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Elisabeth Jucker

Unterwegs in Sikkim

Die abenteuerliche Reise durch das ehemalige Königreich Sikkim führt nach Rumtek, Gangtok, Kewzing, Rinchenpong, Pelling und Yuksam.

Wanderungen durch die dünn besiedelte Landschaft, Besuche von oft unbekannten Klöstern und Kontakte mit einheimischen Menschen haben Elisabeth Jucker die animistisch geprägte buddhistische Kultur, die Sitten und Bräuche Sikkims näher gebracht.

Ihr Interesse galt vor allem den Menschen, wie sie leben, welche Sorgen sie umtreiben, was sie erstrebenswert finden, wie sie denken und wovon sie träumen.

Ihr junger, pfiffiger und kluger Guide vom Volk der Bhutia war der ideale Begleiter. Er hat ihr über Land und Leute und auch viel aus seinem eigenen Leben erzählt.

Elisabeth Jucker

Unterwegs in

Sikkim

Kultur- und Wanderreise
im ehemaligen Königreich

Umschlagfoto: Windbetriebene Gebetsmühle, Tashiding Monastery

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d­nb.de abrufbar.

© 2018 Elisabeth Jucker

Umschlag, Gestaltung, Satz: ju­design.ch

Fotos: Elisabeth Jucker

Lektorat: Evelyne Roth

Verlag: Tredition GmbH, Hamburg

PaperbackISBN 978-3-7439-7671-9

e-BookISBN 978-3-7439-7672-6

Inhalt

Sikkim, das ehemalige Königreich

Ankunft in Sikkim

Tag 1: Delhi, Bagdogra, Rumtek

Zu Fuss unterwegs zum Bhutia-Dorf

Tag 2: Bhutia-Dorf mit Kloster, Rumtek Monastery

City-Tour in Gangtok

Tag 3: Institut für Tibetologie, Kunsthandwerkszentrum, Orchideen-Ausstellung

Wanderung zum wenig bekannten Rey Monastery

Tag 4: Rey Caten Monastery in Mindu Bustay

Fahrt nach Kewzing

Tag 5: Siriwani, Temi, Damthang, Rabongla, Kewzing

Bön-Tempel, heilige Höhle und heisse Quelle

Tag 6: Kewzing, Tingmo, Reshi Bazar, Rinchenpong

Zu Fuss durch Kastanienwälder

Tag 7: Gurung Monastery, Resum Monastery, Rinchenpong Monastery

Fahrt nach Pelling zum Kloster Pemayangtse

Tag 8: Dentam, Singsore Bridge, Rabdentse Ruins, Pelling, Pemayangtse Monastery

Wanderung vom Khecheopalri See nach Yuksam

Tag 9: Pelling, Sanghak Chöling Monastery, Khecheopalri Lake, Yuksam

Spaziergang durch Yuksam

Tag 10: Yuksam, Norbugang Chörten, Kathok Lake, Dubdi Monastery

Lange Fahrt nach Darjeeling

Tag 11: Tashiding Monastery, Reshi, Jorethang, Melli, Darjeeling

Unterwegs in Darjeeling

Tag 12: Tea Garden View, Tibetan Refuge Camp, Peace Pagoda

Der berühmte Toy-Train

Tag 13: Darjeeling Himalayan Railway, Bergsteigermuseum, Happy Valley Tea Estate

Nach Bagdogra zum Flughafen

Tag 14: Darjeeling, Melli, Shiliguri, Bagdogra, Delhi

Nach der Reise

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Für Tseten Lakpa Bhutia und Ashis Lama mit herzlichem Dank für ihre Begleitung und die vielen Geschichten, die sie mir erzählt haben.

Sikkim, das ehemalige Königreich

Das Geschenk, das mir Bhila am Flughafen von Bagdogra zum Abschied überreicht hat, steckt in meinem Rucksack. Nach dem langen Flug endlich zu Hause, nehme ich die in Zeitungspapier gewickelte kleine Schachtel heraus. Im Norden Indiens wird nichts verschwendet, ob Gemüse, Fisch, Süssigkeiten oder – wie in meinem Fall – ein Geschenk, alles wird in Zeitungspapier eingeschlagen. Es befinden sich zwei grüne, mit feuerspeienden blauen Drachen bemalte Porzellanschalen darin. Blau und grün gehören zu meinen Lieblingsfarben, das hat Bhila in den vergangenen zwei Wochen herausgefunden. An der einen Schale entdecke ich einen kaum sichtbaren Haarriss. Schade. Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen. Normalerweise liegen mir solche Schlussfolgerungen fern, doch vielleicht hat Sikkims buddhistische Kultur bereits Spuren hinterlassen. Alles hängt zusammen. Nichts ist zufällig.

Sikkim, das gebirgige Land im östlichen Himalaja, das zwischen Nepal und Bhutan liegt und vom westlichen Tourismus kaum wahrgenommen wird, ist ein ehemaliges Königreich und gehört seit 1975 zu Indien. Seine Berge zählen zu den höchsten der Welt, doch da die Gipfel des Kangchendzönga­-Massivs heilig sind und nicht bestiegen werden dürfen, fehlen die Rekorde, über die berichtet werden könnte.

Mit 600 000 Menschen auf einer Fläche von 7000 km2, wovon der nur am südlichen Rand besiedelte Nord­-Distrikt über die Hälfte einnimmt, ist Sikkim ein sehr kleines Land.

Meine Reise dauerte vom 25. März bis am 9. April 2017. Begleitet wurde ich von Bhila, der zur Ethnie der Bhutia gehört und somit zu den Urvölkern Sikkims zählt. Er zeigte mir das Land mit allen Schönheiten und Gegensätzen. Ashis fuhr uns in seinem Toyota Innova sicher durch die unvorstellbarsten Strassenverhältnisse und Verkehrssituationen. Die beiden jungen Männer bildeten das perfekte Team. Jeden Morgen standen sie neben dem frisch gewaschenen Auto und begrüssten mich fröhlich und gut gelaunt:

«Good morning, Mädm!»

Diese Anrede behielten sie bei. Das Angebot, mich beim Vornamen zu nennen, lehnten sie ab. Sie wussten, dass das bei uns üblich ist, doch hier, in ihrer Kultur galt diese unmittelbare Anrede als respektlos. Beide waren um die dreissig, ich über sechzig. Bhila sagte, es würde ihm schwer fallen, mich einfach beim Vornamen zu nennen, weil bei ihnen auch im täglichen Umgang immer die Angabe einer Verbindung wie Bruder, Onkel, Schwester oder Schwager verwendet werde. Im Dorf kann ein Verwandter als Bruder angesprochen werden, etwa ein Cousin. Ausserhalb des Dorfes ist ein Bruder jemand, der aus dem gleichen Ort stammt. So entstehen grosse Beziehungsnetze und ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Nach der zweiwöchigen Reise nannte mich Bhila beim Abschied «Amala», das soviel wie Patin bedeutet. Diese Anrede hätte mir besser gefallen als «Mädm», aber sie erforderte ein Vertrauensverhältnis, das aufzubauen seine Zeit gebraucht hatte.

Einen passenden Reiseführer als Vorbereitung für die Reise fand ich nicht, jedoch boten Wikipedia und diverse Blogs viele Informationen. Die Bücher «Faszinierendes Sikkim» von Margarete Franz und «Trekking in Sikkim und Darjeeling» von Sabine Riese habe ich gern gelesen.

Mein Buch ist kein Reiseführer. Es geht darin nicht um Routenbeschreibungen, Hoteltipps oder Informationen über Sehenswürdigkeiten, sondern um mein persönliches Erleben, um meine subjektive Wahrnehmung. Ich erzähle von den Begegnungen mit Sikkims Menschen, ihrer animistischen und buddhistischen Kultur, von Urwäldern, Bergen und Flüssen, den guten und schlechten Strassen, den zerstreuten Siedlungen, Dörfern und Städten, die ich besucht habe, und ich erzähle über mein stetes Bemühen zu verstehen.

Vieles, was den Buddhismus betrifft, ist mir durch Bhilas Erklärungen verständlicher geworden. Er besitzt die Fähigkeit, sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen und seine Erläuterungen dem jeweiligen Wissensstand anzupassen. Manchmal waren es einfache Grundlagen, die er mir zuerst erklären musste, damit ich die Zusammenhänge verstehen konnte. So erfasste er den Kern meiner Fragen meistens gut und beantwortete sie sozusagen interkulturell. Es ist eine Begabung, sich in andere Denkweisen hineinzuversetzen. Das ist ihm gut gelungen, und mir – so hoffe ich – ebenfalls ein wenig.

Der Buddhismus ist eine komplizierte Religion. Warum die Menschen verschiedene Wiedergeborene verehren, ist mir erst durch Bhilas Einführung klar geworden. In den westlichen Köpfen gibt es den stillen, meditierenden Buddha, der in vielen asiatischen Ländern verehrt wird, der ruhig dasitzende, erhabene Buddha, dessen Leben und Erleuchtung Hermann Hesse in seinem Buch «Siddhartha» beschrieben hat. Dieser verehrte Buddha taugt jedoch nicht für die Bergvölker im Himalaja. Diese sind aus einer animistischen Religion in den Buddhismus hineingewachsen. Hier in dieser rauen Gegend braucht es einen zornigen Buddha, den Guru Padmasambhava, der die Dämonen vertreibt, die in den Bergen und Höhlen hausen, so dass sich die Menschen weniger fürchten müssen. In meiner ersten Nacht im faltigen Gebirge wurde ich von einem grollenden Rütteln aufgeweckt. Das Gefühl des Ausgeliefertseins ist mir noch gegenwärtig. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass das Erdbeben eine Stärke von 4,5 aufgewiesen und vier Sekunden gedauert hatte.

Das Nich­t-töten­-dürfen und trotzdem Fleischessen hat bereits auf meiner Reise in Bhutan zu interessanten Diskussionen geführt. Bhila erklärte mir nun auf einfachste Weise, warum er als Bhutia und Buddhist Fleisch essen darf: «Bergvölker können Fleisch verdauen, weil sie es brauchen. In dieser rauen Gegend, wo die Menschen manchmal tagelang unterwegs sind, reichen die leicht verbrennbaren Kohlenhydrate nicht aus. Als Buddhisten dürfen sie nicht töten, aber ist das Tier einmal tot, kann es gegessen werden.»

Auf meine Frage, wer es denn töte, sagte er, dass die Metzger häufig Moslems seien. Auch Jagen ist den Urvölkern in gewissen Fällen erlaubt. Ich werde die Geschichte von Bhilas Grossvater, der seine Braut bei einem Wettschiessen gewonnen hat, später erzählen.

Was mir an Bhila gefiel und uns auf Augenhöhe diskutieren liess, war unsere übereinstimmende Ansicht, dass der Glaube und seine Legenden hilfreich sind, um das Leben zu verstehen und zu bewältigen. Nicht alle Menschen benötigen das im gleichen Ausmass. Seiner Meinung nach sind wir im Westen so verwöhnt, dass wir uns locker über alle Arten von Glauben und Aberglauben mokieren können, wir leben bereits im Paradies und müssen nicht mehr danach streben.

Ich bin keine Expertin, weder für Kultur noch für Religion, ich interessiere mich für die Menschen, wie sie leben, wie sie denken, was sie erstrebenswert finden und wovon sie träumen. Die Geschichten und Legenden gebe ich so wieder, wie ich sie gehört, verstanden und in Erinnerung behalten habe. Die Namen von Ortschaften, Flüssen und Bergen findet man in verschiedenen Schreibweisen. Meine Auswahl entspricht meistens der deutschen, manchmal der englischen Version, oft ist sie phonetisch.

Gutes Kartenmaterial zu finden war schwierig. Die monochrome topografische Karte (nach schweizerischem Standard), die ich unterwegs kaufte, hätte eine Lupe erfordert, um die Linien der Höhenkurven, Strassen, Wege und Flüsse zu verfolgen. Die «Trekking­-Map Sikkim 1:150 000», die allerdings aus Nepal stammt, bot einen guten aber groben Überblick. Manchmal zeichnete ich die Routen mittels GPS per Smartphone auf (die Runtastic-­App eignet sich gut), auswerten liessen sich die Daten jedoch erst zu Hause.

Nun werde ich mit Hilfe meiner täglichen Reisenotizen zu schreiben beginnen und die Leserinnen und Leser bitten, mich auf der Reise von Delhi nach Bagdogra, Rumtek, Gangtok, Kewzing, Rinchenpong, Pelling, Yuksom, von dort nach Darjeeling und wieder zurück nach Bagdogra zu begleiten.

Bhila hat mir ausdrücklich erlaubt, dass ich alles, was er mir erzählt, weitergeben darf. An dieser Stelle möchte ich ihm ganz herzlich dafür danken!

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Grenzübergang in Rongphu

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Unterwegs in Sikkim

 

Tag 1: Delhi, Bagdogra, Rumtek

Ankunft in Sikkim

Endlich geht es los. Swiss­-Flug 146 ist zum Einsteigen bereit – und ich ebenfalls. Nach acht Stunden landen wir mit etwas Verspätung in Delhi und somit in einer anderen Welt.

Zuerst heisst es beim E­-Visa­-Schalter anstehen. Dieses Einreiseprozedere steckt noch in den Kinderschuhen. In meinem Fall sind mehrere internationale Flüge gleichzeitig angekommen, das heisst, dass man unter Umständen viele Stunden warten muss, bis jede einreisende Person ihre zehn Fingerabdrücke hinterlassen hat. Die Geräte funktionieren nicht richtig. Auch ich muss meine Finger mehrmals benetzen und auf die Glasplatte legen. Die Stimmung ist angespannt, weil immer wieder einzelne Personen vorne eingeschleust werden.

Das Geldwechseln geht zügig voran. Dinesh, ein junger Mann der lokalen Reiseagentur, der den Auftrag hat, mich zum Hotel zu bringen, erwartet mich am Ausgang, nimmt mein Gepäck und führt mich zum Taxi. Nun sollte nichts mehr schiefgehen. Beim Hotel «Lemon Tree» angelangt, gebe ich dem Taxifahrer ein Trinkgeld und passiere die Sicherheitsschleuse. Doch wo ist mein Gepäck? – Ich kehre zum Auto zurück. Der Kofferraum ist leer. Schockstarre! Niemand hat meine gelbe Tasche eingeladen. Dinesh schaut an mir vorbei. Vermutlich ist sie hinter dem Auto stehengeblieben. Um über Schuld zu streiten, bleibt keine Zeit. In rassigem Tempo fahren wir zurück zum Flughafen. Dort steht sie, scharf bewacht von drei Polizisten. Immerhin ist sie noch da. Nach der Identifikation dürfen wir sie einladen. Ich brauche nicht zu schildern, welche abenteurlichen Szenarien mir auf der rasanten Fahrt durch den Kopf gegangen sind.

Nach einer kurzen Nacht gibt es Frühstück vom Buffet. Zwei Stunden vor Abflug treffe ich wieder am Flughafen ein. Meinem Begleiter passiert ein weiteres Missgeschick. Weil er es – so nehme ich an – besonders gut machen will, nimmt er meine gelbe Tasche und eilt zum Check­-In. Es geht zügig voran, doch leider stehen wir bei der falschen Airline in der Warteschlange. Da wir genug Zeit haben, ist es kein Problem.

GoAir G8-­153 startet pünktlich um 11.25 Uhr. Der Flug nach Bagdogra in Westbengalen dauert zwei Stunden. Langweilig wird es mir nicht inmitten einer indischen Grossfamilie. Ob im Zug, Bus oder Flugzeug, es spielt sich die immer gleiche Szene ab: Jemand von der Familie muss neben der fremden Frau sitzen, aber wer? Meistens wird ein Kind beordert, manchmal ergibt sich ein junger Mann dem unvermeidbaren Schicksal. Später, wenn alle sehen, dass nichts passiert, werden die Sitze dann munter gewechselt. So auch auf diesem Flug, zuerst sitzt ein Vater mit seiner kleinen Tochter neben mir, später zwei Knaben, die mit digitalen Spielen beschäftigt sind, danach Mädchen, die sich über Sitzreihen hinweg necken. Ich beobachte die Erwachsenen, die zur Freude der Flight Attendants im Gang herumstehen und sich gutgelaunt unterhalten. Die Männer tragen sportliche Freizeitkleidung, Jeans und Poloshirt, nur einer trägt ein langes Hemd und die muslimische Kopfbedeckung, eine randlose weisse Kappe aus Stoff. Die schlanken Frauen sind schick gekleidet und reich geschmückt. Die Kinder gehören zu den vier jüngeren Paaren. Eine genauere Zuordnung ist schwierig. Dann gibt es ältere Frauen, durchwegs in Saris gekleidet, die sich vorteilhaft an die üppigen Formen anpassen. Tanten, Grossmütter? Ich kann nur raten. Die älteren Männer in Hemden, die lose über Bauch und Bund hängen, wirken farblos und missmutig. Vielleicht ist die Gesellschaft unterwegs an eine Hochzeit oder Familienzusammenkunft.

Der Ankunftsbereich des für die Gegend wichtigen Flughafens ist gut überschaubar. Nach der überpünktlichen Landung und noch bevor die Koffer auf dem Rollband liegen, sehe ich beim Ausgang den jungen Mann mit dem Schild von Himalaya Tours, meinem Reiseorganisator. Er macht einen netten Eindruck. Wir winken uns zu. Als ich neben ihm stehe, stelle ich fest, dass er einen halben Kopf kleiner ist als ich. Das bin ich mich nicht gewöhnt. Ich werde auf der Reise durch Sikkim noch merken, dass die Urvölker, Bhutia und Lepcha, durchwegs kleine Menschen sind.

Bereits um 14 Uhr, eine halbe Stunde nach der Landung, sind wir unterwegs nach Rumtek, der ersten Etappe meiner Reise.

Tseten Lakpa Bhutia, so heisst mein Guide, ist ein freundlicher junger Mann. Ich soll ihn Bhila nennen. Den Grund dafür nennt er mir auch gleich. Sein Bruder heisst ebenfalls Tseten, so wird eine Verwechslung vermieden. Warum gibt man zwei Söhnen den gleichen Vornamen? Meine Frage beantwortet er mit einem Schulterzucken. Sein Vater hat es so entschieden. Der mittlere Name Lakpa bedeutet, dass er an einem Mittwoch geboren ist. Der Nachname verweist darauf, dass er der Ethnie der Bhutia angehört.

In den kommenden zwei Wochen wird mir Bhila sein Heimatland Sikkim, seine Kultur, den animistisch geprägten Buddhismus, die wilde Natur, die majestätischen Berge, die freundlichen und zufriedenen Menschen auf unvergessliche Weise nahebringen.

Der Fahrer heisst Ashis Lama, ist 32-­jährig und gehört weder zu den Bhutia noch zu den Lepcha. Ich nehme an, dass er ursprünglich aus Nepal stammt. Lama ist dort der Name einer Volksgruppe. Sein Auto, das er sorgfältig pflegt, ist ein komfortabler Toyota Innova. Die hintere Sitzbank ist mit einem Teppich ausgelegt, Sicherheitsgurten braucht es nur vorne. Als Bhila merkt, dass ich zögere, hinten einzusteigen, bietet er mir seinen Sitz neben dem Fahrer an. Unentschlossen lehne ich ab. Ich kann ja immer noch wechseln, wenn es mir hinten zu unbequem ist. Vorne wäre die Sicht natürlich besser. Das Thema beschäftigt mich eine Weile. Beim Fahren merke ich, dass es für den Rücken nicht schlecht ist, weil ich die Schaukelbewegungen aufrecht sitzend ausgleichen muss. Zudem kann ich nach Belieben die Seite wechseln.

Die Hinterköpfe meiner Begleiter gleichen sich aufs Haar und reizen mich zu einem Kommentar nicht wegen der Form, sondern wegen der Frisur. Der Kopf ist rundum geschoren, oben bleibt ein etwa fünf Zentimeter breiter Streifen mit längeren Haaren, die schwungvoll nach rechts hinten frisiert sind. Ich habe diese Frisuren auch bei uns schon gesehen. Ich frage, ob dieser Style die neuste Mode sei. Beide grinsen: «Yes, Mädm!»

Der Weg nach Rumtek folgt dem Lauf der Tista. Der Fluss entspringt den Gletschern im obersten Norden, mündet in den Brahmaputra und endet schliesslich im Golf von Bengalen. Schlauchboote treiben auf dem Wasser, River Rafting ist eine beliebte Touristenattraktion.

Nach anderthalb Stunden erreichen wir eine kleine Ortschaft und legen eine Pause ein. Bhila führt mich auf die Veranda im Obergeschoss eines Restaurants. Hier sitze ich allein zwischen Gebetsfahnen und aufgehängten Wäschestücken, blicke auf den Fluss hinunter und höre den Lärm der Strasse. Die Temperatur liegt um die 20 °C mit einer angenehmen Luftfeuchtigkeit. Schon bald werden mir Chai und Momos serviert. Es ist kein Touristenort, die Leute sind zurückhaltend, was nicht heisst, dass sie mich nicht beobachten. Die mit Gemüse gefüllten Teigtaschen schmecken mir. Dazu gibt es eine scharfe rote Sauce.

Mir fallen die kräftigen Farben auf, die Brüstung der Veranda ist dunkelgrün gestrichen, die Hauswand senfgelb, der Türrahmen in einem leuchtenden Rot. Links und rechts davon hängen schwarz gerahmte Aquarelle mit Blumensujets, Margerite und Primel.

Nun bin ich also hier, angekommen in der Wirklichkeit dieses ehemaligen Königreichs zwischen Nepal und Bhutan, das ich so oft auf der Karte gesucht und mit Google Earth erkundet habe.

Dass die Männer nicht mit mir essen wollen, kenne ich von früheren Reisen, sie fühlen sich unwohl und unbeholfen mit unserem Besteck und essen lieber von Hand, was sie in unserer Gegenwart jedoch ungern tun. Was sie selber essen, interessiert mich sehr. Mit der Zeit werden sie merken, dass mir nicht nur Momos und Nudelsuppen schmecken.

Weiter fahren wir südöstlich der Tista, auf der westbengalischen Seite bis nach Rongphu. Dort, wo der Rangpo in die Tista fliesst, überqueren wir eine Brücke und gleichzeitig die Grenze zu Sikkim.

Bhila erledigt die Formalitäten, die für meine Einreise nötig sind. Dazu braucht er den Pass und das E­-Visum. Im Tourist Information Center wird mir eine Aufenthalts­- und Reisebewilligung für dreissig Tage ausgestellt. Eine Verlängerung auf maximal sechzig Tage wäre möglich, was für mich nicht in Frage kommt, da meine Reise fest geplant ist. Bei einem Trekking könnte das anders aussehen.

Die Regionen, die ich besuchen darf, sind definiert. In Nord­-Sikkim gehört nur ein kleines Gebiet dazu. Wegen seiner Nähe zu China ist Sikkim «Restricted Area». Eine Reiseerlaubnis für Einzelpersonen gibt es erst seit kurzem, vorher musste man als Gruppe unterwegs sein, was mindestens zwei Personen bedeutete.

Ich lege das gefaltete Papier in meinen Pass, um es bei Bedarf vorweisen zu können. Bei der Ausreise werde ich das Dokument wieder abstempeln lassen.

Nach der Grenze stelle ich überrascht fest, dass alles ein wenig netter aussieht. Die Häuser sind bunter. Es liegt weniger Abfall herum. Die Brücke hat uns in ein anderes Land geführt. Singtam, Radang, Ranipul sind Orte, die am Weg liegen, und ich frage mich schon, wie wir die fehlenden Höhenmeter bis nach Rumtek, das auf 1550 m ü. M. liegt, schaffen werden. Kaum gedacht, wird die Strasse steiler, und wir gewinnen schnell an Höhe. Die Abzweigung nach Gangtok, der Hauptstadt Sikkims, lassen wir rechts liegen, fahren weiter durch die gebirgige Gegend mit saftig grünen subtropischen Wäldern, terrassierten Hängen und zerstreuten Siedlungen.

Um halb sieben treffen wir im Hotel «Bamboo Retreat» ein und werden freundlich empfangen. Es ist bereits dunkel, so dass ich von der Umgebung nicht viel sehe. Im Essraum flackert ein Feuer.

Schon bald sitze ich vor dem Cheminée und strecke meine Beine unter dem niederen Tischchen aus. Das traditionelle Essen, das mir serviert wird, besteht aus Reis und verschiedenen Beilagen. Dazu trinke ich frischen, mit Stevia gesüssten Pfefferminztee. Ich bin der einzige Gast.

Das «Bamboo Retreat» ist ein sogenanntes Boutique Hotel mit verschieden gestalteten Zimmern. Es gibt einen Meditationsraum, eine Bibliothek, einen Aufenthaltsraum und einen wunderschönen, terrassierten Garten. Im Zimmer «Mandarine» dominieren Orangetöne. Ein kleiner Heizlüfter sorgt für eine komfortable Temperatur. Die Bedienung der Dusche ist genau beschrieben: Heisswasserhahn rechts nach links drehen; Kaltwasserhahn links nach rechts … Es ist alles andere als einfach, die Temperatur zu regeln, gefühlsmässig drehe ich falsch herum. Die Bettwäsche riecht nicht gerade frisch. Doch da ich den Standard in diesem Land noch nicht kenne, nehme ich die Umstände als gegeben hin, warum sonst steht auf allen Ausrüstungslisten, dass man einen Seidenschlafsack einpacken soll.

Um neun liege ich im Bett, ziemlich müde von den vielen Eindrücken an diesem ersten Tag meiner Reise und schlafe schnell ein.

Plötzlich bin ich hellwach! Ein dumpfes Grollen erschüttert das Haus, die Erde bebt. Ich weiss genau, wo ich bin. Das schlimme