image

Peter Hirt

Der Kanalreiniger

Roman

Copyright: © 2018: Peter Hirt

Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Umschlag & Satz: Erik Kinting

Titelbild: © byheaven (fotolia.com)

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

— 1 —

Böse Zungen sind überall und jederzeit zur Stelle. Schnell zirkulierte das Gerücht, sie habe sich in ihre neue Position emporgeschlafen. Die Rede ist von Gundula Andreesen, seit nunmehr sechs Jahren erfolgreiche Intendantin beim Fernsehsender LTR. Die dunkelblonde 39-Jährige hat alle Vorzüge, die eine Frau nur haben kann: sie sieht blendend aus, ist blitzgescheit, gebildet und mit ihrem Charme verkauft sie die härtesten Rügen und Entscheidungen so elegant, dass die Adressaten meistens erst mit Verzögerung kapieren, was ihnen widerfahren ist.

Sönke Karbacher kann ein Lied davon singen, denn sie hat ihn auf die Straße gestellt. Gut, nicht ganz Knall auf Fall, er durfte noch zweimal das Samstagabendformat Drei mal Drei mal Drei moderieren, aber mit dem zu Ende gehenden Jahr war seine Zeit dann abgelaufen. Das folgenschwere Treffen mit Gundula ist ihm noch so präsent, als ob er ihr Büro erst vor fünf Minuten verlassen hätte, dabei ist bereits Januar und seine letzte Sendung Vergangenheit:

»Guten Morgen, Sönke, wie geht‘s dir? Du siehst müde aus. Du solltest wohl mal wieder Urlaub machen«, hatte sie zur Einleitung gesagt.

Sönke war darauf keine passende Antwort eingefallen und er hatte es vorgezogen, der Dinge zu harren, die da zweifelsohne kommen sollten.

»Du hast dein Kind Drei mal Drei mal Drei jetzt schon fünf Jahre einmal monatlich sehr erfolgreich moderiert«, fuhr Gundula fort. »Das ist in unserer schnelllebigen Zeit eine halbe Ewigkeit und gewisse Verschleißerscheinungen machen sich da fast zwangsläufig bemerkbar.«

Sönke hörte die Alarmglocken überdeutlich in seinen Ohren schrillen.

»Im September und Oktober sind die Einschaltquoten markant eingebrochen. Es wäre zu einfach, dies lediglich auf den Umstand zurückführen zu wollen, dass zur gleichen Zeit die deutsche Fußballnationalmannschaft gegen attraktive Gegner spielte. In deinen Anfängen vermochtest du dein Stammpublikum auch gegen harte Konkurrenz ganz gut bei der Stange zu halten.«

An diesem Punkt hatte Sönke gerne einhaken und widersprechen wollen, aber er war wie gelähmt.

Gundula hatte keine Mühe, ihm zuvorzukommen: »Wenn ich als Intendantin erfolgreich bleiben will, muss ich jede Form von Signalen rechtzeitig erkennen und gegebenenfalls Maßnahmen treffen. Wie du auf diesem Ausdruck unschwer erkennen kannst, sind die Einschaltquoten schon vor den beiden angesprochenen Ausstrahlungen langsam aber kontinuierlich zurückgegangen.«

»Der langen Rede kurzer Sinn: Du willst mich rauswerfen!«, erwiderte Sönke zerknirscht.

»Rauswerfen ist das falsche Wort, das hättest du auch nicht verdient!«, entgegnete Gundula, »der richtige Ausdruck für das, was ich vorhabe, heißt dich ablösen. Konkret: Ende des Jahres ist für dich Schluss.«

»Du willst tatsächlich die nach wie vor erfolgreichste Samstagabendsendung aus dem Programm kippen?«, wunderte sich Sönke.

»Nein, nein, davon kann natürlich überhaupt nicht die Rede sein«, erklärte Gundula, »aber das Format hat eine Blutauffrischung verdient, um weiterhin erfolgreich bestehen zu können. Mir ist nicht entgangen, dass du es in letzter Zeit nicht mehr geschafft hast, deinen Auftritten so viel Frische und Lebendigkeit angedeihen zu lassen wie früher. Grund genug für mich, zu handeln. Es wäre sicher nicht in deinem Sinne, wie bisher weiterzufahren mit dem Risiko, dass dann eines Tages wirklich das Aus für die Sendung käme, weil die Einschaltquoten im Keller sind. Das hätte dein geniales Format nicht verdient.«

»Und an wen hast du gedacht, der oder die das besser machen könnte als ich?«, hakte Sönke nach.

»Dein Nachfolger steht bereits in den Startlöchern. Es handelt sich um Hennes Friedrichsen, der bei einem unserer Konkurrenten schon ansehnliche Erfolge verbuchen konnte. Er wird im Januar übernehmen, sodass es keine Unterbrechung gibt.«

»Aber das ist doch ein absolutes Leichtgewicht. Dieser junge Schnösel wird das mit Sicherheit verbocken. Als Erfinder der Sendung beanspruche ich zumindest ein Mitspracherecht, was meinen Nachfolger anbelangt. Zudem steht mir eine größere Abgeltung zu, wenn ich jetzt sozusagen mein eigenes Kind aus den Händen geben muss!«

»Was deinen Nachfolger anbelangt, habe ich null Bedenken. Der wird das packen! Gib‘ ihm doch erst mal eine Chance. Natürlich werden wir ihn austauschen, sollte er wider Erwarten unseren Ansprüchen nicht genügen. Hinsichtlich der finanziellen Abgeltung werden wir dir einen Vorschlag unterbreiten. Sobald dir dieser vorliegt, können wir ihn gerne diskutieren«, sagte Gundula und komplimentierte Sönke daraufhin sachte hinaus.

Am nächsten Tag wussten die Medien bereits über den Rauswurf Bescheid und der Teufel war los. Erst klingelte bei den Karbachers pausenlos das Telefon, dann kreuzten die Reporter und Paparazzi in Scharen auf, ja sogar Fernsehteams kamen zu ihrem Haus. Sönke, der sich von dem Schock noch nicht erholt hatte, sah sich veranlasst, mit seiner Frau erst mal die Flucht zu ergreifen und inkognito in einem Hotel unterzukommen.

In wohl sämtlichen Radio- und Fernsehstationen wurde Sönkes Ablösung in den Nachrichten bekannt gegeben. Bei den meisten folgte anschließend noch ein ausführlicherer Kommentar. Dabei hielten sich die Meinungen, ob seine Ablösung eine eher gute oder eher ungerechtfertigte Maßnahme war, in etwa die Waage.

Die Boulevardpresse ergriff mehrheitlich Partei für Sönke und setzte das Gerücht in Umlauf, dass Gundula Andreesen und Hennes Friedrichsen bereits als neues Traumpaar – nicht im Beruf, sondern privat – gehandelt wurden. Es stand die Frage im Raum, ob sich Hennes den lukrativen Job mit einer Sonderleistung im Bett geangelt hatte.

Nach zwei, drei Tagen Wunden lecken fand es Sönke dann an der Zeit, sich wieder voll auf seine zwei letzten Sendungen zu konzentrieren. Er war gewillt, einen eigentlichen Schlussspurt hinzulegen, weil er keinesfalls seine Reputation als Erfolgsmoderator gefährden wollte.

Die finanzielle Abgeltung fiel zu seiner vollen Zufriedenheit aus und er sah keine Veranlassung, den Vorschlag noch mit Gundula zu diskutieren. Dies umso mehr, als er dieser Frau künftig aus dem Weg zu gehen gedachte. Die Wunderfrau hatte auf ihn jegliche Anziehungskraft eingebüßt.

— 2 —

In der Erfolgssendung Drei mal Drei mal Drei treten drei Dreierteams zu einem heiteren Wettkampf gegeneinander an. Jedes Team setzt sich aus einem Showbiz-Star, jemandem aus der Politik sowie einem durch Zufallsgenerator ermittelten Saalkandidaten zusammen. Der Wettkampf gliedert sich in drei Teile: Im ersten Block müssen Wissensfragen beantwortet werden, im zweiten geht es um Geschicklichkeitsaufgaben und im dritten schließlich um Schätzfragen. Dem Siegerteam steht eine Prämie von 50.000 Euro zu und per Glücksrad wird ermittelt, wer innerhalb des Teams den Betrag letztendlich bekommt. Jemand aus dem Saal darf Fortuna spielen und das Glücksrad drehen. Dieses ist in gleich viele rote, blaue und weiße Felder eingeteilt. Jedes Siegerteammitglied hat somit eine Chance von 33.3 Prozent auf den Gewinn. Die Promis aus Politik und Showbusiness müssen im Falle des Gewinns diesen für einen guten Zweck spenden. Wenn jedoch das Glücksrad zugunsten des Saalkandidaten entscheidet, darf dieser den Betrag für sich behalten.

Während der Sendung gibt es außerdem drei Showblöcke, welche in der Regel von den beteiligten Stars aus dem Showbusiness bestritten werden.

Am 20. Januar würde Hennes Friedrichsen seinen ersten Auftritt als Nachfolger von Sönke Karbacher haben. Letzterer fiebert diesem Moment geradezu entgegen.

Der Medienrummel um den Austausch des Moderators war überraschend schnell abgeflacht. Die Boulevard- und Klatschpresse beschränkte sich lediglich noch darauf zu kommentieren, dass Gundula und Hennes jetzt tatsächlich ein Paar waren. Die Boulevardblätter konnten es natürlich nicht lassen, immer von Neuem die Frage in den Raum zu stellen, ob Hennes den neuen Job nur dem Umstand verdankte, dass die Intendantin seine neue Liebe war.

Seit Sönke die letzte Sendung moderiert hatte, war seine Moral in den Keller gegangen und er selber fand sich auch immer häufiger im Keller wieder – um sich alkoholischen Nachschub zu besorgen. Seine Frau Susanne war nicht zu beneiden. Ihr Gatte war von morgens bis abends übel gelaunt, wobei es zum Abend hin am schlimmsten wurde, weil sich Sönke bis dahin einen ordentlichen Pegel angesoffen hatte. Und dieser Zustand hat sich jetzt, Mitte Januar, kein bisschen entspannt, im Gegenteil: Je näher der 20. Januar rückte, desto unruhiger und geladener wurde Sönke.

Susanne hatte vorgeschlagen, sie könnten doch die Kämmerers, mit denen sie seit vielen Jahren befreundet waren, zum Abendessen einladen und dann die Sendung gemeinsam ansehen, aber Sönke hatte erklärt, dass seine Laune überhaupt nicht für Besuch tauge. Zudem wolle er sich voll auf die Sendung konzentrieren, um sich ein Bild davon zu machen, was Friedrichsen drauf hatte. Susanne war nahe daran gewesen, sich mit einer ihrer Kolleginnen zu verabreden, um dem zu befürchtenden abendlichen Drama zu entgehen, aber schließlich brachte sie es doch nicht übers Herz.

— 3 —

Der 20. Januar ist angebrochen. Überraschenderweise hat sich Sönke, was seinen Alkoholkonsum anbelangt, ziemlich zurückgehalten. Doch beim Abendessen, dem Susanne besondere Sorgfalt angedeihen ließ, ändert sich das schlagartig. Es scheint, dass Sönke kaum einen Bissen hinunterkriegt, wenn er nicht reichlich mit Rotwein nachspült. Mit Besorgnis beobachtet Susanne, wie ihr Gemahl mit reichlich unsicherem Gang auf seinen Sessel zusteuert, um dann dort auf den Beginn der Sendung zu warten. Das vollgeschenkte Weinglas hat er gleich mitgenommen. Es grenzt fast an ein Wunder, dass er nichts verschüttet hat.

Susanne räumt noch die Küche auf, dann setzt sie sich neben ihren Mann vor den Fernseher. Sein Glas ist längst wieder leer.

»Könntest du mir noch nachschenken, damit du nachher auch ja nichts von der Sendung verpasst?«, fragt er.

Susanne gehorcht und bringt gleich die Flasche mit. Zur Feier des Tages schenkt sie sich auch ein Glas ein.

Schon erscheint ein äußerst gut aussehender Strahlemann namens Hennes Friedrichsen auf der Mattscheibe und nimmt die nicht enden wollenden Ovationen des Publikums entgegen.

»Fang endlich an, du Pfeife!«, schreit Sönke und sein noch volles Weinglas landet als Volltreffer mitten auf der Mattscheibe.

Wie durch ein Wunder bleibt der Fernseher unversehrt, das Bild wurde lediglich durch die Weinschlieren etwas beeinträchtigt. Die Sauerei auf dem teuren Teppich ist hingegen beträchtlich.

Susanne springt wütend auf: »Ich lasse dich dann mal allein. Ich erwarte, dass du die Schweinerei beseitigt hast, bis ich zurück bin!«, ruft sie und verlässt nach einem kurzen Abstecher ins Badezimmer das Haus.

Sönke beschränkt sich darauf, die Mattscheibe etwas abzuwischen, um die Sendung weiterverfolgen zu können. Dann holt er sich ein neues Glas und schenkt sich wieder ein. Von dem, was Hennes bisher an Weisheiten von sich gegeben hat, hat er so gut wie nichts mitbekommen.

Als Susanne kurz nach Mitternacht zurückkehrt, findet sie ihren Gatten im Sessel vor, laut schnarchend; zwischen ihm und dem Fernseher unverändert das Gemisch aus Scherben und Rotwein. Sie rüttelt ihn energisch. Beim dritten Mal brummt er etwas Unverständliches und das Schnarchen setzt sogleich wieder ein.

»Diese Schweinerei wirst du selber beseitigen! Das garantiere ich dir!«, sagt sie nur, lässt Sönke auf seinem Sessel zurück und legt sich schlafen.

Am Sonntagmorgen ist im Hause Karbacher in der Regel Ausschlafen angesagt, wenn nicht etwas Besonderes auf dem Programm steht. Als Susanne kurz vor zehn zum Bett ihres Gatten hinüberblinzelt, stellt sie fest, dass dieses unbenutzt ist. Der hat also tatsächlich im Sessel übernachtet!

Sie macht sich darauf gefasst, dass er seinem Frust gleich wieder freien Lauf lassen wird, doch als sie das Badezimmer betritt, stößt sie dort beinahe mit Sönke zusammen.

»Ah, schon frisch und munter?«, sagt sie mit zynischem Unterton. Dann erst sticht ihr seine blutende Hand ins Auge.

Sönke versucht verzweifelt, sich ein großes Pflaster überzustülpen, Susanne geht ihm zur Hand.

Als sie fertig ist, zieht Sönke sie überraschend zu sich heran und gibt ihr einen dicken Kuss. »Danke.«

»Wenn ich die Situation richtig einschätze, war dein Versuch, die Schweinerei im Wohnzimmer zu beseitigen, von wenig Erfolg gekrönt«, erklärt Susanne leicht belustigt.

Er gibt keine Antwort und folgt ihr ins Wohnzimmer.

»Alle Achtung«, meint sie, »da hat jemand ganze Arbeit geleistet! Hätte ich dir in Anbetracht der Umstände nicht zugetraut.«

»Danke für die Blumen!«, erwidert Sönke, »war mit meinem Brummschädel auch gar nicht so einfach. Aber mein Beruf bringt es mit sich, dass ich am leistungsfähigsten bin, wenn ich unter Druck stehe.«

Zu ihrer Verblüffung beobachtet Susanne, dass ihr Gatte den ganzen Tag keinen Tropfen Alkohol anrührt. Entweder ist sein Kater wirklich heftig oder er hat sich einen Ruck zur Veränderung gegeben. Sie ist gespannt.

Im Laufe des Nachmittags scheint sich Sönke besser zu fühlen, denn er beginnt, Aktivitäten zu entwickeln. Bei allem, was er tut, geht es ihm darum festzustellen, wie Hennes Friedrichsen aus Sicht der Medien und der Zuschauer abgeschnitten hat.

Was er auch beobachtet und liest, es hat eines gemeinsam: Der Neue hat eingeschlagen wie eine Bombe! Kommentare wie Das Goldhändchen von Gundula Andreesen, Die Ablösung von Sönke Karbacher hat sich als überfällig erwiesen, Zu viel Routine schafft Langeweile sprechen eine deutliche Sprache. Ein Urteil sticht ihm mitten ins Herz: Kollege Karbacher hat sich ganz offensichtlich zu lange für den Besten gehalten. Der noch unverbrauchte Neue hat das so gut gemacht, dass kaum jemand Karbacher auch nur eine Träne nachweinen wird!

Sönke ist jetzt wieder nahe daran, seinen Frust im Alkohol zu ertränken, er kann sich aber beherrschen. Er gibt einem Spaziergang durch die Winterlandschaft den Vorzug. Die ganze Zeit hallen die für ihn niederschmetternden Kommentare in seinen Ohren wieder. Er versucht, sie mit Selbstgesprächen zu übertönen: »Du bist doch erst fünfundfünfzig! Da kann es nicht sein, dass deine Uhr schon abgelaufen ist!«

Ich werde es allen zeigen: Mit einer neuen Show werde ich schon bald dem Hennes die Einschaltquoten vermiesen! Geld hätte ich ja mehr als genug, um mich vorzeitig zur Ruhe zu setzen, aber mir graut davor, schon so früh weg vom Fenster zu sein, denkt er.

— 4 —

Susanne ist unendlich erleichtert, dass Sönke mit dem Trinken aufgehört hat. Ihr Gatte ist zu einem geregelten Tagesablauf zurückgekehrt. Zwar ist er gelegentlich launisch, aber sein ganzes Verhalten und die gesteigerte Aktivität deuten darauf hin, dass er wieder Fuß gefasst hat und bereit ist, zu neuen Ufern aufzubrechen. Er entsagt dem Alkohol nicht komplett, aber er hat seinen Konsum auf ein Normalmaß heruntergefahren: ein Glas Rotwein zu einem guten Essen.

Mit leichter Verzögerung bekommt Sönke auch hin und wieder Zuschriften von früheren Fans seiner Sendung. Viele finden es ungerecht, dass ihm seine Sendung weggenommen wurde. Die meisten ermuntern ihn, ein neues, genauso geniales Samstagabendformat auf die Beine zu stellen. Tatsächlich ist es genau das, was er vorhat.

Er wird gelegentlich von Fernsehanstalten kontaktiert, die ihn als Moderator für irgendwelche Sendungen gewinnen möchten. Bei näherem Hinsehen stellt er aber regelmäßig fest, dass es sich um unbedeutende Formate handelt, die unter der Woche laufen. Mit der Zweit- oder gar Drittklassigkeit will er sich jedoch auf keinen Fall abfinden. Damit würde sein Marktwert schlagartig in für ihn inakzeptable Tiefen sinken. Aufgrund seiner Absagen und den entsprechenden Begründungen werfen ihm Intendanten gelegentlich Eitelkeit vor, aber er setzt unbeirrt auf sein großes Ziel, eine neue Erfolgssendung zu entwickeln und zu moderieren.

Inzwischen ist es Frühling geworden. Sönke ist noch weit von einem großen Durchbruch entfernt. Natürlich könnte er sich sagen, dass er überhaupt nicht unter Zeitdruck stehe, er ist sich jedoch bewusst, dass die Chancen, ein großes Comeback zu feiern, kontinuierlich sinken, je länger er nicht mehr im Gespräch ist.

Viele Promis versuchen, sich ihren Bekanntheitsgrad mit größeren und kleineren Skandalen zu erhalten, was allerdings ein gefährliches Unterfangen ist. Sönke taugt zu so etwas nicht. Er ist seit 27 Jahren mit derselben Frau verheiratet und hat nicht vor, daran etwas zu ändern.

— 5 —

Ab Mai macht sich bei Sönke allmählich eine zunehmende Ungeduld und Nervosität bemerkbar. Susanne beobachtet die Veränderungen mit Besorgnis. Schon zweimal glaubte er, vor dem Durchbruch zu stehen. Beide Male wurden seine Ideen aber verworfen, weil Teile seiner Sendungsentwürfe aus bereits bestehenden Formaten abgekupfert waren. Natürlich hatte er das nicht mit Absicht gemacht, aber es kommt halt immer wieder mal vor, dass man glaubt, eine geniale Idee zu haben, und dann stellt sich heraus, dass man das irgendwo gesehen oder gelesen hatte und unbewusst in die eigenen Ideen einfließen ließ.

Nervosität und schlechte Laune gehen mit einer schleichenden Steigerung des Weinkonsums einher. Zunehmend schwierig ist es jeweils an den Samstagabenden, an denen die Sendung Drei mal Drei mal Drei ausgestrahlt wird. Je länger er nicht vom Fleck kommt, desto mehr wird Hennes Friedrichsen wieder zu seiner Reizfigur. Dieser ist ja auch weiterhin sehr erfolgreich unterwegs und dies zu verkraften wird für Sönke zur immer höheren Hürde. Weiterhin sind die Medien voll des Lobes über den jungen Moderator.

Da er sich hauptberuflich mit dem Thema Fernsehen befasst, ist Sönke ständig auf dem Laufenden, was sich in der Branche so tut. Dabei muss er feststellen, dass er das Schicksal, abgesetzt worden zu sein, mit etlichen weiteren Moderatoren teilt. Er fängt an, eine Liste seiner Leidensgenossen zu führen. Dabei verfolgt er auch aufmerksam, was weiter aus ihnen wird. Die Bilanz fällt in dem Sinne ernüchternd für ihn aus, dass die meisten bald mit der Moderation einer neuen Sendung wieder im Geschäft sind. Er redet sich ein, dass halt die meisten noch jung und daher darauf angewiesen sind, weiterhin Geld zu verdienen. Aber auf seiner Liste schälen sich doch nach und nach auch einige Namen heraus, bei denen die Situation vergleichbar mit seiner eigenen ist. Zu gerne möchte er von diesen wissen, wie sie mit ihrer Situation klar kommen. Haben sie auch Aversionen gegen ihre Nachfolger entwickelt oder haben sie sich einfach entschlossen, dem Dasein eines Moderators den Rücken zuzukehren und fortan das Leben zu genießen?

Anfang Juni erhält Sönke unverhofft eine E-Mail von Henry Ströbel, der vor drei Monaten seine Samstagabendsendung bei TAS 1 an die Holländerin Linda van Daniel verlor. Henry ist 57 und seine Nachfolgerin nur ein Jahr jünger. Henry sagt, dass er nach und nach richtige Hassgefühle gegenüber Linda entwickelt habe. Dabei könne man ihr doch nicht verübeln, dass sie die ihr angebotene Chance beim Schopf gepackt hat. Eigentlich müsse sich sein Zorn mehr gegen den Intendanten richten, der die Sache ins Rollen brachte, aber der halte sich im Hintergrund und er müsse ihn nicht monatlich auf seinem ehemaligen Sendeplatz ertragen wie die Holländerin, die laut Presse um ein Mehrfaches witziger sei als er. Sönke schreibt ihm zurück, dass er sich gerne einmal mit ihm treffen möchte.

Susanna findet es gut, dass ihr Gatte mit einem Leidensgenossen zusammenkommen will. Vielleicht hilft ihm der Gedankenaustausch, sich besser mit seiner Situation zu arrangieren.

Sönke und Henry treffen sich am 12. Juni in einem Café in Köln, wo sich in einer stillen Ecke ein vertrauliches Gespräch führen lässt. »Und, wie schlägst du die Zeit tot? Du bist ja schon um einiges länger aus dem Geschäft als ich«, kommt Henry gleich zum Thema. »Eigentlich hatte ich geglaubt, ich würde mit links eine neue Sendung auf die Beine stellen und schon bald meine Rückkehr feiern, aber daraus ist nichts geworden. Ich glaube, ich schaff‘ das nicht mehr«, erwidert Sönke, wobei ihm beinahe die Tränen kommen.

»Kopf hoch, Junge, so schnell solltest du die Flinte nicht ins Korn werfen!«, sagt Henry. »Das Format Drei mal Drei mal Drei hast du entwickelt und es ist genial. So viel Talent kann ich nicht vorweisen. Ich war lediglich Moderator einer von einem anderen erfundenen Sendung, den ich übrigens nie kennengelernt habe. Und jetzt will man mich mit irgendwelchem zweit- bis drittklassigem Dreck abspeisen. Aber das tue ich mir nicht an! Lieber lasse ich es mir künftig gut gehen. Geld habe ich genug zur Seite legen können.«

Sönke schaut sein Gegenüber eine Weile durchdringend an, dann erklärt er: »Ich fühle mich mit meinen fünfundfünfzig einfach zu jung, um schon in der Versenkung zu verschwinden. Aber es geht mir wie dir: Mit irgendwelchen unbedeutenden Formaten habe ich nichts am Hut. Wenn ich es nicht mehr schaffe, in der Oberliga zu spielen, lasse ich es lieber bleiben. Aber das mit dem Bleibenlassen ist einfacher gesagt als erduldet. Wenn du behauptest, du könnest dich künftig problemlos zurücklehnen und die Beine übereinanderschlagen, glaube ich dir kein Wort. Es wurmt dich genauso wie mich, sonst hättest du mir nämlich keine E-Mail geschickt und wir säßen jetzt nicht hier beisammen.«

»Wir sollten jetzt wohl besser das Lokal wechseln. Irgendwas, wo es etwas Feines zu essen und etwas noch viel Besseres zu trinken gibt!«, schlägt Henry vor und spricht damit Sönke aus dem Herzen.

Nachdem sie zum ausgezeichneten Fischmenü bereits zwei Flaschen Weißen leer getrunken haben, sind sie sich darin einig, dass jetzt etwas Hochprozentiges an der Bar fällig wäre. Sie lieben denselben Whisky und konstruieren daraus bei zunehmendem Pegel eine Art Seelenverwandtschaft.

Als Sönke und Henry lallen statt sprechen, sagt die Bardame plötzlich: »Irgendwie kommt ihr zwei Spaßvögel mir bekannt vor. Es will mir bloß nicht einfallen, wo ich euch schon gesehen habe.«

»Wir beide sehen Sie aber heute mit Bestimmtheit zum ersten Mal, also können wir uns kaum zuvor begegnet sein. Ich habe nämlich ein ausgezeichnetes Personengedächtnis«, rühmt sich Sönke mit verwaschener Stimme.

Aber die Bardame, auf deren Namensschild Lucy steht, gibt nicht auf. Plötzlich kreuzt sie in Begleitung ihres Chefs auf.

»Sie müssen uns nicht rausschmeißen! Wir gehen!«, erklärt Henry. Der Chef lacht. »Ich bin nicht gekommen, um euch vor die Tür zu setzen!«, erklärt er. »Lucy hat euch nicht erkannt, aber ich schon: Ihr seid die beiden berühmten Fernsehmoderatoren, die vor ein paar Monaten abgesetzt wurden. Ich möchte euch gerne ersparen, dass es peinlich wird, daher schlage ich vor, dass ich jetzt ein Taxi bestelle.«

Als Sönke im Zug Richtung Stuttgart sitzt, wird ihm zunehmend übel. Bald muss er zur Toilette eilen und sich übergeben. Dieses Trauerspiel wiederholt sich noch einige Male und jedes Mal, wenn er sich in der Toilette im Spiegel betrachtet, hat er noch weniger Farbe im Gesicht. »Wenn das so weitergeht, wirst du am Ende noch unsichtbar!«, brummt er vor sich hin. Dann muss er sogar lachen beim Gedanken, dass es manchmal vorteilhaft wäre, unsichtbar zu sein, so zum Beispiel jetzt.

Susanne, die ihn am Bahnhof abholt, sieht gleich, was los ist. Sie will aber keine Szene machen, jedenfalls nicht, solange sie unterwegs sind. Aber je näher sie ihrem Haus kommen, desto mehr fällt es ihr schwer, sich zu beherrschen. Irgendwie schafft sie es, ihren großen Ärger unter Kontrolle zu behalten.

»Am besten legst du dich gleich ins Bett. Vielleicht solltest du vor dem Einschlafen den da oben noch bitten, seine schützende Hand über deine Leber zu halten«, kann sie gerade noch sagen. Dann entfernt sie sich schnell von ihm und lässt ihren Tränen freien Lauf. Wenn das jetzt bloß nicht wieder von vorne anfängt!, geht es ihr durch den Kopf.

Sönke stellt eine große Flasche Mineralwasser neben sein Bett, weil er aus Erfahrung weiß, dass nach einem schweren Rausch durch den Genuss von Hochprozentigem etwas verzögert der große Durst ausbricht.

Susanne ist von Beruf Architektin und Inhaberin eines Architekturbüros mit vier Architekten und zwei Büroangestellten. Sie selber arbeitet nur noch in Teilzeit mit, wobei es sich bei ihrem Einsatz vornehmlich um die Geschäftsführung handelt. Nach dem neuesten Absturz ihres Gatten muss sie den ganzen Tag über arbeiten gehen, weil eine Reihe wichtiger Entscheidungen ansteht. Sie hinterlässt einen Zettel, auf dem steht: Bin arbeiten, könnte später werden. Werde dich gegebenenfalls anrufen.

Sönke erwacht so gegen zehn Uhr. Er fühlt sich um einiges besser, von seiner Stimmungslage mal abgesehen. Das Treffen mit Henry hat ihm eindrücklich vor Augen geführt, dass er vom hohen Ross heruntersteigen und auch weniger lukrative Jobs annehmen muss, sonst ist wohl seine Karriere zu Ende, aber selbst da dürfte für ihn der Zug schon abgefahren sein. Er hatte mehrere Angebote, hat sie aber ohne zu zögern abgelehnt. Schon seit einigen Monaten herrscht nun Funkstille und neue Angebote bleiben aus.

Nach einem starken Kaffee und einem Croissant setzt er sich an den Computer und öffnet die Datei mit seinem letzten Projekt. Es ist der noch ziemlich vage Entwurf einer neuen Samstagabendunterhaltungssendung. Je länger er über die bis jetzt festgehaltenen Details brütet, desto mehr kommt er zu der niederschmetternden Überzeugung, dass es sich um nichts Weiteres als eine schlechte Nachahmung seines Formates Drei mal Drei mal Drei handelt. Eine unbändige Wut ergreift Besitz von ihm. Er löscht nicht nur die Datei mit dem neuesten Projekt, sondern auch alle früheren.

»Du bist genau so erledigt wie Henry und kannst damit anfangen, dich selbst zu belügen wie er. Von wegen eine ruhigere Kugel schieben und das Leben genießen – dann kannst du dir gleich die richtige Kugel verpassen!«, sagt er zerknirscht.

Das Selbstgespräch hat die Funktion eines Überdruckventils und verhindert, dass er seinen Computer gegen die Wand oder aus dem Fenster schmeißt.

Seine nächste Aktivität ist der Gang in den Weinkeller. Er nimmt gleich zwei Flaschen mit nach oben, wo er sich in seinem Sessel niederlässt. Er schaltet den Fernseher ein und fängt an, sich wahllos durch die große Anzahl Sender zu zappen. Gleichzeitig bedient er sich ausgiebig an seinem feinen Rotwein.

Als er bei der zweiten Flasche angelangt ist, springt ihm plötzlich ein ihm wohlbekanntes Gesicht ins Auge. Das ist doch dieser Hennes Friedrichsen! Was hat denn der so früh am Tag im Fernsehen verloren? Noch dazu auf einem Konkurrenzkanal! Sönke versucht, sich zu konzentrieren und dem Gespräch zu lauschen. Es stellt sich heraus, dass Hennes zu seinem Erfolg als Moderator interviewt wird. Tatsächlich geht es darum, dass man Hennes dafür gewinnen möchte, noch eine andere Samstagabendsendung zu moderieren. Wie es aussieht, scheint man sich förmlich um diesen Strahlemann zu reißen!

Dann wird Hennes unvermittelt die Frage gestellt: »Haben Sie eigentlich Kontakt zu Ihrem Vorgänger Sönke Karbacher? Immerhin fällt Ihnen die Ehre zu, die von ihm selber auf die Beine gestellte Erfolgssendung zu moderieren!«

»Nein, leider ist es bis jetzt zu keinem Treffen gekommen, aber ich darf Ihnen verraten, dass ich vorhabe, meinen Vorgänger demnächst als Überraschungsgast in meine Sendung einzuladen!«, verkündet Hennes mit einem breiten Lächeln.

Sönke ist plötzlich hellwach. »Untersteh dich, Großmaul! Meine postwendende Absage wird von einem noch viel breiteren Lächeln begleitet sein«, zischt er.

Er kann nicht mehr ruhig sitzen. Schließlich steht er auf und fängt an, rastlos im Wohnzimmer auf- und abzugehen. Aber er findet immer Zeit, um kurz bei seinem Weinglas Halt zu machen.

»Komm‘ mir bloß nicht zu nahe, sonst schlag‘ ich dir deine Strahlefresse ein!«, droht er, als ob sich Hennes anschickte, aus dem Fernseher herauszukommen und direkt auf ihn zuzugehen.

Anstelle eines Mittagessens steigt Sönke, kaum dass er die zweite Weinflasche geleert hat, auf Hochprozentiges um. Dabei erinnert er sich an Susannes Empfehlung, den Herrn über Leben und Tod darum zu bitten, Sorge für seine Leber zu tragen: »He, du da oben!«, lallt er, »ich möchte deine Hände sehen, die meine Leber schützen sollen!«

Entgegen ihrer Befürchtung kann Susanne pünktlich Feierabend machen. Als sie das Wohnzimmer betritt, trifft sie fast der Schlag: Sönke befindet sich in seinem bequemen Sessel im von lautem Schnarchen begleiteten Tiefschlaf. Neben ihm stehen zwei Rotweinflaschen und eine Schnapsflasche, alle lehr. Der Fernseher läuft mit viel zu laut aufgedrehtem Ton.

Susanne wird von großer Wut gepackt. Sie schaltet lediglich den Fernseher ab, sonst lässt sie alles wie es ist und verlässt das Wohnzimmer. Anstelle des Zettels, den sie am Morgen geschrieben hatte, schreibt sie einen neuen: Ich bin dann mal weg! Dann macht sie sich auf den Weg zu ihrer besten Freundin, um sich bei ihr auszuheulen.

Als sie kurz nach elf zurückkehrt, hat sich an Sönkes Zustand nichts geändert. Daher lässt sie ihn weiterschnarchen und geht nach oben, wo ein zweiter Fernseher steht. Sie schafft es aber kaum, sich auf die Sendung zu konzentrieren. Die ganze Zeit fragt sie sich, was ihrem Mann über die Leber gekrochen ist, dass er sich erneut dermaßen begossen hat. Er ist auf dem besten Weg, zu einem Alkoholiker zu werden, der seine Probleme nicht mehr ohne fremde Hilfe in den Griff bekommt.

Am nächsten Morgen ist es schon nach zehn, als sich Sönke endlich rührt. Als er sich in die Küche begibt, um seine Geister mit einem starken Kaffee zu wecken, setzt sich Susanne zu ihm.

Sie legt ihre Hände auf die seinen: »Ich glaube, wir sollten reden. Findest du nicht auch?«

Er betrachtet sie mit müdem Blick. »Worüber möchtest du denn reden? Meine momentane Form reicht wohl nicht für ein tiefschürfendes Gespräch«, erwidert er.

»Über die Gründe für deine momentane Form möchte ich sprechen!«, erklärt sie. »Was ist der aktuelle Anlass für deine Alkoholeskapaden? Wenn du so weitermachst, richtest du dich in kurzer Zeit zugrunde! Aber falls du auf diesem Weg bleiben willst, musst du das ohne mich tun. Dann bist du nämlich meilenweit entfernt von dem begehrenswerten Mann, den ich vor vielen Jahren kennengelernt habe!«

Eine Träne tropft vor Sönke auf den Tisch, dann noch eine und noch eine. Susanna fühlt sich plötzlich schlecht. Sie hätte ihm nicht so zusetzen dürfen, wo er schon einen fürchterlichen Kater mit sich herumschleppt.

Sie geht um den Tisch herum und stellt sich hinter ihn, die Hände auf seine Schultern legend. »Entschuldigung, ich will dir nicht wehtun«, sagt sie leise, »wir können über dein Problem reden, wenn es dir besser geht. Aber du solltest dann deinem Kater schon für eine Weile keinen Nachschub zuführen. Denk‘ an deine Leber und deine Gehirnzellen!«

Nachdem er sich noch mal hingelegt hat, geht es ihm am Abend deutlich besser. Als das Abendessen beendet ist, schickt er sich an, sich in Richtung Wohnzimmer zu verabschieden.

»Ich möchte dich bitten, noch eine Weile sitzen zu bleiben«, startet Susanne den Versuch, das Gespräch, welches am Vormittag im Sand verlaufen war, wieder aufzunehmen.

Etwas widerwillig lässt sich Sönke wieder auf den Stuhl sinken, den Kaffee vor sich hinstellend. »Worüber möchtest du denn reden? Möchtest du mir endlich ins Gesicht sagen, wie tief ich gesunken bin? Aber das muss mir doch niemand mehr erklären, das weiß ich doch längst!«, bricht es aus ihm heraus.

»Aber du hattest doch wieder ein vielversprechendes Projekt in Arbeit, oder täusche ich mich?«, wundert sich Susanne.

»Ich habe nicht nur mein neuestes, sondern auch alle früheren Projekte gelöscht! Ja, mein Computer ist so leer, dass ich ihn gleich verkaufen oder besser wohl verschenken sollte! Hiermit erkläre ich offiziell das Ende meiner Karriere!«, stößt er bitter hervor.

»Aber warum hast du das denn getan? Das hättest du doch wenigstens vorher noch mit mir besprechen können!«, erwidert sie. »Deine Beratung hätte mir ja wohl kaum weitergeholfen! Du bist Architektin und nicht Fernsehmoderatorin!«

Nach einigem Schweigen fährt er fort: »Henry Ströbel geht es genauso wie mir, er weiß auch nicht weiter! Ja, da haben sich zwei Versager getroffen, die sich darin einig waren, dass dies gehörig begossen werden musste. Aber da ist noch etwas, das mich völlig aus der Schiene gekippt hat: Der Hennes will mich in eine seiner nächsten Sendungen als Überraschungsgast einladen! Das Gerücht geht um, dass dieser Angeber bald auch die zweiterfolgreichste Samstagabendsendung im DRA übernehmen wird! Das alles ist zu viel, um es in nüchternem Zustand zu ertragen!«

»Der Auftritt in Friedrichsens Sendung wäre doch die ideale Gelegenheit, um dich bei den Medienschaffenden in Erinnerung zu bringen. Diese Chance solltest du dir nicht entgehen lassen!«, meint Susanne.

»Nein, nein, meine Liebe – diese Erniedrigung werde ich mir nicht antun! Es wird mir viel Freude bereiten, Hennes einen Korb zu geben!«, erklärt er entschieden.

»Solltest du beabsichtigen, den Alkohol zu deinem einzigen Lebensinhalt zu machen, wirst du das ohne mich tun müssen, mein Lieber! Irgendetwas halbwegs Gescheites müsstest du mit deinem Leben schon noch anfangen!«, sagt sie. Dann bricht sie in Tränen aus und rennt aus der Küche.

Diesen Abend und die nächsten beiden Tage rührt Sönke keinen Tropfen Alkohol an. Aber am dritten, an dem für Susanne ein volles Arbeitspensum in ihrer Firma ansteht, ist die Schonzeit abgelaufen. Als sie am Abend noch Hause kommt, ist er zwar noch wach, aber dafür stockbesoffen. Er macht sogar noch einen plumpen Annäherungsversuch bei ihr.

Angeekelt stößt sie ihn von sich weg. »Falls du dich aufraffen kannst, im Bett zu schlafen, werde ich ins Gästezimmer gehen. Dein Schnarchen wird mir sonst den Schlaf rauben!«, macht sie ihm klar. »Ich hatte gehofft, ich könnte mich wieder einmal zu dir legen!«, lallt er, »aber wenn du mich nicht willst, bleibe ich halt im Sessel!«. »Von wegen nicht wollen – das liegt an deiner Verfassung! Ich weigere mich, mit einem Säufer ins Bett zu gehen, verstehst du?«

— 6 —

Als sich abzeichnet, dass Sönke zum Gewohnheitstrinker geworden ist, sieht sich Susanne nach einer Wohnung um. Dank ihrem Beruf und den bestehenden Beziehungen ist das schnell erledigt. Als sie sich Anfang August unter Tränen von ihm verabschiedet, betrachtet er sie nur ungläubig und ist außerstande, irgendetwas zu sagen.

Allmählich realisiert Sönke, dass er jetzt auf sich allein gestellt ist. Das zwingt ihn, den Alkoholkonsum so weit zu drosseln, dass er noch zu gewissen Handlungen in der Lage ist. Als er jedoch Mitte August mit seinem Auto unterwegs zum Einkaufszentrum ist, wird er von der Polizei angehalten. Der Alkoholtest ergibt deutlich über ein Promille und er ist seinen Führerschein los.

»Gut, dass du den Computer nicht aus dem Fenster geworfen hast, den brauchst du jetzt für das Einkaufen, sonst musst du alles mit Zug und Bus nach Hause schleppen!«, murmelt er.

Zweimal schaut Susanne bei ihm vorbei, und beide Male muss sie feststellen, dass Sönke jetzt einen Dauerpegel aufweist. Bevor sie sich beim zweiten Besuch verabschiedet, das ist Ende September, rät sie ihm dringend zu einer Entziehungskur.

»Da du nicht mehr bei mir wohnst, geht dich das doch einen Scheiß an!«, gibt er lallend zur Antwort.

Aber Susannes Rat bleibt hartnäckig in Sönkes Ohren haften, er kann einfach nichts dagegen tun. Immer wieder findet der Satz den Weg in sein benebeltes Hirn.

Um Mitte Oktober herum rafft er sich zu einem Versuch auf. Als er eines Morgens erwacht und sich gleich wieder so richtig mies fühlt, fasst er den Entschluss, keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren. Den ganzen Tag über hält er durch, doch am Abend machen sich erste Entzugserscheinungen bemerkbar und er sieht ein, dass das ein harter, womöglich hoffnungsloser Kampf werden würde.

»Vermutlich musst du deinen Pegel etwas dosiert herunterfahren, sonst macht das dein Körper nicht mit«, überlegt er.

Als Erstes will er die Finger vom Schnaps lassen, der Konsum von Rotwein soll vorerst noch erlaubt sein.

Nachdem er sich eine halbe Flasche genehmigt hat, breitet sich eine wohlige Wärme in seinem Körper aus. Er kann danach sogar lange und ausgiebig schlafen.

Aber am nächsten Tag macht sich der Nachschubbedarf schon früh bemerkbar. Er beschließt, sich über den ganzen Tag verteilt eine Flasche Rotwein zuzugestehen. Danach soll es jeden Tag etwas weniger werden. Er verbringt viel Zeit draußen an der frischen Luft und fährt seinen Tageskonsum erfolgreich auf eine halbe Flasche herunter.

Dann entnimmt er eines Morgens der Presse, dass sich Hennes Friedrichsen tatsächlich jetzt auch noch das Samstagabendformat Die IQ-Monster im öffentlich-rechtlichen Sender DRA geangelt hat. Dies ist hinter Drei mal Drei mal Drei die zweiterfolgreichste Unterhaltungssendung überhaupt. Da die beiden Formate nicht an denselben Samstagen ausgestrahlt werden, kann Superhennes, wie er in den Medien genannt wird, problemlos beide Moderationen übernehmen. Den bisherigen Moderator, Pit Schelling, hat das gleiche Schicksal ereilt wie Sönke.

Mit der Verzögerung von einem Tag erfolgt die nächste Attacke auf Sönkes Enthaltsamkeitsversuch.

Eine Frau Martins meldet sich per Telefon bei ihm: »Hallo, Herr Karbacher, wie geht es Ihnen?«

»Wie es einem Gescheiterten halt so geht«, gibt Sönke kurzangebunden zur Antwort.

»Ich rufe Sie im Auftrag von Hennes Friedrichsen an«, fährt sie fort, »er möchte Sie gerne als Überraschungsgast in die Dezembersendung von Drei mal Drei mal Drei einladen. Sie werden doch sicher gerne die Gelegenheit wahrnehmen, wieder einmal vor großem Publikum zu stehen! Dürfen wir mit Ihrer Zusage rechnen?«

Sönke muss sich unheimlich beherrschen, um nicht ausfällig zu werden. »Dürfen Sie leider nicht«, erklärt er, »mein derzeitiger Gesundheitszustand verunmöglicht mir einen solchen Auftritt. Tut mir leid!«

»Oh, Entschuldigung! Wir hatten natürlich keine Ahnung, dass Sie krank sind!«, sagt Frau Martins, »ich hoffe, dass es nichts Ernstes ist! Vielleicht sind Sie ja bis im Dezember wieder auf dem Damm! Wir könnten doch Ihren Auftritt provisorisch einplanen. Sollte es dann wieder Erwarten doch nicht gehen, kann Herr Friedrichsen während der Sendung immer noch erklären, dass Sie krankheitshalber verhindert sind.«

»Es ist schon jetzt abzusehen, dass ich verhindert sein werde! Also müssen Sie meine Absage zur Kenntnis nehmen und sich damit abfinden!«, erwidert Sönke, nun ziemlich gereizt.

Frau Martins verabschiedet sich dementsprechend recht kurzangebunden.

Sönke bleibt noch eine ganze Weile benommen sitzen. Sein emporgeschnellter Puls lässt sich mit dem Absinken reichlich Zeit. Während er rastlos im Haus herumirrt, im Versuch, sich zu beruhigen, wird ihm plötzlich bewusst, dass ihm sein Status als Promi völlig abhandengekommen ist, andernfalls hätte sein Alkoholismus längst die Runde durch alle Medien gemacht. Das Gleiche gilt für den Auszug seiner Frau.

»Gott sei Dank hat das keiner mitgekriegt. Diese Art von Publicity hätte mir gerade noch gefehlt«, murmelt er vor sich hin.

Dass er jetzt aber mit seiner Absage eine regelrechte Hetzjagd auf sein Privatleben in Gang gesetzt hat, wird ihm schon kurz darauf klar. Alles fängt mit kurzen Artikeln in den Medien voller Fragezeichen an: Was ist los mit dem legendären Sönke Karbacher? – Alles rätselt, weshalb er einen Auftritt in Hennes Friedrichsens Sendung ablehnt. Ist er wirklich krank oder lediglich gekränkt? – Will er womöglich einfach seinem extrem erfolgreichen Nachfolger aus dem Weg gehen?

In den nächsten Tagen melden sich ständig Reporter am Telefon, um mit Sönke über seine Absage zu reden. Einige erkundigen sich sogar, ob sie vorbeikommen dürfen. Urplötzlich ist sein Privatleben wieder ins Interesse der Öffentlichkeit geraten, man wittert eine Story.

Obwohl er alle Neugierigen kurzangebunden abwimmelt, kann Sönke sie sich letztendlich nicht ausreichend vom Leibe halten. Immer wieder lauern ihm welche auf und belagern ihn, sobald er das Haus verlässt. Ganz sachte finden Details über seine Befindlichkeit ihren Weg nach außen, wenn er auch noch so darum bemüht ist, dies zu verhindern. Während am Anfang hinter Alkoholismus noch ein Fragezeichen stand, ist inzwischen sein Leiden