in zarten Strähnen auf seinem Schlüsselbein. Sie war natürlich nackt, hatte große Brüste und breite Hüften, mit denen sie rittlings auf seinem Brustbein saß. Tom hatte eine haarige Italienerbrust, die er überall blankrasierte bis auf Karens Schambereich, wo ein sorgfältig getrimmtes Haardreieck stand.

The Price Is Right kam und ging, aber ich schaute nicht richtig zu. Ich beobachtete das Tattoo von Karen und wollte ihre olivfarbene Haut berühren. Es war peinlich, eine Männerbrust anzustarren und mir dabei Wärme und Nähe vorzustellen, aber ihr hellgrünes Auge und ihre langen, gewellten Haare sprachen mich an, als wären sie durch die Jahre seit ihrer Vollendung zu mir gekommen, um mir einen Augenblick Frieden und Verbindung mit der Menschheit zu spenden.

Die Zellentür ging auf, und wir waren wieder zu sechst. Herein kam ein recht hellhäutiger Schwarzer mit unförmigem Afro und räudigem Bart. Trotz frischem, orangefarbenem Kalamazoo-County-Jail-Overall stank er nach Alkohol. »Is nich okay! Is nich okay!«, sagte er. »Hab keinem was getan, und die Bullen tasern mich einfach um. Is nich okay!« Er knöpfte den Overall halb auf und rieb sich die beiden schlangenbissartigen geschwollenen Einstiche, wo die Tasernadeln ihn getroffen hatten. »Hunger hab ich auch, verdammt noch mal! Is nich okay!«

Er war so laut, dass Domino aufwachte. Er lief in der Zelle auf und ab und faselte weiter von seiner Taserwunde, bis er Tom und seine Narbe sah. »Mann, Alter! Was ist denn mit dir passiert? Haben sie dich angeschossen?«

»Mich hat ein Caddy mit Tempo hundert erwischt.«

»Du siehst ja aus wie Frankenstein, Mann. Du müsstest doch tot sein.«

»Ich bin auch gestorben – zweimal«, sagte Tom, »aber dann haben sie mich zurück ins Leben geschockt.« Er klopfte sich wieder gegen die Metallplatte in der Stirn. »Das ist alles Stahl.«

»Dann bist du ja echt Frankenstein!«, sagte der Neue, lief weiter auf und ab und beschwerte sich über seinen Hunger und die Polizeigewalt.

Toms Gesicht und seine Schultern sackten ab, als hätte sein Marionettenspieler einfach die Fäden losgelassen. Er schaute kurz den besoffenen Typen an und dann auf den Boden, und es war spannend, so einen großen Mann von etwas so Kleinem verletzt zu sehen. Aber hier drinnen macht man nicht einfach so jemanden und seine Geschichte runter, ob sie nun gelogen ist oder nicht. Außerdem hatte er Tom ein Monster genannt, und selbst Frankenstein hat Gefühle.

»Wenn du Hunger hast, kannst du hier ganz einfach was kriegen«, sagte Tom.

»Ja? Wie denn?«

»Drück den Knopf da oben an der Wand und bestell eine Pizza.«

Der andere ging in die Ecke. »Da steht: ›Nur für Notfälle!‹«

»Wenn Hunger kein Notfall ist, Alter, was denn dann?«

»Ja, stimmt!«, erwiderte er. »Was wollt ihr denn drauf? Ich geb euch was ab.« Er drückte den Knopf. »Mann, das gab’s im Kent County Jail nicht.«

Eine Frauenstimme kam durch die Sprechanlage: »Was gibt’s?«

»Ich hab Hunger, ich will eine Pizza bestellen.«

»Einen Augenblick«, sagte sie.

Der Kerl schaute uns aufgeregt an wie ein Möchtegerngroßkotz, der Geld verteilt, das ihm nicht gehört. »Mögt ihr Peperoni-Salami?«

Wir nickten alle auf unsere etwas unterschiedliche Art. Dann entriegelte sich das Schloss der schweren Stahltür, und fünf Wärter stapften direkt auf ihn zu.

»Okay, du Schlaumeier, jetzt kriegst du deine Pizza«, sagte ein Wärter mit Glatze und Schnauzbart. Der Neue bekam Handschellen angelegt und wurde aus der Zelle geschleift, bevor er auch nur verstanden hatte, was los war. Er sah verwirrt aus, als würde er immer noch erwarten, dass sie ihn fragten, was er denn drauf wollte.

Während der Seifenopern am Nachmittag stellten wir den Fernseher stumm, lasen, schrieben Briefe und schlugen die vier Stunden bis zum Abendessen tot.

Tom machte sein Bett, setzte sich dann an den Picknicktisch und zeichnete. Ich lag auf meiner Matratze in der Ecke und sah den stillen Seifenopernfiguren auf dem Bildschirm zu. In der Woche hatten sie eine Lösegeldgeschichte – eine verführerische Blondine war in einem Lagerhaus auf einen Stuhl gefesselt. Auch ohne die Worte, die die Figuren sprachen, war mir in dem Monat ein düsterer Kidnapping-Trend im Nachmittagsfernsehen aufgefallen.

Tom summte am Tisch vor sich hin, klopfte mit seinem Stift und zeichnete. Ich stand auf und setzte mich ihm gegenüber. Die Ränder der Seite, an der er gerade arbeitete, waren mit Rosenblüten, -dornen und -blättern verziert, und in der Mitte war anscheinend ein Gedicht oder ein Song aufgedruckt.

»Wollte mal sehen, woran du da arbeitest«, sagte ich.

»Das ist mein Knastjob.« Viele künstlerisch veranlagte Insassen verkauften den anderen Zeichnungen und Gedichte, die sie nach Hause schicken konnten.

»Aber weißt du was?«, sagte Tom. »Mein neues Projekt: schwuler Erotik-Rap. Nicht, dass ich selber schwul wäre oder so, aber ich kann es kaum erwarten, wieder ins State Prison zu kommen. Da mache ich ganz große Kasse damit. Das ist noch ein vollkommen unerschlossener Markt.«

»Wer ist eigentlich die Frau?«, fragte ich und deutete mit einem Nicken auf das Tattoo auf seiner Brust.

»Karen«, sagte er. »Karen Sharon. Sie war ganz früher mal mein Mädchen, vor Cadillac. Vor der Scheiße hatte ich einen ganzen Haufen Mädchen.«

Tom schaute sich das Blatt an und nickte zum Rhythmus seines Stiftgetrommels. Er zeichnete weiter, und ich starrte die kleinen Details an, aus denen Karen Sharon bestand: ihre roten Lippen, der lange, geschmeidige Hals, die angedeuteten Rippenlinien unter ihren Brüsten und die breiten, weichen Hüften. Dann kam das kleine Schamhaardreieck, ihre Knie, Waden und schließlich ihre schlanken Fesseln und zarten Füße. Die langen Haare, die sich um Toms Hals schlangen, wirkten aus der Nähe lockiger und nicht mehr wie ein Fluss. Mich überkam wieder der Drang, über den Tisch zu reichen und sie zu berühren. Sie wirkte so lebendig, als würde sie das offene Auge reflexhaft zukneifen, würde ich danach stechen.

Sie musste ziemlich oberflächlich gewesen sein, wenn sie ihn nach dem Unfall verlassen hatte. Aber wahrscheinlich war er auch kein Vorzeigefreund gewesen. Aber vielleicht war das nur Projektion. Wie wir alle unsere Zeit draußen verschwendet hatten, hatte auch er sein Leben und seine Beziehungen sicher als selbstverständlich betrachtet. Und jetzt war er ein Mann, der so schnell wie möglich wieder ins State Prison wollte, um auf dem Markt für Gay Rap das große Geld zu scheffeln.

Die Seifenoper – ich glaube, es war die mit der Riesensanduhr – ging zu Ende. Die entführte Frau in dem Lagerhaus würde jeden Moment umkommen, wenn ein Mechanismus aus einem Wecker, Benzin und Putzlumpen ein Feuer angezündet hatte. Die Szene blendete von einer Nahaufnahme des tickenden Weckers über auf ein attraktives Pärchen, das in einer Hotelbar mit Champagner anstieß. Dann kam der Abspann, und der Sand lief wieder durch die Uhr.

Als ich am nächsten Tag aufwachte, trommelte Tom wieder mit dem Stift einen Rhythmus und schaute gelegentlich zum Fernseher hoch, als suchte er nach Reimen für seinen Schwulenrap. Die Freiwilligen von der Kirche in der Nähe kamen mit dem quietschenden Bücherwagen vorbei. Ricky nahm sich ein uraltes Taschenbuch und las es in seinem Bett. Domino wachte kurz auf und versuchte, jemanden anzurufen.

Ich wartete den ganzen Morgen auf die Seifenoper. Und die Frau, die dem sicheren Tod ausgeliefert war, starb natürlich nicht. Das wusste ich vorher, klar, denn das kam eigentlich nie vor. Mich interessierte vor allem, wie sie entkam. Sie scheuerte in letzter Sekunde mit den Zacken ihres Eherings das Seil durch und rannte aus dem Lagerhaus, bevor es Augenblicke später in Flammen aufging. Das schöne Pärchen aus der Hotelbar wurde festgenommen; die Frau aus dem Lagerhaus führte die Bullen direkt zu ihnen, und sie lächelte, als die Handschellen zuschnappten. Sie hatte nichts als einen Rußfleck auf der Wange.

Überhaupt war es im Fernsehen ein guter Tag. Vorher hatte schon eine ältere Dame mit bläulichen Haaren bei The Price Is Right dreißigtausend Dollar beim Plinko erspielt und danach noch beide Hauptpreise gewonnen. Um vier kam Oprah. Domino schlief, aber Tom, Ricky und ich sahen zu, wie Tracey Gold, ehemaliger Fernsehstar, von ihrem erschütternden Autounfall samt Festnahme erzählte. »Ich wusste nicht mal, dass ich betrunken war«, beteuerte sie.

»Ich auch nicht«, sagte Ricky. »Lasst mich raus!«

Später in der Sendung zeigte Oprah ihren Zuschauern, dass das eine Glas Wein, das sie vielleicht beim Kartenspielen mit Freunden tranken, eigentlich drei Kurzen Whiskey entsprach – wenn es bis oben gefüllt war. »Also immer gut aufpassen!«, mahnte Oprah.

»Scheiße!«, sagte Ricky. »Tracey Gold bringt bei dem Unfall sturzbetrunken beinahe ihre Kinder um, und ich hab bloß ein bisschen Crack geraucht. Warum sitze ich eigentlich im Knast und nicht bei Oprah?«

»Scheiße, Alter«, sagte Tom. Wir nickten alle. Es war aber auch wirklich so, obwohl wir wohl alle verschiedene Vorstellungen davon hatten, was genau hier die Scheiße war.

Das Essen im County Jail war meistens gut, und an dem Abend bekamen wir das Beste, was Kalamazoo County zu bieten hatte: dunkle Truthahnfleischstücke kurz angebraten in Sojasoße. Tom rührte mit der Löffelspitze in der Soße, als würde er Ölfarbe für ein Portrait mischen. Erst roch er daran, dann benetzte er seine Zunge damit. »Die Köchin versteht ihr Handwerk«, sagte er. »Gerade genug Knoblauch und Piment.«

Ich fragte mich, woher Tom wissen wollte, dass es eine Köchin war, und wie immer sprach Ricky meinen Gedanken aus. »Woher willst du wissen, dass das eine Frau gekocht hat?«

»Ach komm«, erwiderte Tom. »Weil es so weich ist, so warm. Das ist doch ganz klar. Wenn man ein bisschen Tempo rausnimmt, schmeckt man so etwas.«

»Scheiße, Mann, Tempo rausnehmen, was soll das denn heißen?«

»Richtig schmecken«, erwiderte Tom. »Die Augen schließen, wenn es sein muss. Heutzutage schmeckt ja keiner mehr richtig. Da wird immer nur geschaufelt, geschaufelt, geschaufelt. Dabei ist Essen wie Wein, Alter – wenn man es im Mund lässt und sich konzentriert, kann man das Terroir der Zutaten schmecken.«

»Terr-was?«, fragte ich.

»Den Geschmack des Landstücks, auf dem die Zutaten gewachsen sind.«

Ricky aß einen Bissen und grinste. »Stimmt, ich schmecke was. Ein Feld und Heu.«

»Ja«, sagte ich. »Und eine Scheune.«

»Ihr lernt ja schnell«, sagte Tom.

»Und Kühe«, fuhr Ricky fort. »Oder wenigstens das, was aus Kühen rauskommt – eindeutig Bullshit.«

Tom lächelte. »Jetzt mal im Ernst. Vielleicht schmeckt ihr das alles nicht, aber ich schon. Ich schmecke die Erde, auf der alles gewachsen ist, und die Gebete der Frau, die es für uns gekocht hat.«

Wir verstummten bei der Vorstellung, dass womöglich jemand für uns betete, und aßen still weiter. Ich versuchte, die Weichheit zu schmecken, von der Tom geredet hatte, und die Gebete in der Soße. Domino aß schnell, damit er weiterschlafen konnte.

Der Wärter nahm unsere Tabletts mit, und Tom ging wohl davon aus, dass er gute sieben Minuten Zeit hatte. Er zog das Leinenlaken von seinem Bett und fing an, sich daraus ein Seil zu drehen. »Okay, Jungs«, sagte er, »ich verabschiede mich jetzt aus dem K’zoo-Motel. Ich hab genug von dem County-Jail-Scheiß – nach so einem Essen braucht man doch einen Kaffee und eine Zigarette. Wenn der Wärter das nächste Mal vorbei ist, mach ich das Laken fest und sehe zu, dass ich wieder in den richtigen Knast komme. Haut einfach auf den Notfallknopf, wenn ich hänge.«

Tom setzte sich oben ohne auf den Picknicktisch und band aus dem Ende des Lakens eine Schlinge. Karen Sharon bewegte sich und wippte, während er arbeitete; sie räkelte sich scheinbar mit jeder Anspannung seiner Muskeln. Tom warf das Laken auf sein Bett. Mir kribbelten die Hände und Füße.

»Wenn du auf Bewährung bist, bist du doch sowieso in einem Monat wieder da«, sagte Ricky. »Mach doch wegen einer Zigarette nicht so einen dämlichen Scheiß!«

Tom hörte ihn nicht oder tat wenigstens so. Er schaute zu den Gitterstäben und horchte nach den Schritten des Wärters. Der ganze Pseudoselbstmord würde nichts mehr als das sein, sagte ich mir – er würde sauber über die Bühne gehen, und in ein paar Minuten würde Tom weg sein und in unserer Zelle wieder Ruhe einkehren.

Der Wärter ging draußen vorbei und schaute kaum rein. Tom nahm das Laken von seinem Bett. »Schön, euch kennengelernt zu haben«, sagte er. Er stand am Rand der Bank und knotete das freie Ende des Lakens um einen der langen, waagerechten Gitterstäbe. Er stieg auf den dritten Querstab, legte sich die Schlinge um den Hals und hielt sich mit einer Hand hinter dem Rücken fest. Als das Licht jetzt hinter ihm war, wurden alle seine grünen Tattoos zu dunklen, formlosen Flecken, und selbst Karen Sharon wirkte sofort älter. Jetzt sah ich sie, wie sie wirklich war, all die Jahre des Trinkens, ihre oberflächliche Seele.

»Okay«, sagte Tom. »Haut drauf.«

Ricky und ich regten uns nicht. Domino setzte sich auf und schaute. Tom stand mit den Hacken seiner gefängniseigenen Latschen zwischen die Stäbe geklemmt. Er zog die Schlinge zu, warf uns allen noch einen Blick zu und ließ los. Sein Oberkörper kippte vom Gitter weg, aber noch lastete sein Gewicht größtenteils auf den Hacken. Die Schlinge zog sich enger zu, und er wurde rot im Gesicht.

»Los jetzt, ihr Wichser, haut auf den Kopf!«

Einen Fuß nach dem anderen schüttelte Tom die Latschen ab, die auf dem Boden aufklatschten. Er trat von der flachen Stahlstange runter und begann zu sterben. Seine Brustmuskeln krampften, und Karen tanzte wieder – hässlich und verzweifelt, eine alte Stripperin, eine Nutte. Toms Kampf enthüllte ihr wahres Gesicht und warf Schicht um Schicht Schönheit und Falschheit ab. Ich schaute aber nicht weg; ich wollte sie immer noch berühren. Mir war es egal, was sie war, Hauptsache, sie erwiderte die Berührung. Und das würde sie, da war ich mir sicher – ich sah es in ihren Augen, in dem Sekundenbruchteil, als ihr geschlossenes Auge sich öffnete und sich wieder zu einem Zwinkern schloss, das nur mir galt.

Ich stand von der Bank auf, schlang die Arme um Toms Beine und stemmte ihn mit der Schulter hoch.

»Fass mich nicht an, fass mich nicht an!«, krächzte er.

Ricky ging rüber und schlug auf den Notfallknopf.

»Was gibt‘s?«, fragte die Stimme der Frau.

»Hier will sich so ein Idiot aufhängen.«

Italian Tom pisste sich in die orangefarbene Hose, und die Wärme bedeckte meine Schulter. Sekunden später schlug die Tür auf, und mehrere Wärter kamen rein. Eine Wärterin kletterte am Gitter hoch und schnitt das Laken mit einer Industrieschere los. Tom und ich fielen auf den Boden, und der Atem wich aus meiner Brust, als mein Kopf auf die Metallkante des Picknicktischs aufschlug und dann auf den Betonboden. Die Wärterin schnitt Tom die Schlinge vom Hals, ich hörte ihn nach Atem ringen und spürte es, als wäre es mein eigener. Ich spürte sein trauriges Leben auf mir ersticken.

Die Wärter stabilisierten Toms Hals, und ich lag da, während der kalte Boden wärmer wurde, als mir etwas Feuchtes aus dem Kopf lief. Ich wurde weicher und versank in den heißen Quellen unter Kalamazoo.

Ich wollte mich aufsetzen, aber die Wärterin legte mir sanft die Hand auf die Stirn, um mich daran zu hindern. Sie kniete so nah vor mir, dass ich ihr Blütenshampoo riechen konnte. Ich las ihr Namensschild: »Lillie«. Ich wollte sie fragen, ob das ihr Vor- oder Nachname war. Ich wollte sie fragen: Findest du es auch so schön, wenn es spätabends schneit? Wann haben deine Eltern sich scheiden lassen? Was ist dein Lieblingsfilm? Weinst du, wenn dir lange niemand schreibt? Wärst du gern Präsidentin? Bist du glücklich? Hasst du die Nachrichten? Bricht es dir das Herz, wenn ein Düsenflugzeug die kalte, dünne Luft durchschneidet?

Aber ich konnte nicht sprechen. Ich hatte Angst, sie würde mich loslassen, wenn ich spräche. Also blieb ich liegen und sah Lillie an, als das Wasser langsam hochkochte und die Pferde losgaloppierten.