ANDREAS NEUENKIRCHEN

HAPPY TOKIO

MEIN NEUES LEBEN IN JAPANS HÄSSLICH-SCHÖNSTER STADT

© 2018 DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Titelfoto: Chris Steele-Perkins/Magnum Photos

Fotos und Karten: Andreas Neuenkirchen, Gerald Konopik,

DuMont Reisekartografie

ISBN 9783616491530

www.dumontreise.de

Für die junge Hana. So war das, damals.

INHALT

Besinnliche Vorbemerkungen oder:
Herzlich willkommen in der hässlichsten Stadt der Welt!

Teil 1: Draußen

Kapitel 1      Magische Momente in der Metropole

Kapitel 2      Uns blüht was

Kapitel 3      Rückkehr nach Shibuya

Kapitel 4      Menschen und andere Viecher im Park

Kapitel 5      Bahnhof verstehen

Kapitel 6      Rutschen, Ratschen, Ringelreihen

Kapitel 7      Immer in Bewegung

Kapitel 8      Jenseits von Tokio

Teil 2: Drinnen

Kapitel 9      Meine Mansion, meine Lofts, mein Luxusleben

Kapitel 10    Endlich kein Wochenende

Teil 3: Essen & trinken

Kapitel 11    Im Bann brauner Bohnen (und der Haarschnittmädchen)

Kapitel 12    Der kleine Nudelladen an der Ecke und der kleine Nudelladen eine Ecke weiter und all die anderen kleinen Nudelläden

Kapitel 13    Das beste Essen der Welten

Kapitel 14    Ichi, ni – g’suffa

Teil 4: Leben & lassen

Kapitel 15    Die abgebrochene Karaoke-Trilogie

Kapitel 16    Convenience Culture

Kapitel 17    Besser leben mit der Lüge

Kapitel 18    Alles (nur leider kein) Käse

Kapitel 19    Ein defekter Roboter im Wunderland

Anmerkungen & Danksagung

Besinnliche Vorbemerkungen oder: Herzlich willkommen in der hässlichsten Stadt der Welt!

Gut, Tokio ist wahrscheinlich nicht die hässlichste Stadt der Welt. Es tut mir jetzt schon leid, dass ich das geschrieben habe. Tokio ist nun mal eine Stadt, die, möchte man sie beschreiben, zu Superlativen verführt. Um nur drei zu nennen: Tokio hat die vollste Fußgängerkreuzung der Welt (in Shibuya), den vollsten Bahnhof der Welt (in Shinjuku) und die vollste Girlgroup der Welt (AKB48 mit über 130 Mitgliedern). Schon die Einwohnerzahl ist mit 14 Millionen kein Pappenstiel, und damit sind nur die im unmittelbaren Stadtbereich gezählt. Da Tokio wie jede Großstadt, die etwas auf sich hält, jedes Wald- und Wiesendorf in der Umgebung eingemeindet und zu ihrem Großraum erklärt hat, sind es insgesamt fast 38 Millionen Menschen (noch sind nicht alle davon Mitglieder von AKB48; die nehmen schließlich nur Frauen). Verständlich, dass man nicht für jeden ein kleines Barockschlösschen mit Springbrunnengarten bauen konnte.

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich das alte Edo (»Flussmündung«) zum neuen Tokio (»östliche Hauptstadt«) wandelte, machte sich die schreibende Zunft über die Hässlichkeit der Stadt lustig. Vor allem die schreibende Zunft, die Reiseführer verfasste. Diese Hässlichkeit war größtenteils importiert, denn die Modernisierung Japans und seiner Hauptstadt war in nicht geringem Maße eine Verwestlichung. Europäische und amerikanische Architekten – solche, die weltweit hohes Ansehen genossen, und solche, die in der Heimat keiner haben wollte – durften sich so richtig austoben. Die Ergebnisse waren isoliert betrachtet gar nicht mal durchweg grauenerregend, integrierten sich aber selten in den architektonischen Kontext ihrer Umgebung. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Tatsächlich könnte man sagen: Diese schrecklich schöne oder ganz schön schreckliche Stilverquickung ist zum Markenzeichen Tokios geworden.

Früher war mehr Tokio

Über die Vorzüge und Widrigkeiten Tokios kann man mit Alteingesessenen und Zugereisten trefflich streiten, doch in einem sind sich alle einig: Tokio ist nicht mehr das, was es mal war. Im Zweifelsfall war sogar früher alles besser. Da macht es kaum einen Unterschied, ob das Tokio von vor zwei Jahren oder das von vor zwei Jahrhunderten als Messlatte dient

Als ich Ende der Neunziger zum ersten Mal nach Japan kam, und damit zum ersten Mal nach Tokio, war eigentlich schon alles vorbei. Im Grunde konnte ich gleich wieder einpacken und abreisen, hier gab es nichts mehr zu sehen und nichts mehr zu tun. So stellten es jedenfalls die dar, die bereits dort waren. Vor allem die Ausländer, herübergeschwappt in den Achtzigern, als sich Leistung noch lohnte, als der Yen noch echtes Geld war und rollte wie der sprichwörtliche Rubel und als man damit alles nur Erdenkliche kaufen konnte, also vor allem Spaß und Lebensfreude. Es war die längst vergangene Zeit, in der im gesamten Westen die Angst vor der Japanisierung des Abendlandes umging. Sie kamen nicht mit Bomben und Gebeten, sondern mit freundlichen und weniger freundlichen Übernahmen. Mit Angeboten, die man nicht ausschlagen konnte. Doch bald platzte die Wirtschaftswunderblase, und inzwischen sehen die Japaner ihrerseits mit Schrecken zu, wie taiwanische und koreanische Firmen ihre einst so prächtigen Wirtschaftsflaggschiffe übernehmen, eines nach dem anderen. Die meisten ausländischen Party People sind weitergezogen, womöglich nach Seoul und Taipeh. Wer den Absprung nicht rechtzeitig geschafft hatte, blieb dort und quengelte.

Ich schenkte dem Quengeln der Zurückgeblieben nicht viel Beachtung und nahm mir vor, niemals das Staunen zu verlernen und nicht zu einem abgehalfterten Expat zu werden (schon das Wort allein!), der von der guten alten Zeit schwadroniert und dem alles Neue als Firlefanz gilt. Und doch ertappe ich mich heute immer wieder dabei, wie ich mit krummem Rücken am Tresen sitze und großäugigen jungen Rucksacktouristen abgeklärt erzähle, was sie alles verpasst haben durch ihre schusselige späte Geburt. Ich versichere ihnen im Brustton der Überzeugung, dass es heute einfach nicht mehr so aufregend in Tokio ist, wie es damals war, als ich erstmals ins Land kam. Damals konnte man noch rauchen, wo man ging und stand. In Roppongi konnte man keine zwei Schritte tun, ohne von einem hoch motivierten Puffpromoter handgreiflich bedrängt zu werden. Und jedes Kleinkind mit genügend Klimpergeld in der Hosentasche konnte sich die nächste Halbliterdose Bier aus dem nächsten Automaten ziehen.

Gebäude des Hinomaru-Taxiunternehmens. Irgendjemand wird’s so genehmigt haben.

Dabei ist mir selbst unbegreiflich, weshalb ich gerade das Verblassen dieser Umstände beklage. Schon lange rauche ich nicht mehr; meinetwegen könnten die Rauchverbote in Japan sogar noch verschärft werden. Der irritierenden modernen Verherrlichung der todtraurigen Sexindustrie konnte ich nie etwas abgewinnen; ich bin begeistertster Befürworter der Gentrifizierung Roppongis und der Verdrängung der Schmuddelbetriebe. Und selbst als die Bierdose und ihre Beschaffung in meinem eigenen Leben eine zentralere Rolle spielte als heute, hatte ich gefunden, dass ihre freie, unkontrollierte Verfügbarkeit in jedem Verkaufsautomaten am Straßenrand nicht unbedingt zur Wahrung jugendlicher Unversehrtheit beiträgt. Ich möchte das unkontrollierte Tokio von früher nicht zurückhaben (der mündige, erwachsene Bürger findet ohnehin nach wie vor genügend Orte für den Kontrollverlust). Und doch ist da ein kleines bisschen Wehmut, wenn ich an die schmuddelige alte Zeit zurückdenke.

Wendet man sich noch älteren, vielleicht gar bereits verstorbenen Herren zu, zum Beispiel verdienstvollen Japanvermittlern wie Donald Keene und Edward Seidensticker, so wird man in deren Schriften einen gewissen Ekel feststellen, wenn es um die Goldenen Achtziger geht. Für sie hat die Verblödung Japans und seiner Hauptstadt mit der explodierenden Wirtschaft und ihrem oberflächlichen, kulturlosen Hedonismus Einzug gehalten. Sie sehnen sich zurück in die Fünfziger und Sechziger, als im Dunstkreis sehr unterschiedlicher Schriftsteller wie Yukio Mishima und Kenzaburō Ōe eine glamouröse intellektuelle Kultur entstand, die nicht nur international konkurrenzfähig war, sondern regelrecht Vorbildcharakter hatte. Der Autor Kafū Nagai derweil, den Seidensticker in seiner zweibändigen Geschichte Tokios immer wieder zitiert, sah schon am Anfang des 20. Jahrhunderts das Tokio, das er verehrte, rapide dahinschwinden (wobei er sich selbst nur allzu gern den Verlockungen der modernen Großstadt hinschenkte).

Und so kann man den Verlust des echten, wahren Tokios im Stile eines Monty-Python-Sketches immer weiter fort- beziehungsweise zurückspinnen:

»Als sich am Flusse Sumida die Affen mit Stöcken kratzten – das war das wahre Tokio!«

»Affen mit Stöcken? Westliche Dekadenz! Die Amöbe in Edos Urschlamm – die wusste es noch zu leben!«

»Amöben?! Als die Amöben kamen, war doch der ganze Spaß längst vorbei!«

Die Geschichte lehrt uns: Die beste Zeit, in Tokio zu leben, ist genau jetzt. Denn davon werden wir in zehn bis zwanzig Jahren den Spätgeborenen vorschwärmen. Die werden gütig lächeln und uns den Spaß lassen, bevor sie ihrerseits ein paar Jahre später den jungen Leuten weismachen, dass Tokio leider nie wieder so sein wird wie in den 2030ern und 2040ern. Und sie werden recht haben.

***

Trotz aller Beschwerden der ziemlich Gestrigen ist Tokio nach wie vor eine äußerst lebenswerte Stadt. Glaubt man Zeitschriftenerhebungen, ist es sogar die lebenswerteste Stadt der Welt. Zumindest wurde sie dazu in drei Jahren in Folge (2015 bis 2017) von Monocle erklärt, einem Magazin für Besserverdienende, die übers Besserverdienen das Lesen nicht verlernt haben (soll es ja geben). Kriterien für die Hitparade waren unter anderem, ob man noch nach 22 Uhr etwas Vernünftiges zu essen bekommt, wie schnell der Krankenwagen da sein kann und wie viele unabhängige Buchläden es pro Nase gibt. Allesamt vernünftige Maßstäbe.

Ich packe noch einen drauf: In Tokio ist das Leben nicht nur lebenswert, Tokio macht regelrecht glücklich. Ich weiß das, denn ich habe die Happy Road gesehen. Und wenn du lange genug in die Happy Road blickst, dann blickt auch die Happy Road in dich hinein.

Wir Kinder vom Bahnhof Happy Road

Happy Road Oyamadai – so steht es über der kurzen Einkaufsstraße nahe dem Bahnhof des Tokioter Vororts, in dem ich mit meiner kleinen Familie 2015 für zwei Monate lebte, als wir vorbehaltlich unseren definitiven Umzug in die japanische Hauptstadt andachten. Wir waren dort tatsächlich ziemlich glücklich. Es gab einen Kaffeeladen, in dem der Kaffee ungefähr das Achtfache dessen kostete, was wir gemeinhin für Kaffee ausgeben. Und wir sind da keineswegs knauserig; im Alter begreift man schließlich, dass es nicht darauf ankommt, viel Kaffee in sich hineinzuschütten. Es kommt darauf an, guten Kaffee in sich hineinzuschütten (für alkoholische Getränke gilt dasselbe). Aber so guten vielleicht auch wieder nicht. Trotzdem gingen wir gern an dem Laden vorbei und rochen daran. Möglicherweise gingen wir gerade zu der Bäckerei, in der wir unser erstes banges Frühstück an unserem temporären Heimatort einnahmen, am Morgen nach unserer Landung. Japan ist kein ausgesprochenes Frühstücksland (davon wird noch ausführlicher die Rede sein müssen, ich möchte Schattenseiten nicht gänzlich verschweigen), doch das war nicht der Grund fürs Bangesein. Der war eher, dass Japan auch nicht als ausgesprochenes Kinderland berühmt ist. Man kann zwar im Land von Manga, Anime (Zeichentrick) und Karaoke bis ins hohe Alter kindlich bleiben, doch tatsächlich Minderjährige werden von der Gesellschaft für allzu kindliches Verhalten in der Öffentlichkeit gern gemaßregelt, insbesondere die Minderjährigen, deren Alter eher in Monaten als Jahren gemessen wird. Meine Frau Junko bläute mir vor unserer Reise ein, welche Einschränkungen unsere damals achtmonatige Tochter Hana uns bescheren würde: Wir müssten öffentliche Verkehrsmittel und Lokale sofort verlassen, wenn sie einen Mucks von sich gab, und selbstverständlich müssten wir den Kinderwagen beim Betreten von Zügen und Gebäuden sofort so klein wie möglich zusammenfalten (wir hatten uns für die Reise extra einen ultrafaltbaren Zweitwagen zugelegt, weil Junko die Faltbarkeit unseres Hauptkinderwagens nicht dem japanischen Standard zu entsprechen schien). Falls sich dennoch jemand darüber beschwerte, dass wir ein Kind in die Welt gesetzt hatten, müssten wir uns für unser Fehlverhalten entschuldigen. So zumindest stellte Junko sich das vor. Ich hatte keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln, denn ich hatte mehr als einen Zeitungsartikel über Nachbarschaften gelesen, die sich vehement gegen den Betrieb dringend benötigter Kindertagesstätten und Kindergärten wehren, weil den Ohren ihrer Bewohner die süße Melodie spielender Kinder ein Graus ist.

Das Tor zur Happy Road

Nun überraschte uns die Bäckerei allerdings gleich auf zweierlei Weise positiv. Zum einen mit den angebotenen Speisen, die als Frühstück durchaus in Ordnung gingen. Im Wesentlichen handelte es sich um Fleischwaren im Teigmantel. Findet man in Japan recht häufig, ist eine gute Alternative zu den trostlosen »Morning Sets« der Kettencafés. Hat man allerdings auch schnell über, weil diese Alternative alternativlos ist. Glücklicherweise stellt das am ersten Morgen eines Aufenthalts noch kein Problem dar. Zum anderen überraschte uns der Umgang mit uns als Familie. Als wir uns setzten und mit dem Kinderwagen prompt am Nebentisch ruckelten, sprach uns sofort die Sitznachbarin an: Der offizielle Stellplatz sei hinten bei den Toiletten, bitteschön.

Eine schroffe Zurechtweisung, dachte ich, wenngleich in freundlichem Wisperton vorgetragen. Schroffer wird’s halt in Japan nicht, zumindest nicht aus weiblichem Munde. Das hatte mich früher öfter irritiert; viele belauschte Gespräche, die ich tonal zunächst für freundlichen Smalltalk gehalten hatte, stellten sich bei genauerem Hinhören als üble Streitereien heraus. Vom Ton wollte ich mich nicht mehr täuschen lassen.

Ich täuschte mich, stellte sich heraus. Die freundlich klingende Frau war tatsächlich freundlich, sie wollte nur helfen. Es ergab sich ein freundliches Gespräch über unsere jeweiligen Familien. Sie hatte zwei etwas ältere Kinder, was zwar anstrengend sei, aber Hana sei so kawaii, dass sie die direkt auch noch nehmen würde. Und selbstverständlich hatten wir mit dem zusammengeklappten Kinderwagen bei den Toiletten viel mehr Platz am Tisch.

Es war nicht das letzte Erlebnis mit und ohne Kind, das die Happy Road tatsächlich zu einem glücklichen Ort machte und zu einem symbolhaften Begriff für die Art, wie wir leben wollten: In einer Happy Road der Herzen, ob sie nun so hieße oder nicht.

Inzwischen wohnen wir nicht mehr in Oyamadai, doch bisweilen kehre ich zurück in die Happy Road. Hier kommt die Stadt der Superlative angenehm bescheiden daher. Ein Obstverkäufer preist sein Obst mit einem handgeschriebenen Schild an: »Klein, aber relativ lecker.« Vielleicht ist auch der Inhaber des Currygeschäftes in unserem aktuellen Wohnviertel Meguro ein Bewohner der Happy Road der Herzen, wenn er in seiner Reklame vorsichtig sinniert: »Vielleicht das beste Curry in Meguro.« Nur vielleicht und nur in Meguro. Er will auf keinen Fall zu viel versprechen. Anders als die Filiale der Ketten-Burgerbraterei Mos Burger, die an der nächsten großen Kreuzung mit ihrem Schild schreit: »Der köstlichste Hamburger-Laden!« Dort steht zugegebenermaßen nicht: »… der Welt!« Aber auch nicht: »… an dieser Kreuzung möglicherweise.« Übersteigerte Erwartungshaltungen und entsprechende Enttäuschungen sind vorprogrammiert. Dieser Laden ist bestimmt nicht in der Happy Road. Nicht in der in Oyamadai und nicht in der unserer Herzen.

Die Eisenbahnschranken auf unseren Köpfen

Nähert man sich der echten Happy Road von Oyamadai, muss man einen Bahnübergang überqueren. Zumindest dann, wenn man aus der angenehmeren Richtung kommt. Ebenso muss man über die Gleise, wenn man die Straße wieder in die angenehme Richtung verlässt. Japan ist ein Land der Eisenbahnen, es ist auf Schienen gebaut, und Tokio ist auch in dieser Hinsicht die Hauptstadt des Landes. Die Züge fahren ständig und überall (außer nach Mitternacht, da hat jede ostfriesische Deichdorfbuslinie kulantere Fahrpläne, und das wird sich dank der Lobbyarbeit der Tokioter Taxiunternehmen in diesem Zeitalter nicht mehr ändern). Bahnschranken sind also im Dauereinsatz. Nun war ich beim versuchten Überqueren des Bahnübergangs bei Oyamadai immer wieder Zeuge eines drolligen Schauspiels. Hörte ich das Signal, hielt ich selbstverständlich stets an, vor allem dann, wenn die Schranke bereits sichtbar in ihrer Abwärtsbewegung begriffen war. Ich sah allerdings, dass ich damit einer Minderheit angehörte. Viele begannen beim Ertönen des Signals zu rennen, selbst wenn sie noch weit von der Schrankenanlage entfernt waren. Und tatsächlich kam die Schranke auf ihrem Weg nicht selten in Kontakt mit den Köpfen der Menschen, die unter ihr hindurchhuschten. Die entschuldigten sich dann bei der Schranke und huschten weiter.

In meinen früheren Leben in Bremen und erst recht in München war stets einer meiner obersten Grundsätze: Ein Gentleman rennt nicht. Ich bin nie gerannt, außer bei Wettläufen und dem Training dafür (und selbst bei diesen Gelegenheiten mochte manch sarkastischer Spaßvogel flöten, dass man das, was ich dort tat, nur mit viel gutem Willen als »Rennen« bezeichnen konnte). Ich rannte auch dann nicht, wenn auf dem Weg zum Bahnhof alle an mir vorbeirannten und ich die betreffende S-Bahn ebenfalls erreichen wollte und obwohl ich wusste, dass es eng werden würde, falls die Bahn tatsächlich pünktlich oder überhaupt käme. (Sollte es in diesem Buch zu weiteren München-Sticheleien kommen, und das kann ich nicht ausschließen, dann bitte ich daraus keine allzu dramatischen Schlüsse zu ziehen. Von Sticheleien stirbt man nicht gleich. Müsste oder wollte ich je wieder in Deutschland leben, käme keine andere Stadt infrage.) Was schert es einen, ob man irgendwo zehn oder zwanzig Minuten später ankommt? Ein Buch für die Erbauung während der Warte- und Reisezeit werden der moderne Herr und die Frau von Welt sicherlich immer dabeihaben. Sollte man auf dem Weg zur Arbeit sein, kann man die Lage ganz besonders ruhig sehen, denn eines ist gewiss: Die Arbeit macht sich nicht von selbst, die wartet auf einen.

Ein Gentleman rennt nicht. Ein Gentleman schaut mit einer Mischung aus vornehmer Abscheu und gütigem Mitleid auf die, die es nicht besser wissen, wenn sie an ihm mit unkoordinierten Bewegungen vorbeikrakeelen (das Schlimme an all den zornigen Alltagsrennern ist ja, dass sie es schon rein von den Bewegungsabläufen her gar nicht gescheit können). Ein Gentleman (die Dame ist mitgemeint) macht sich in der Öffentlichkeit nicht zu einem völlig außer Kontrolle geratenem Sabber- und Fuchtelmonster mit Tourettesyndrom. Wie soll man eine ganze Zivilisation aufrechterhalten, wenn man nicht mal die eigene Würde aufrechterhalten kann? Derart den Gefühlen freien Lauf zu lassen, das kann man zu Hause machen, wenn man allein ist. Etwa dann, wenn das US-Angebot von Netflix trotz neuester Schummelsoftware mal wieder den Zugriff verweigert. Aber nicht vor Leuten, schon gar nicht welchen, die man überhaupt nicht kennt. In der Öffentlichkeit hat man gefälligst Contenance zu bewahren.

Langer Exkurs, kristalliner Sinn: Was im Europa der Gentlemen gilt, muss im Japan der Samurai nicht gelten. Hier ist es eher umgekehrt: Wer nicht immerzu rennt, gibt sich keine rechte Mühe, vermutlich mit gar nichts im Leben. So einem ist nicht zu trauen. Langsam sickerte diese Erkenntnis in mich hinein. Anfangs lachte ich über die Menschen mit den Schranken auf den Köpfen, freilich nur innerlich, wie es sich geziemt. Ich lachte sogar noch, als ich bereits selbst angefangen hatte loszurennen, sobald das Bahnsignal von Weitem zu hören war. Ich stellte das Lachen erst ein, nachdem mir zum ersten Mal die Schranke auf den Kopf knallte. Es tut übrigens ziemlich weh, die Schranken sind langsam, aber hart, für die sanfte Kopfhautmassage sind sie nicht gedacht und nicht geeignet. Ein Lerneffekt stellt sich durch den harten Schlag nicht ein. Das erste Mal blieb nicht das letzte Mal. Renne ich zusammen mit anderen Depperten, nutzen die mich als Frühwarnsystem, denn dank meiner Körpergröße bin ich verlässlich der Erste, bei dem es knallt.

Geschadet haben mir die Kopfnüsse nicht, wie Sie im Folgenden erfahren werden. In diesem Sinne geht sie jetzt ganz schnell los, unsere Tour durch das Tollste von Tokio.

Teil 1

Draußen

Von Baustellen und Lustschlössern, Killerkrähen und Pokémon, Musik und Alkohol, Banken und Bänken, Dörfern und Bahnhöfen, Bergen und Häfen, deutschen Waschsalons und japanischen Müttern

Kapitel

1

Magische Momente in der Metropole

Unser heutiges Wohnviertel Meguro war nicht unsere erste Wahl. Es war auch nicht unsere zweite Wahl oder unsere dritte. Tatsächlich stand es gar nicht auf der Liste, auf gar keiner, weder Short noch Long. Obgleich Meguro nicht zu den Stadtteilen gehört, die bei jedem Ortsunkundigen farbenprächtige Assoziationsfeuerwerke auslösen, ist dieses Viertel ein recht zentraler und geschäftiger Teil des Tokioter Innenraums, und genau den wollten wir eigentlich meiden. Ja, es ist so weit: Wir sind jetzt im Vorortalter. Gern hätten wir uns ganz und gar dem Charme der Happy Road Oyamadai hingegeben oder den blitzblanken neuen Hochhäusern und praktischen Einkaufszentren von Futakotamagawa. Ich hatte es mir sogar schon angewöhnt, nikotama statt Futakotamagawa zu sagen, so wie es die Alteingesessenen tun, resultierend aus einer alternativen Lesart der im Ortsnamen verwendeten Schriftzeichen und der großen Abkürzungsleidenschaft der japanischen Alltagssprache. Nie und nirgends auf der Welt habe ich die dämliche Beschwerde akzeptiert, die blitzblanken Neubaugebiete, die in jeder modernen Zivilisation aus dem Boden schießen, hätten keine Geschichte und keinen Charakter. Ja, Herrschaftszeiten, wie stinkfaul darf man denn sein? Wurde einem ein neuer Ort gebaut, steht man halt selbst in der Pflicht, ihm Charakter zu verleihen. Sich nicht einfach ins gemachte Nest setzen, sondern mit einem flotten Lied auf den Lippen vorangehen und Geschichte machen.

Das Lustschloss hinter dem steilen Tempel

Bevor meine Familie und ich allerdings selbst Geschichte machen konnten, kam ein Angebot, das abzulehnen wir zu bequem waren. Eine Bekannte hatte eine Wohnung passender Größe zu vermieten, ohne großes bürokratisches Brimborium, zum relativen Freundschaftspreis und ohne allzu viele der versteckten Fantasiegebühren, die bei japanischen Mietpreisen gern noch draufgeschlagen werden. Der einzige Nachteil: Die Wohnung war nicht in einem verschlafenen Vorort, sondern im Stadtzentrum, wo das Leben tobt.

Steckt man erst mal mitten in so einem Interkontinentalumzug, dann weiß man jeden Gedanken zu schätzen, den man sich nicht machen muss. Also redeten wir uns ein, dass Innenstadt sowieso viel besser sei als Außenbezirk. Größere Auswahl internationaler Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für das Kind, bessere Verkehrsanbindung zum Arbeitsplatz für die Dame, und als Schriftsteller kann der feine Herr ja ohnehin überall arbeiten, beziehungsweise so tun als ob.

Aus meinen touristischen Tagen erinnerte ich nur zwei Dinge über Meguro: Es ist sehr hügelig und hat gute rustikale Restaurants. Das fand ich nach wie vor bestätigt. Zuallererst fand ich das mit den Hügeln bestätigt. Als wir uns zum ersten Mal vom Bahnhof Meguro aus auf den Fußweg machten, unsere neue Bleibe zu begutachten, wurden wir des ersten Problems bereits gewahr, bevor wir das Mietshaus auch nur sehen konnten: Der steile Pfad, den wir hinabstolperten, würde von den reiferen Mitgliedern unserer Familie niemals zu bewältigen sein. Besuch von Omas und Opas konnte Hana sich gleich abschminken. (Hat man sich erst ein kleines bisschen eingelebt und ist die erste blanke Panik verflogen, lässt sich die Lage ganz sachlich sondieren und neu bewerten: Man kann sich dem Tal, in dem wir leben, auch auf anderen, sportlich weniger anspruchsvollen Wegen nähern. Und zur Not gibt es Taxis und Busse, die bringen Alt und Jung gern rauf und runter.)

Wir waren bei unseren ersten Abstiegen derart mit dem Prozess des Abstiegs als solchem beschäftigt, dass uns erst später das beeindruckende Schloss auffiel, das die Skyline unseres Viertels bestimmt. Das Schloss von Meguro ist in den wenigsten Japan- oder Tokio-Reiseführern aufgeführt. Erst recht wird es in keinem auf Schlösser spezialisierten Reiseführer auftauchen (gleichwohl gibt es sicherlich Reiseführer anderweitiger Spezialisierungen, die das Haus auflisten oder sogar ausführlich vorstellen). Dabei ist es wirklich nur mit erheblicher Anstrengung zu übersehen, zum einen aufgrund seiner Größe, zum anderen ob seiner Architektur. Es handelt sich um ein veritables Märchenschloss, wie es sonst nur in Disneyland oder im bayrischen Gebirge zu finden ist. In einem Disneyland hat dieses Schloss derweil ganz und gar nichts zu suchen. Nicht solange der Disney-Konzern keinen radikalen Relaunch seiner Corporate Identity im Auge hat. Und stünde es in Bayern, hätte bestimmt schon die Spider Murphy Gang ein freches kleines Liedchen drüber geschrieben (ja, die gibt’s noch, liebe Nichtmünchner).

Einmal, als meine Frau und ich wieder den Berg hinab zu unserer Wohnung kullerten, erhaschte ich einen kurzen Blick auf die Beschriftung des Schlosses. »Das ist ein Hotel!«, rief ich fröhlich. »Vielleicht können wir dort meine Eltern unterbringen, wenn sie uns besuchen kommen. Dann müssten sie nicht immer den Berg rauf und runter.«

»Davon würde ich lieber absehen«, sagte Junko.

»Du meinst, es ist ein …?«

»Ich bin mir ziemlich sicher.«

Das hatte ich mir schon gedacht. Aber man wird ja allen Gegenanzeigen zum Trotz hoffen dürfen. Später ging ich, mit meiner kleinen Tochter als Anstandsdame, spazieren, um mir Gewissheit zu verschaffen. Tatsächlich, an der Preistafel am Eingang waren zwei Preise in Schnörkelschrift angegeben: einer für die komplette Übernachtung, einer für ein kurzes Nickerchen. Rabatte für längere Aufenthalte oder größere Gruppen gab es offenbar nicht, denn dafür sind Love Hotels nicht gedacht.

Meine Tochter sah am Schloss hinauf und rief begeistert: »Hana Prinzessin!«

»Hana, wir gehen«, sagte ich, und wir gingen.

***

Spätere Recherche (im Internet, nicht vor Ort) ergab, dass das Hotel Meguro Emperor nicht nur irgendein Love Hotel ist, sondern eines, das unter Love-Hotel-Kennern hohes Ansehen genießt. Es wurde in den Siebzigern eröffnet und war ein Fest für alle, die die ästhetischen und kulturellen Ausschweifungen jener Zeit zu schätzen wussten. Offenbar gab es im Innern Rutschen und Gondeln. Als die Siebziger in Ungnade fielen, strauchelte auch das Hotel im Kampf um Relevanz. Es erfuhr Umbenennungen und Neukonzeptionierungen, um schließlich doch wieder zu dem bekannten Namen und alten Kernkompetenzen zurückzukehren. Nur die Gondeln seien wohl endgültig verschwunden, musste ich erfahren.

Vorne: Kirschblütensaisonpartydekoration. Hinten: Hotel Emperor

»Aber hallo? Geht’s noch? Nun wettert er im Vorwort gegen die – ich zitiere – ‚todtraurige Sexindustrie‘, und dann schreibt er ganz unkritisch über den Puff in dem Wohngebiet, in dem er mit seiner kleinen Tochter lebt?!«

Nein, das muss ich klarstellen: In einem Love Hotel kann und soll man dem Liebesakt frönen, etwaige Partner werden aber nicht vom Hotel gestellt, nicht mal gegen Aufpreis, und sie stolzieren auch nicht vor dem Tor auf und ab. Man geht beziehungsweise kommt mit dem eigenen Partner. Kleine schlüpfrige Bonusinformation für Freunde der japanischen Sprache: Für das, wofür die deutsche Umgangssprache der Erotik das Verb »kommen« kennt, wird im Japanischen umgangssprachlich das Verb »gehen« verwendet. Lernt man gemeinhin nicht im Sprachkursus der Volkshochschule.

Es herrscht also ein recht munteres Kommen und Gehen in Meguro. Dem Emperor ist anzusehen, um welche Art von Etablissement es sich handelt. Bei anderen Hotels der Gegend, die die Preise ebenfalls sehr kleinteilig staffeln, ist es nicht so eindeutig. Immer mehr Hotels bieten Extremkurzaufenthalte an, ohne schon die Außenfassade in Zwinker-zwinker-Symbolik zu hüllen. Diese Hotels scheuen davor zurück, sich als Love Hotels zu definieren. Die stundenweise Vermietung sei für alle, die mal eine kurze Pause bräuchten. Eines dieser Häuser steht nicht weit vom Märchenschloss. Es war mal ein reguläres Hotel für Reisende, und abgesehen von der Preisstaffelung gibt es keinen Hinweis darauf, dass es heute irgendetwas anderes ist oder sein möchte. Zum Hotel gehört ein Livemusik-Club mit gutem Leumund. Hier überlegten Junko und ich ein klein wenig länger, ob es nicht vielleicht für meine Eltern geeignet wäre. Aber dann fanden wir doch, dass das Haus in seiner Werbung ein Tick zu viel mit seinem opulenten Angebot an Unterhaltungsvideos (ohne genauere Kategorisierung) und Blubberbädern protzte. Zwar genießt sicherlich jeder vom Kleinkind bis zum Silver Surfer gelegentlich gern ein Blubberbad und das eine oder andere Unterhaltungsvideo, aber irgendwie hatte die Kombination dieser Angebote mit dem Preiskonzept einen seltsamen Beigeschmack.

***

Man konzentriert sich beim Abstieg vom Bahnhof zum Mietshaus so sehr auf das Gefälle der Landschaft, dass man nicht nur das auffällige Stundenhotel übersehen kann, sondern sogar den Daienji-Tempel. Der ist auch ganz schön und vielleicht die einzige amtliche Reiseführer-Sehenswürdigkeit Meguros. Man muss allerdings sicher auf den Beinen sein, denn er befindet sich ungefähr in der Mitte dieser allerschrägsten Straße. Bekannt ist er vor allem für die 500 kleinen Buddhastatuen, die ihm in Reih und Glied zur Seite stehen. Ich habe keinerlei buddhistische Veranlagung und meine Tempelbesichtigungsphase hinter mir, deshalb hatte es eine Weile gedauert, bis ich eines Tages nicht nur am Daienji vorbeigeschnauft bin, sondern tatsächlich auf sein Gelände heraufgeschnauft. »Wenn ich mir schon ohne Eigenbedarf das führende Love Hotel in meinem Viertel genauer ansehe, dann sollte ich auch seinem berühmtesten Tempel einen Besuch abstatten«, mag ich gedacht haben. Womöglich war ich aber nur kaputt von Sommerhitze und Gefälle und brauchte eine Verschnaufpause.

Ich war bass erstaunt. Da standen sie, die 500 Statuen, und sie waren wirklich recht beeindruckend. »Die stehen hier einfach so rum, und ich habe das nicht gewusst«, dachte ich. Wahrscheinlich wissen das viele nicht und fahren extra den relativ langen Weg ins buddhistische Ballungsgebiet Kamakura, wo es Ähnliches zu sehen und fotografieren gibt. Kann man hier, mitten in Tokio, noch dazu in einem der entspannteren Viertel (gemessen am Gewusel bekannterer Zentren wie Shinjuku oder Shibuya), mindestens genauso gut haben.

Die 500 Buddhas vom steilen Heimweg

Weniger schön als der Tempel selbst ist seine Geschichte. Wie viele japanische Tempel und Schreine ist seine heutige Inkarnation nicht die ursprüngliche, sondern ein notwendiger Nachbau, da das Original niedergebrannt war. Feuer ist einer der Hauptgründe, warum viele historische Gebäude in Japan nicht mehr ganz so historisch sind, wie sie sein könnten. Das mag kaum verwundern in einem Land, in dem viel aus Holz gebaut wurde und in dem häufig die Erde bebt. Beim Daienji war es sogar ein historisches Feuer. Angeblich brach hier der sogenannte Meiwa-Großbrand aus, der im Jahr 1772 fast 180 Tempel und Schreine sowie über 10.000 Wohnhäuser und Geschäfte vernichtete und rund 6.000 Menschenleben forderte. Die 500 Buddhastatuen sollen an sie erinnern. Die Schuld hatte kein Erdbeben, sie wurde der Tochter eines Gemüsehändlers gegeben. Ihre Gruft befindet sich im Tempel. Juristisch einwandfrei ist die Schuldfrage nicht geklärt, und auch die Annahme, dass der Brand hier ausbrach, ist lediglich eine Theorie.

Bei Tag ist dieser Tempel eine Pracht. Bei Nacht allerdings laufen ihm die Baustellen in der näheren Umgebung den Rang ab.

Baustellenlichter statt Leuchtkalmare

Jeden Montag um 19 Uhr beginnt auf TV Tokyo die Show Warum sind Sie nach Japan gekommen? Ein Fernsehteam lauert am Flughafen Narita Touristen auf, stellt ihnen eben jene Frage, und bei interessant klingenden Antworten wird gefragt, ob man die Reisenden nicht mit der Kamera begleiten dürfe. In Japan lebende Ausländer sehen die Sendung nicht gänzlich unkritisch, sie wird mitunter in den großen Topf der Shows geworfen, in denen sich Japaner genüsslich von Ausländern erzählen lassen, wie toll Japan ist. Was mich betrifft, so sehe ich das zumindest bei dieser speziellen Sendung nicht gar so eng. Sie ist ein harmloser Spaß, und manchmal lernt man etwas dabei. Ich erkenne an, dass es durchaus Formate gibt, die nur dafür gemacht sind, Japanern die Großartigkeit ihres Landes, ihrer Kultur und ihrer selbst von Vertretern des Restes der Welt bestätigen zu lassen. Allerdings stelle ich genauso fest, dass in einer ungefähr gleich großen Zahl von Shows Ausländer Japanern ohne Unterlass unter die Nase reiben, wie scheiße es hier ist. Letztendlich gleicht es sich aus. (Übrigens sehen viele besonders stolze Japaner die Lobhudelei-Shows ebenfalls gar nicht gern. Sie sagen: Wir wissen auch ohne Ausländer, dass wir die Größten sind, vielen Dank!)

Was habe ich in meinen Jahren des Reisens Stoßgebete ausgesandt, ich möge dem Team einmal über den Weg laufen. Doch wir haben uns wohl immer verpasst, und irgendwann bevorzugte ich dann eh den Flughafen Haneda, der im Gegensatz zu Narita wirklich in Tokio liegt, nicht bloß auf dem Papier. Nichtsdestotrotz findet das Kamerateam immer wieder interessante Gäste. Einmal näherte es sich einer Gruppe fröhlicher, runder älterer Damen, die wirkten, als wären sie gerade auf Kaffeefahrt. Warum sie nach Japan gekommen waren? Na, um das Haus zu rocken! Es handelte sich tatsächlich um Girlschool, jene heißen Metal-Feger aus den Achtzigern, die einst von keinem geringeren als Lemmy Kilmister protegiert wurden. Was soll man sagen, die sind genau wie wir alle: auch nicht jünger geworden. Und immer noch im Dienst. Kugelrund und schottergrau. So, wie es sein soll. So rockt es sich wahrscheinlich ehrlicher als bulimisch und verbotoxt.

Leider konnte man Girlschool wohl aus rechtlichen Gründen nicht mit der Kamera folgen. Dafür einer anderen, etwas jüngeren Dame aus Ich-weiß-nicht-mehr-wo, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, eines Nachts die Leuchtkalmare von Tomaya leuchten zu sehen. In der Bucht des Ortes im Westen Japans bieten die Tintenfische mit den Leuchtstoffen im Körper im Sommer ein einzigartiges Schauspiel, wenn sie die See neonblau erstrahlen lassen. Das machen sie keineswegs freiwillig oder aus Spaß, eher aus Not und Reflex. Sie kommen zum Laichen und verausgaben sich dabei dermaßen, dass sie nicht mehr zurückschwimmen können in ihre Heimat, das tiefe Meer. Drum treiben die Wellen sie an den Strand, und im Todeskampf werden ein letztes Mal die Leuchtstoffe aktiviert, die eigentlich der Ablenkung von Feinden gelten, nicht dem Schnappschussglück von Schaulustigen. Wunderschön anzusehen ist es dennoch.

Aber ach, es klappt nicht immer. Als die Frau aus der Fernsehsendung mit dem Kamerateam auftaucht, ist der Ozean bloß schwarz wie die Nacht um ihn herum.

Am Abend nach der Sendung musste ich noch einmal raus. Wer kann schon so genau sagen warum – bestimmt fehlte uns irgendetwas Lebensnotwendiges, das dringend zwischen 22 und 23 Uhr im nächsten convenience store besorgt werden musste – Kartoffelchips, Bier, Feuchttücher, Grippeschutzmasken, Pferdewettenmagazine, MicroSD-Karten-Adapter. Ich erlaubte mir bei meinem Gang zum Laden etwas, was mir normalerweise versagt bleibt: Anstatt der weiter weg gelegenen Ampel nutzte ich die hohe Fußgängerüberführung, um über das breite Straßengeflecht vor unserem Haus zu kommen. Bin ich tagsüber unterwegs, bin ich das meist mit unserer Tochter. Zu jener Zeit war sie noch in dem Alter, in dem man gemeinhin das Gefahrenwerden im Buggy dem Laufen vorzieht. Und selbst wenn sie für einen Fußmarsch plädierte, war an das Bewältigen allzu gewaltiger Treppen nicht zu denken, so man tatsächlich ein Ziel hatte und nicht bloß den Weg als solches erachtete. Also spielte sich mein Leben größtenteils ebenerdig ab. Doch nachts war ich frei, frei wie ein Vogel. Da konnte ich endlich die hohe, steile Treppe der Fußgängerüberführung hinaufächzen und endlich von oben auf meine Straße sehen.

Was ich sah, war wunderschön. Denn ich sah eine Baustelle. Nein, es müssen mehrere gewesen sein, ineinander verflochten wie irisierende Liebende. Sie setzten sich an den Straßenrändern und inmitten der Straße bis zum Horizont (beziehungsweise der letzten einsehbaren Kurve) nahtlos fort. In der Nacht wurde hier nicht gebaut, dafür umso mehr geleuchtet. Blinklichter in verschiedenen Farben umkreisten Gruben, Haufen und Gerät, drehten sich um einander und sich selbst, erzeugten Piktogramme, jagten sich gegenseitig übers Gelände, bis sie hinter dem Horizont oder der Kurve verschwanden, nur um wie von Geisterhand zurückgeholt noch einmal zur großen Jagd an den Start zu gehen. Und noch einmal und noch einmal und immer wieder.

Tagsüber sind auch an den übersichtlichsten und am wenigsten störenden Baustellen mehrere Mitarbeiter abgestellt, die nichts weiter zu tun haben, als den Passanten mit großen Gesten den meist sehr offensichtlichen Weg um die Baustelle herum zu erklären und sich für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Genau genommen verrichten sie eine Arbeit, die in anderen Ländern, wenn überhaupt, von Schildern verrichtet wird. Nachts leistet sich nicht jede Baustelle diesen menschlichen Luxus. Nachts werden die Männer aus Fleisch und Blut durch Männchen aus Glühbirnchen ersetzt. In flackernder Animation schwenken sie richtungweisende Kellen und verbeugen sich untertänigst. So wie es an den Geschäftsfassaden von Las Vegas und Paris Lichtercowboys gibt, die ihren Hut lüpfen, oder frivole Tänzerinnen, die ihre leuchtenden Beine schwingen, so gibt es in japanischen Großstädten eben aus Glühbirnen gebaute Bauerarbeiter, die sich verbeugen.

Während ich so von oben auf das funkelnde Lichtermeer der Baustellen schaute und anerkannte, wie ihr Funkeln bestens mit den roten Lampions und der grellen Neonreklame des Chinarestaurants in unserer Straße harmonierte, dachte ich: Das ist so wunderschön, da braucht man gar keine Leuchtkalmare. Toyama mag sterbende Tintenfischweibchen haben, doch Meguro hat lebendige Baustellen und beleuchtete Chinarestaurants. Die Frau aus dem Fernsehen muss nicht traurig sein, sie soll sich mit ihrer Spiegelreflexkamera schnellstens hierherbemühen und mir auf der Fußgängerüberführung andächtige Gesellschaft leisten.

***

Als Monate später einige der Baustellen von den Straßenrändern entfernt wurden, brauchte es eine Weile, bis ich begriff, was sich verändert hatte: Der Gehweg war breiter geworden. Nicht nur, weil er nicht länger von blinkenden Absperrungen eingeschränkt wurde, sondern tatsächlich breiter als vorher, als dort noch nicht gebaut worden war. Ich war verblüfft. Ich war es aus meinem alten Leben nicht gewohnt, dass bauliche Veränderungen Verbesserungen bringen. Auch schön.

Die kleinen grossen Kastenhäuser

Ein Aspekt von Tokios Schönheit war mir jahrelang überhaupt nicht aufgefallen. Da musste erst mein Vater kommen und mich beiläufig mit der Nase draufstoßen.

Die erste Japanreise meiner Eltern im Frühjahr 2017 bescherte mir gleichermaßen Vorfreude wie Bedenken. Seit fast 20 Jahren faselte ich begeistert von diesem Land und insbesondere seiner Hauptstadt, da kann man schon mal völlig überzogene Erwartungshaltungen schüren. Ich hatte sicherlich das eine oder andere Mal erwähnt, dass Tokio keine Schönheit im klassischen Sinne ist. Doch Menschen, Eltern wie Kinder, hören oft nur selektiv zu. Gut möglich, dass meine Eltern etwas mit Papierlaternen, Kirschblüten, Teehäuschen und Steingärten erwarteten. Gibt es alles in Tokio, ist nur manchmal schwierig auszumachen inmitten der Bürotürme, Kaufhäuser, Pachinko- und Massagesalons. Ich fürchtete, dass jemandem, der aus dem Alter des ununterbrochenen Bar-, Club- und Kaufhaus-Hoppings raus ist, der Charme der Stadt schwer zu vermitteln sein könnte. Zwar bin ich aus dem Alter selbst heraus. Dennoch lernte ich Tokio kennen, bevor die Sesshaftigkeit eingesetzt hatte, das allabendliche Zuhausebleiben und nichts dabei finden. Die Erinnerungen an aktivere Tage schwingt in der Wahrnehmung der Stadt immer mit, malt sie in Farben aus, die ihr vielleicht gar nicht aus jeder Warte zustehen.

Nach Feststellung des glänzenden Zustandes meiner Eltern trotz des langen Fluges von Bremen über Amsterdam zum Flughafen Narita (kein Fernsehteam weit und breit) klärte ich sie auf: »Es tut mir leid, aber wir müssen noch knapp anderthalb Stunden mit dem Zug fahren, bis wir so richtig in Tokio sind.«

»Ist doch wunderbar, dann sehen wir schon mal was von Japan«, fanden meine Eltern.

Was man auf der Strecke vom Flughafen in die Stadt zu sehen bekommt, sind zunächst international austauschbare Wälder und verdorrte Hügel, hier und da ein Reisfeld oder ein Warenlager eines internationalen Online-Versandhandelsunternehmens, später dann die ersten Wohnsiedlungen und Geschäftszentren des Tokioter Großraums. Dort sieht es schon fast so aus wie im echten Tokio, nur nicht ganz so eng bebaut. Kommt man schließlich ins echte Tokio, sieht man gar nichts mehr, denn selbstverständlich führt der Schienenstrang sogleich unter die Erde.

»Die wohnen hier ja dicht an dicht«, sagte meine Mutter beim Anblick der noch nicht so eng bebauten Landstriche.

»Also, bei uns in Meguro sieht es auch nicht viel besser aus …«, versuchte ich sie sanft vorzuwarnen. Zwischen den Zeilen meinte ich natürlich: Bei uns sieht es viel ärger aus.

Und dann sagte mein Vater etwas ganz Erstaunliches: »Aber alles so schöne Häuser. So was siehst du bei uns nicht.«

Hatte ich vorher bloß Bedenken, machte ich mir jetzt regelrecht Sorgen. Hatten die beiden den Flug doch nicht so gut überstanden, wie es den Anschein gehabt hatte? War irgendetwas aus dem Lot geraten? Vielleicht die Wahrnehmung oder die Worte, sie zu beschreiben? Das Gehirn denkt »hässlich«, aber es kommt als »schön« aus dem Mund.

Doch mein Vater war bei klarem Verstand und sich seiner Sache sicher. Er erklärte, wie sehr es ihm gefiele, dass japanische Wohnblöcke im Gegensatz zu deutschen keine schnöden, rechteckigen Klötze seien, sondern oftmals verspielt verschachtelte Klötze, gar ohne Rücksicht auf das Dogma der Effizienz. Und es stimmt: Auch unsere eigene Wohnung im zweiten Stock hängt seltsam in der Luft, darunter nur der Fahrradparkplatz, darüber nichts als Himmel, obwohl der Rest des Hauses daneben noch zwölf Stockwerke in die Höhe wächst. Unser baulicher Sonderstatus ist schön für uns: Das Kind kann ungehemmt in alle Richtungen Krach machen, seine Mutter ihre Gymnastik mit Karacho in den Boden stampfen, und wenn der Vater mal wieder seine nostalgische Fields-of-the-Nephilim-Phase hat, kann er es richtig wummern lassen. Aber der Häuslebesitzer und Wohnungsvermieter könnte für sich und seine Familie mehr herausholen, baute er über unsere Behausung ein paar weitere.

Bei aller Wertschätzung des praktischen Nutzens für die Krachfamilie, als schön fürs Auge war mir die verschachtelte Architektur nie aufgefallen. Ich fand, sie lässt die Häuser ein wenig zappelig, unruhig wirken, genau wie es viele ihrer hektischen Bewohner sind. Schönheit allerdings liegt nun mal im Auge des Betrachters, und manchmal braucht es einen anderen Betrachter, um die eigenen Augen für gewisse Schönheiten zu öffnen. Meine Angst, meine Eltern könnten Tokios Schönheit nicht sehen, war völlig unbegründet. Vielleicht sahen sie nicht die Schönheit, die ich sah. Gleichwohl sahen sie eine eigene. Und inzwischen sehe ich die ebenfalls.

Wobei: Nach genaueren Überlegungen zur Konstruktion unseres Wohnblocks geht mir auf, dass unsere Wohnung wahrscheinlich doch nicht aus Jux und Tollerei allein in der Luft hängt, sondern das Konzept sehr wohl der Effizienz und dem Erstreiten jedes möglichen Millimeters von Wohnraum geschuldet ist. Da auf dem Erdboden Raum für den Fahrradparkplatz bleiben musste, ist das Fundament des Hauses dort wohl nicht stark genug, um eine Vielzahl von Stockwerken drüber zu stapeln. Ein einziges allerdings geht noch, und eines ist besser als keines; beziehungsweise ist besser als das Hinterlassen ungenutzter Luft, wo genauso gut eine Mietwohnung hängen könnte.

Aber ist das nicht ebenfalls irgendwie schön?

Das Paris des Fernen Ostens

Mitunter wird Tokios prächtigste Einkaufsmeile, die Ginza, als die Champs-Élysées Tokios bezeichnet. Mitunter bezeichnet man auch Tokios andere prächtigste Einkaufsmeile so, die Omotesandō. Macht nichts. Ihr müsst euch nicht streiten, liebe Straßen, in Tokio ist genug Platz für zwei Champs-Élysées. Omotesandō hat die schöneren Bäume, Ginza hat die interessanteren Geschäfte, einen Besuch sollte man beiden einmal im Leben abgestattet haben, so wie man einmal im Leben den Berg Fuji bestiegen haben sollte (gilt nur für Japaner, keine Sorge). Ob man die Einkaufsstraßen mehr als einmal beehrt, hängt vor allem davon ab, wie gern man sich Uhren (ich) oder Schuhe (Junko) ansieht, die man sich eh nicht leisten kann. In meiner Familie gibt es da einen gewissen Hang zum Masochismus.

Doch die Prachtstraßen sind gar nicht mal das, worauf mein angestrebter Tokio-Paris-Vergleich abzielen soll. Eher Straßen an sich. Nasse Straßen vor allem. Von Paris heißt es, es sei im Regen am schönsten. Von Tokio wird das eher nicht gesagt; die meisten Menschen seufzen, wenn es regnet. Es ist kein Romantikseufzen, sondern ein Mist-ich-werde-nass-Seufzen. Dabei hat Tokio ebenfalls charmante Seiten, die sich erst im Regen offenbaren. Zum einen ist da die nächtliche Reflexion der Stadt. Der Regen verdoppelt die Schönheit des Neon-Exzesses.

Doch nicht nur ihr Licht macht Tokio im Regen schön. Die Menschen sind ebenfalls nicht zu verachten. Die Schirme, die sie zu ihrem Schutz über sich gespannt haben, können zu einem wogenden Meer werden. Ein erhabener Anblick.

Überhaupt, Regenschirme. In der bereits erwähnten Sendung Warum sind Sie nach Japan gekommen?Blade Runnerconvenience store