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Charlotte Dorothea Karr

Gebranntes Kind verlässt das Feuer

Eine Erzählung

Copyright: © 2018: Charlotte Dorothea Karr

Umschlag & Satz: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für meine Eltern

Dass man im Guten und Bösen dem Wirklichen
die Treue halten muss,
darauf läuft doch alle Wahrheitsliebe hinaus und
alle Dankbarkeit dafür, dass man überhaupt geboren wurde
.

Hanna Arendt, 1965

Inhalt

Ein Umzug

Besondere Umstände

Der fremde Vater

Ein zweiter »Vater«

Eine seltsame Therapie

Die Welt im Yoga

Der Schlussstrich

Ein Mann für´s Leben

Das Leben des Inneren

Das Sterben der Mutter

Letzte Antworten

Eine faszinierende Erkenntnis

Ein Umzug

Meine Eltern hatten es geschafft: Sie verließen den dunklen, unaufgeregten Schwarzwald, um in der neuen Bundeshauptstadt Bonn am Rhein in den Beamtenadel gehoben zu werden.

Geboren 1927 und 1928 erlebten sie ihre Jugendzeit im Zweiten Weltkrieg abseits der Fronten und der zerstörten Städte im beschaulichen Schwarzwald. Mein Vater ein junger, begabter Jurastudent aus einer angesehenen Verlegerfamilie in Villingen; meine Mutter Tochter aus einfacheren Verhältnissen, doch klug, selbstbewusst und ehrgeizig. Sie war es, die als zweifache Mutter meinen Vater überredete sich als Konstanzer Richter auf einen Ministerialratsposten in Bonn zu bewerben.

Nun ja, warum nicht, mein Vater hatte nichts zu verlieren. Hatte er doch für sich alles erreicht, was für einen im Schwarzwald geborenen das Höchste zu sein schien: Richter in einer Stadt, die der schweizer Welt zugewandt war und offen stand: Konstanz!

Die Bewerbung hatte Erfolg. Mein Vater wurde 1961 hoher Staatsbeamter im Ministerium für Forschung und Technologie. Das Leben in der gehobenen Bonner Beamtengesellschaft gefiel meiner Mutter. Es gab Empfänge, Vorträge, Gesellschaften, wie die neugegründete Deutsch-Französische Gesellschaft, der man beitrat. Dort traf man wichtige Politiker wie Horst Ehmke, Egon Bahr und auch Hans-Friedrich Genscher, man sprach nicht über sie, man sprach direkt mit ihnen. Es war die Regierungszeit von Kiesinger. Auf den Familienfeiern im Schwarzwald konnte davon erzählt werden.

In dieser Zeit bekam meine Mutter noch drei weitere Töchter, insgesamt waren es dann fünf. Ein Haus wurde gebaut, alles lief gut. Meine Mutter war stolz, mein Vater in Arbeit vergraben und häufig auf Dienstreisen im Ausland.

Doch irgendwann wurde die Arbeitsbelastung zu hoch. Mein Vater, ein Perfektionist, der von sich alles abverlangte, was er leisten konnte und sich damit überforderte: sein Körper reagierte mit Gallensteinen. Die Therapie war damals eine Operation, bei der die Galle entfernt wurde. Im Jahre 1966 noch kein Routineeingriff. Doch mein Vater war noch relativ jung als Neunundreißigjähriger und alle sahen der Operation gelassen und mit viel Gottvertrauen entgegen. Die Operation verlief auch erwartungsgemäß, doch was dann geschah, folgte keiner medizinischen Logik mehr. Ungefähr eine Woche nach dem Eingriff versagten auf einen Schlag, von einem Moment auf den anderen beide Nieren. Dieses Versagen hätte normalerweise in der damaligen Zeit innerhalb von 48 Stunden zum Tode geführt, doch die Ärzte reagierten schnell und schlossen meinen Vater an das bis dahin einzige Dialyse-Gerät in Bonn an. Dieses Gerät war aber damals noch nicht ausgereift und galt nur als Übergangstherapiemöglichkeit bis die eigentliche Ursache und damit eine Therapie gefunden wurde. Meinem Vater ging es immer schlechter. Die Ärzte standen vor einem Rätsel, sie konnten keine medizinische Erklärung finden und somit auch keine Therapie. So ging es immer weiter bergab mit ihm. Irgendwann sollten wir uns alle von ihm verabschieden. Ich war damals drei Jahre alt. Das ganze Drama bis zu diesem Augenblick hatte ich als aufgewecktes, neugieriges Kleinkind widerstandslos mitgemacht: wir wurden mal zu den Großeltern in den Schwarzwald gebracht, mal wurden wir auch plötzlich mitten in der Nacht zur Nachbarin verlegt und mussten dort weiterschlafen. Häufig waren die bereits älteren Töchter einer Bekannten meiner Mutter bei uns und brachten uns ins Bett. Warum das alles geschah wurde uns nicht erklärt. Wir hatten mitzumachen und bitte keine Sperenzchen.

Wider Erwarten ging das ganze noch mal gut aus. Mein Vater überlebte, weil meine Mutter einem ungeprüften Medikament zustimmte, das der Chefarzt als letzte Möglichkeit sah, das Leben meines Vaters zu retten. Es funktionierte, beide Nieren sprangen wieder an, wie auf Knopfdruck. So erzählte es mein Vater später immer wieder staunend oder sollte ich sagen, vielsagend. Mein Vater sprach nie von einem Wunder, von einer wundersamen Heilung, im Gegenteil, er verbat uns mit anderen über seine Erkrankung und Heilung zu sprechen. Seine Erkrankung, der dann ein halbes Jahr später noch eine Gehirnembolie folgte, die sein Sprachzentrum zerstörte, wurde zu einem großen Tabu in unserer Familie. Alles sollte so weiter gehen wie bisher. Wie sollte das gehen, wenn ein Vater als sprachlos gewordenes Wrack nach Hause kommt?

Das ging, weil mein Vater seinen Posten als Ministerialrat behielt. Die hohen Bezüge liefen weiter, er fuhr täglich in sein Büro, ohne dass seine Arbeitskraft in Anspruch genommen wurde, die ja auch nicht mehr vorhanden war, nachdem er nach dem Sprachverlust mit unendlicher Mühe die Sprechtechnik wieder erlernt hatte.

Aber warum durften wir Töchter nach dem Abitur alles studieren außer Jura? Dieses Studienfach verbot uns unser Vater rigoros. Er nannte uns dafür nur sehr oberflächliche Gründe, wie zum Beispiel: Recht und Gerechtigkeit haben nichts miteinander zu tun.

Wir wurden groß mit diesem seltsamen Umgang mit der Krankengeschichte meines Vaters.

»Die Ärzte konnten sich das Nierenversagen einfach nicht erklären. Und dann sprangen die Nieren einfach wieder an.«

Das waren die einzigen Sätze, die Vater ab und zu, wenn er melancholisch wurde, dazu sagte.

Etwas mehr sagten uns unsere Verwandten fünf Jahre nach dem Tod meines Vaters auf der Beerdigung meiner Mutter. Da schien der Zeitpunkt gekommen zu sein, uns erwachsen gewordenen Kindern des verstorbenen Ehepaares, das so hoch hinaus wollte, die mutmaßliche Wahrheit zu sagen:

Mein Vater arbeitete als Jurist im Ministerium für Forschung und Technologie. Es war die Zeit, in der die Atomkraftwerke im Zentrum der Öffentlichkeit standen. Die Regierung befürwortete den Ausbau weiterer AKWs, doch erhielt sie dafür massiven Gegenwind aus der Öffentlichkeit und auch aus den politischen Reihen. Mein Vater was als Beamter völlig neutral, er war weder für noch gegen diese Politik; aber er war für eine korrekte Begutachtung. Dass es juristisch nichts zu beanstanden gab für das Gutachten zum Bau des AKW Mülheim-Kärlich oblag seiner Verantwortung. Unsere Verwandten erklärten uns, dieses Gutachten wäre für ihn nicht in Ordnung gewesen. Er hätte es einfach nicht durchgewunken. Und aus irgendeinem Grunde hätte es wohl Zeitdruck gegeben. Da kam die Erkrankung meines Vaters grade recht. Er wäre regelrecht ausgeschaltet worden mit Gift, das ihm nach der Operation verabreicht worden war. Warum hätten die Nieren versagen und dann mit dem Gegengift wieder anspringen können? Mein Vater hätte die Politik behindert, gestört und sollte weg. Dass er überlebt hatte, wäre nicht geplant gewesen, da hatte er einfach riesiges Glück gehabt, beziehungsweise einen sehr guten Arzt. Aber deshalb auch das Schweigen, das Tabu in der Familie. Das Thema sollte aus der Welt verschwinden. Es war halt Pech, was meinem Vater widerfahren war. Ein guter Mann, dem das Schicksal wenig Gutes schenkte. Das sah aber mein Vater anders. Nach der Beerdigung meiner Mutter wurde uns die fadenscheinige Begründung meines Vaters hinsichtlich des Jura-Verbots nachvollziehbarer. Mein Vater hatte sich nicht als Opfer des Schicksals gesehen, er war ein Opfer seiner Regierung geworden, für die er alles getan hatte, was er als Jurist konnte. Doch das war gar nicht erwünscht gewesen. Seine Rechtsauffassung störte, er sollte mundtot gemacht werden, nachdem wohl klar wurde, dass er sich nicht verbiegen ließ. In dieser Hinsicht war das Attentat ein Erfolg. Seine Sprachkompetenz und somit seine juristische Bedeutung hatte er verloren, aber er hatte überlebt. Deshalb musste alles vertuscht werden; deshalb die Beibehaltung seines Büros. Es gibt tatsächlich noch einen Brief von dem damaligen zuständigen Minister Stoltenberg, der meiner Mutter alle Unterstützung zusagte und ihr erklärte, dass eine siebenköpfige Familie nicht unter dem Schicksal des Familienvaters leiden sollte und deshalb mein Vater seine Bezüge und sein Büro behalten dürfe. War das ein Friedensangebot, damit meine Mutter still und dankbar bliebe? Sie wurde still, fügte sich ihrem Schicksal, das Bonner Parkett zu verlassen und Oberhaupt einer Familie zu werden, die von da ab aus fünf Töchtern und einem weiteren »Kind« bestehen sollte. Wenn du dich auf andere verlässt, dann bist du selbst verlassen. Das wurde ihr Leitspruch in ihrem dunkel gewordenen, dann auch unaufgeregten Leben.

Der Schwarzwald war im Rheinland angekommen.

Besondere Umstände

Wenn diese Geschichte stimmt, so wie sie zu lesen ist, dann drängt sich die Frage auf, wie hat diese Familie weiter gelebt oder sollte man sagen, weiter funktioniert? Wie soll man sich das vorstellen, dass ein hoher Beamter tagtäglich seine Dienststelle betritt und keinen Auftrag mehr erfüllen kann, den er vor seiner Erkrankung mit großer Brillanz erledigen hätte können. Wie geht das, ohne dass dieser Mensch frustriert, resigniert, vielleicht dem Alkohol zugesprochen oder sonst ein Ventil für sich entdeckt hätte, um seine mehr als enttäuschende Lage zu ertragen. Ein erfolgreicher Familienvater, der drei Sprachen fließend beherrscht hatte, brachte kaum die einfachsten Sätze hervor. Und sollte doch für weitere zwanzig lange Jahre seinen Posten als Jurist im Ministerium besetzen. Mit was hatte er sich beschäftigt, wenn er offiziell keinen Arbeitsauftrag mehr erhalten hatte? Er studierte die Presse, las mehr als fünf Tageszeitungen am Tag und unterbrach diese Leseanstrengung, denn eine Riesenanstrengung war es für ihn, mit Schachspielen. So verbrachte er seine Bürotage, im Wechsel von Lesen und Schachspielen, – 20 lange Jahre.

Wie alt waren seine Kinder, als das Schicksal sich für ihn wendete? Die älteste, Maria, war zehn Jahre alt, Christine war gerade acht Jahre geworden. Die Zwillinge Margarete und Theresia waren vier Jahre alt und die jüngste Tochter, Susanne, drei Jahre. Diese Kinder schafften es, eine an die gesellschaftlichen Ansprüche angepasste Kindheit zu durchleben, bis auf eine. Die Jüngste machte Probleme. Lief wiederholt von zu Hause weg, nicht weil sie Angst vor etwas Bestimmten hatte. Ihr drohten keine Schläge, keine Bestrafungen. Der Vater war sanftmütig geworden, die Mutter wusste um die Kraft ihres Augenausdrucks. Sie regierte ihre Töchter mit ihrer Mimik.

Nein, die kleine Susanne wollte weg, weil sie Schöneres erleben wollte, entspannte Verhältnisse finden, Gemütlichkeit und Freude. Als Fünfjährige nahm sie ihre ein Jahr ältere Schwester an die Hand und machte einen sehr, sehr weiten Spaziergang. Es trieb sie von zu Hause weg, irgendwohin, wo nicht nur Lebenswille, sondern auch Lebensfreude war. Der Briefträger fand die beiden in einem anderen Stadtteil und wunderte sich, warum die zwei kleinen Mädchen der Familie Moser dort herumliefen. Er brachte sie kurzer Hand zurück. Ihr Verschwinden war noch nicht einmal bemerkt worden. Das registrierte Susanne sehr wohl. Die Mutter war immer so beschäftigt, hatte nie Zeit, außer beim Einkaufen. Dann ging sie mit ihren Töchtern oder mit derjenigen, die sie gerade begleitete in die Buchhandlung und vergaß die Zeit. Den Töchtern war das recht. So hatten auch sie Zeit und Muße sich ein Buch herauszusuchen, das die Mutter ihnen dann kaufte. Das waren die schönen Momente mit der Mutter zusammen. Und mit dem Vater? Für die Kinder gab es nur anstrengende Zusammentreffen mit ihm. Er war immer schnell müde, konnte nur unter Anstrengung sprechen, verstand häufig nicht, was die Kinder sagten. Denn es musste sehr langsam und deutlich gesprochen werden. Häufig erkannte er auch die einfachsten Wörter nicht. Dann half die Mutter aus. Sie war seine Sprechlehrerin. Die Logopädie steckte noch in ihren Kinderschuhen und so war der Tag meiner Mutter rund um den Vater organisiert, der zunächst nach der Gehirnembolie als Vollinvalide aus der Reha-Maßnahme zurück in die Familie kam. Jede der Töchter musste ihren Weg finden, wie sie mit dem anwesenden, aber nicht zugänglichen Vater und der anwesenden, aber ständig arbeitenden Mutter umgingen, wie sie sich ihre Wünsche nach Zuwendung, nach Knuddeln, nach Spielen, nach gemeinsamen Aktionen, und auch nach Auseinandersetzung mit den Eltern erfüllen konnten. Und gleichzeitig musste die Mutter einen Weg finden, den Ansprüchen, die alle an sie stellten, gerecht zu werden. War das überhaupt möglich gewesen? Konnte sie ihnen allen gerecht werden? Nach außen hin eindeutig ja! Frau Moser leistete Übermenschliches. Es war nicht unbemerkt geblieben in der Nachbarschaft, dass der Vater schwer krank geworden war. Die Menschen in der kleinen Stadt nahmen Anteil. Der Ortspfarrer kam vorbei und stellte ganz praktisch die Frage, ob Geld nötig wäre. Sicherlich war er überrascht, als Frau Moser das Verneinen konnte. Die Hinfälligkeit des Vaters war anfangs nicht zu übersehen. Doch auch die Genesung blieb nicht verborgen. Da es zu dieser Zeit noch nicht so viele therapeutische Berufe, wie Ergotherapeuten oder Logopäden – bestenfalls Krankengymnastik – gab, wurde allen klar, dass Frau Moser ihrem Mann sehr viel Unterstützung geben musste, damit er wieder arbeitsfähig werden konnte. Denn nach einem Jahr fuhr er schon wieder jeden Tag in sein Ministerium. Das wurde von allen bewundernd registriert. Ja, die Familie Moser war eine besondere Familie. Starke Eltern und fünf wohlgeratene Töchter, die das Gymnasium besuchten. Da war, trotz des Unglücks, noch mal alles gut gegangen. Die eingangs gestellte Frage, ob die Mutter allen gerecht geworden war, sollte mit dem Blick auf die inneren Familienverhältnisse beantwortet werden, denn da gab es ein Problem, das Problemkind Susanne. Dieses Kind wollte einfach nicht so sprechen, wie normale Kinder es eben tun. Von Anfang an nicht. Als es mit drei Jahren beginnen sollte zu sprechen, verlor der Vater seine Sprache. Nun, der Zusammenhang war der klugen Mutter sicherlich klar. Also wird das Problem sich wieder verlieren, wenn der Vater auch wieder sprechen können wird. So kümmerte es keinen, dass Susanne häufig das Sprechen abbrach, ihr die Worte im Hals stecken blieben, sie einfach stumm blieb, obwohl sie hätte antworten können. Später dann in der Schule wurden die Lehrer, wenn diese die Eltern auf das auffällige Sprechverhalten der Tochter hinwiesen, damit vertröstet, dass der Onkel auch anfangs nicht gut sprechen konnte und doch ein Pfarrer wurde, der frei von der Kanzel predigte. Das funktionierte als Beruhigung. Doch das Kind litt. Ihr war nicht klar, warum sie nicht so sprechen konnte, wie sie es gerne täte. Wenn sie sich über ihre sprachlichen Einschränkungen beklagte, interessierte es einfach niemanden. Bestenfalls wurde sie vertröstet. Es würde schon werden, warum Aufhebens darum machen. Die Eltern hatten zu viel andere Sorgen. Ja, welche denn, aus Sicht des Kindes? Dem Vater ging es doch wieder gut. Sonntagsausflüge wurden gemacht: Die gesamte Familie fuhr mit dem alle zwei Jahre ausgewechselten Neuwagen zu irgendwelchen imposanten Kirchen; Speyer, Worms, Limburg, Maria Laach und der Kölner Dom, der durfte nicht fehlen. Auf einem dieser Ausflüge in Limburg brach sich die siebenjährige Susanne das Bein, als diese übermütig die letzten fünf Stufen einer alten Burgsteintreppe in einem Sprung überwinden wollte. Der Sprung und somit der gesamte Familienausflug endeten im Krankenhaus. Als der Arzt im Beisein der Eltern, den Fuß des Kindes bewegte und dabei fragte, ob das wehtäte, erwiderte Susanne selbstbewusst: »Und wie!« Die Mutter stand ihr gegenüber und blickte sie mit zornig funkelnden Blick kopfschüttelnd an. Ja aber, wenn es doch so weh tut, dachte Susanne trotzig und presste dabei die Lippen fest zusammen. Der Arzt warf dem Kind einen Blick zu und zwinkerte dabei mit einem Auge. Wenigstens der Arzt zeigte dem Kind mehr Verständnis als die Mutter. Immer musste dieses Kind auffallen. Die vier anderen waren lieb, nur dieses Kind machte immer Probleme, forderte immer Aufmerksamkeit. Das lief der Grundmaxime dieser Familie zuwider: Du sollst nicht stören. Versorgt, aber nicht umsorgt; angenommen, aber geliebt? Dieses Kind, das nach dreizehn Monaten nach der Zwillingsgeburt das Licht der Welt erblickte. War es nicht dieses – ja, zu viel des Guten? Musste diese Schwangerschaft wirklich sein? Gab es neben katholischer Pflichterfüllung und Trieb nicht auch noch Sinn und Verstand? So dachte die heranwachsende Susanne, die irgendwann ihren Eltern bitterlich vorwarf, sie überhaupt gezeugt zu haben. Diesen Vorwurf behielt sie für sich, formulierte sie natürlich nie laut. Als sie ihre Mutter in einer günstigen Stunde einmal darauf ansprach, wie das für sie gewesen war, die schnelle Schwangerschaft nach der Zwillingsgeburt, erhielt sie die recht vage Auskunft: »Ja, weißt du, damals war jedes Kind noch ein Gottesgeschenk!« Das verstand Susanne im Jahre 1980 als Seitenhieb auf den damals viel diskutierten Paragrafen 218, das Gesetz, das den Schwangerschaftsabbruch regelte. Über dieses heiße Thema traute sich Susanne nicht mit ihrer Mutter zu diskutieren. Denn zu deren katholischer Auffassung, Verhütung oder Abtreibung sei gegen Gottes Wille, konnte kein anderes Argument bestehen. Aber konnte Susanne mit ihrem Vater diskutieren? Welchen Einfluss hatte Herr Moser nach seiner Erkrankung auf seine Töchter? Wie verarbeitete er für sich seine dramatische Lebenswende? Es war ein langsames Herantasten an die ihn umgebende Welt. Ausgemergelt, geschwächt, ohne Sprache, ja fast wie ein Kriegsheimkehrer tauchte er für die Kinder unverhofft wieder auf. Er hatte fast alles verloren, obwohl ihm die Familie geblieben war, aber er hatte den Kontakt, das Kommunikationsmittel – die Sprache – verloren. Es begann eine Stunde Null mit seiner Heimkehr.

Der fremde Vater

Als Vater war er nicht mehr heimgekommen. Ein Fremder, der geschont werden musste, der unglaublich viel schlief und abends mit der Mutter am Esszimmertisch Worte stammelte. Die Mutter unternahm Versuche, die Kinder in den Wiederaufbauprozess des Vaters zu integrieren. Susanne nörgelte mal wieder herum, die kleine Fünfjährige wollte beschäftigt werden. »Ich will Eisessen, Eisessen gehen, ich will, ich will!«, schmetterte sie ihrer Mutter rücksichtslos an einem Sonntagnachmittag in der Küche entgegen. Dem Vater ging es überraschend gut an diesem Tag. Ja also, warum nicht. Nicht der Vater sollte das Kind begleiten und führen, nein, das fünfjährige Kind sollte den Vater mitnehmen, ein kleiner Spaziergang könnte aufbauend wirken. »Gut Kind, dann geh mit Papa, und wenn er umkippt, bist du ja dann da, um zu helfen.« Jetzt war Susanne hin- und hergerissen: Sollte sie sich über die Aussicht eines Eisbechers freuen, oder sollte sie besser darauf verzichten, weil helfen konnte sie diesem großen, kranken Mann beim besten Willen nicht. Vielleicht spürte der Vater die Überforderung, die die Mutter der Tochter zumutete. Er war es dann, der die Situation auflöste und erklärte, dass er sich doch besser hinlegen wollte, er traute sich das doch noch nicht zu. Susanne war so erleichtert, dass sie darüber ihren Wunsch nach Eis völlig vergessen hatte. Aufatmend drehte sie ab und verschwand im Spielzimmer. Einige Zeit später bekam Susanne wieder Ärger, obwohl sie es nur gut meinte und dem Vater helfen wollte. Nach dem Vorfall mit dem Eisessen trainierte der Vater seinen Körper auf Spaziergängen. Recht schnell war er so weit, dass er die jüngste Tochter vom Kindergarten abholen konnte. Susanne liebte es abgeholt zu werden, auch wenn der Heimweg mit dem Vater mühsam und langweilig war. Der Vater konnte zwar fragen, wie es im Kindergarten war, aber es kam mühsam, mit großen Pausen und für die Aufnahme und Reaktion seines Kindes war er dann wieder zu erschöpft. Das Gespräch wurde wieder beendet, bevor Susanne ins Erzählen kam. Aber immerhin. Er hielt ihre Hand und sie gingen ganz langsam und vorsichtig nach Hause.

An einem Nachmittag wartete Susanne länger als sonst auf ihren Vater. Die anderen Kinder waren schon fast alle abgeholt worden und Susanne überlegte sich, ob der Vater vielleicht heute zu krank war, um zu kommen. Die Mutter hatte sicherlich vergessen Bescheid zu geben. Tatkräftig, wie die Kleine war, machte sie sich kurzerhand selbstständig auf den Heimweg. Sie war mächtig stolz auf sich, als sie ganz alleine, fast wie eine Große, den 1,5 km langen Weg quer durch die Stadt geschafft hatte. Doch die Mutter empfing sie zornig. Warum sie denn alleine losgezogen wäre, hätte sie nicht noch warten können. Der Vater wäre völlig umsonst aufgebrochen und hätte sich riesig aufgeregt, weil sie nicht mehr im Kindergarten gewesen wäre. Kein Mensch hätte gewusst, wo sie abgeblieben war. Wo sie denn geblieben wäre? Der Vater wäre schon wieder zurück. So ginge das einfach nicht. Der Vater wäre an die Grenzen seiner Kraft gekommen und müsste wieder geschont werden. Sie sollte jetzt um Gottes Willen nicht noch mehr Ärger machen.

Das Kind trottete bekümmert und weinend in das Zimmer, das sie mit einer Schwester teilte. Aber Margarete ging es auch nicht viel besser. Sie saß auch mal wieder schlecht gelaunt und sauertöpfisch auf ihrem Bett und zerknüllte ihren Zeichenblock. Beide Schwestern in einem Zimmer vereint, plagte jeweils ein ähnlicher Schmerz, ohne dass sie darüber sprechen konnten. Es war beiden klar, sie hatten was falsch gemacht. Die Mutter war deswegen aufgebracht und dem Vater ging es wieder schlecht. Am besten man machte eben gar nichts, bliebe in Deckung, wartete, bis aller Sturm vorübergezogen war und dann würde es irgendwie weitergehen. Und heul´ jetzt bloß nicht rum, das hilft auch nicht weiter. Jede kämpfte auf ihre Weise, ganz für sich um ihr emotionales Überleben.

Herr Moser kämpfte auch, einmal um seinen physischen Körper, aber auch um seine psychische Gesundheit. Wie sollte er es schaffen, nicht zu verzweifeln, seiner Frau nicht noch mehr Bürde zu sein, seiner Familie nicht noch mehr zur Last zu fallen; selber den Lebensmut, die Lebensfreude wieder zu erlangen? Er wollte den Auftrag erfüllen, die hohen Bezüge zu sichern, in dem er das Angebot seines Ministers annahm und jeden Tag vorgab, seinen Posten als Ministerialrat auszufüllen.