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INHALT

FRÜHZEIT DER ERDE

SONNENSYSTEM

KRAWALL IN DER KINDERSTUBE

Neuen Befunden zufolge formten sich die Bausteine der Planeten in wenigen, turbulenten Jahrmillionen.

Von Linda T. Elkins-Tanton

GEOLOGIE

GESTEINE, FAST SO ALT WIE DIE ERDE?

Nach Ansicht einer Gruppe von Geologen erlauben 4,4 Milliarden Jahre alte Gesteine einen Blick auf die Anfänge der Erde. Fachkollegen bezweifeln jedoch die Datierung.

Von Carl Zimmer

FORSCHEN MIT HIGHTECH

ASTRONOMIE

SUPERNOVA-SPUREN VOR DER HAUSTÜR

Sowohl im Meeresgrund als auch in Mondmaterial fanden Wissenschaftler radioaktive Isotope, die bei kosmischen Explosionen ausgestoßen wurden und bis in unser Sonnensystem gelangten.

Von Thomas Faesterman und Gunther Korschinek

FERNERKUNDUNG

SATELLITENGESTÜTZTE FOSSILIENSUCHE

Bisher gehörte zum Auffinden bedeutender Fossillagerstätten eine gute Portion Glück. Die Auswertung von Satellitenbildern hilft nun dem Zufall auf die Sprünge.

Von Robert L. Anemone und Charles W. Emerson

ARCHÄOMETRIE

ARCHÄOLOGIE AUS DER LUFT

Ein LiDAR-Gerät gewinnt mit Laserpulsen von einem Flugzeug aus ein hoch aufgelöstes Profil des Bodens.

Von William E. Carter, Ramesh L. Shreshta und Juan Carlos Fernandez-Díaz

MENSCHENGEMACHTE UMBRÜCHE

ANTHROPOZÄN

EINE VIELSCHICHTIGE ANGELEGENHEIT

Unsere Spezies verändert die Erde tief greifend und hinterlässt dabei Spuren, die noch in vielen Jahrmillionen klar in den Gesteinsschichten erkennbar sein werden.

Von Jan Zalasiewicz

ENERGIEPOLITIK

UNSICHERHEITSFAKTOR INDIEN

Der wirtschaftliche Aufschwung auf dem indischen Subkontinent wird weltweite Auswirkungen haben.

Von Varun Sivaram

KLIMATOLOGIE

PERMAFROST – DIE GROSSE UNBEKANNTE IM KLIMAWANDEL

Tauende Böden in der Arktis setzen Treibhausgase frei. Das klingt nach einem Teufelskreis, doch Messungen sprechen gegen eine drohende Katastrophe.

Von Gert Lange

WELTMEERE IM WANDEL

GLOBALE ERWÄRMUNG

SIND INSELSTAATEN AKUT GEFÄHRDET?

Inselnationen wie Kiribati drohen bei weiter steigendem Meeresspiegel im Ozean zu versinken.

Von Simon D. Donner

SIMULATIONEN

BEDROHTES GOLFSTROMSYSTEM

Nach neuen Modellrechnungen ist die Umwälzströmung im Atlantik weniger stabil als gedacht.

Von Stefan Rahmstorf

ANTARKTIS

OZEAN IN AUFRUHR

Das Südpolarmeer entnimmt der Atmosphäre gewaltige Mengen Kohlenstoff und Wärme – noch.

Von Jeff Tollefson

EDITORIAL

IMPRESSUM

EDITORIAL
DIE NEUE VERMESSUNG
DER WELT

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Von Mike Beckers, Redakteur dieses Hefts

beckers@spektrum.de

Welche Eigenschaften zeichnen gute Wissenschaftler aus? Oft werden zuerst Intelligenz und abstraktes Denkvermögen genannt, Leidenschaft, Kreativität und Experimentierfreude oder Gewissenhaftigkeit. Eine Eigenschaft hingegen taucht selten weit oben auf, dabei gehört sie zu den wichtigsten: Frustrationstoleranz. Man muss Fehlschläge hinnehmen, trotz ausbleibender Ergebnisse motiviert bleiben und stoisch ertragen, aufs falsche Pferd gesetzt zu haben.

Geologen, Paläontologen und weitere Freilandforscher haben dabei noch zusätzliches Ungemach zu erdulden. Gewiss, als Physiker habe ich auch einige misslungene Experimente zu verbuchen, doch saß ich dabei immerhin in einem halbwegs warmen und trockenen Labor. Die Jäger von Gesteinen, Fossilien und Artefakten hingegen knien tagelang in Regen oder Hitze und bringen von einer monatelangen Expedition mitunter nichts heim als Rückenschmerzen und exotische Krankheiten.

Immerhin kann meine Profession den Kollegen im Feld inzwischen ein wenig unter die Arme greifen. Satellitenbilder und lernfähige Computeralgorithmen helfen beispielsweise dabei, aussichtsreiche Fossillagerstätten zu identifizieren (S. 30). Und mit Laserstrahlen können Archäologen, aber etwa auch Geologen von Fluggeräten aus unter Blätterdächer bis auf den Boden blicken und interessante Strukturen ausmachen, bevor sie anfangen, sich durch den Urwald zu schlagen (S. 36).

Moderne Technik vereinfacht und präzisiert das Studium unseres Planeten. Inzwischen verraten selbst kleinste Spuren einzelner Elemente etwas über dessen Vergangenheit (S. 6, 16 und 22), und hochgenaue Messungen gestatten Blicke in die Zukunft. Am 13. Oktober 2017 ist ein neuer Erdbeobachtungssatellit der europäischen Raumfahrtorganisation ESA gestartet: Sentinel-5P misst Spurengase in der Erdatmosphäre. Dank solcher Daten ist es Klimaforschern überhaupt erst möglich, die globalen und rasanten Veränderungen auf der Welt zu erfassen, die zu den größten Herausforderungen für die Gesellschaften des kommenden Jahrhunderts zählen werden (S. 52).

Wo Augen aus der Luft nicht genügen, ist es freilich immer noch nötig, Sonden vor Ort auszusetzen (S. 60 und 84). Von der Wasserprobe bis zum Bohrkern sind wir weiterhin auf Menschen angewiesen, die monatelang fernab der Zivilisation unserem Planeten Beweisstücke entnehmen, um diese dann in die warmen Labore zu bringen.

Hochachtung davor hat Ihr

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SONNENSYSTEM
KRAWALL IN
DER KINDERSTUBE

Bisher haben Astronomen angenommen, unsere Planeten seien langsam und relativ geordnet entstanden. Neuen Befunden zufolge formten sich die wesentlichen Bausteine des Sonnensystems jedoch in wenigen, turbulenten Jahrmillionen.

AUF EINEN BLICK
UNRUHIGE NACHBARSCHAFT

1 Bislang stellten sich Wissenschaftler die Entwicklung des Sonnensystems als ein allmähliches und stetiges Wachstum von kleinen, kalten Gesteinsbrocken zu Planeten vor.

2 Jüngste Untersuchungen deuten allerdings darauf hin, dass große Objekte bereits früh aus Kollisionen zwischen äußerst heißen und differenzierten Himmelskörpern hervorgegangen sind.

3 Um diese Hypothese zu überprüfen, schicken Forscher 2022 eine Sonde zu dem Asteroiden Psyche, der vermutlich der Kern eines solchen Planetenvorläufers ist, dessen Gesteinshülle bei Kollisionen verloren ging.

Ich verließ gerade einen Unterrichtsraum am Massachusetts Institute of Technology, in dem ich mit Studenten über die Entstehung von Planeten diskutiert hatte, als mich mein Kollege Ben Weiss aufhielt. Er untersucht den Magnetismus von Gesteinsbrocken aus dem All – und war sehr aufgewühlt. Weiss zerrte mich den Flur entlang in sein Büro und zeigte mir gerade erhobene Daten eines dieser Objekte, des Allende-Meteoriten. Seine neuen Informationen sollten nahezu alles verändern, was Planetengeologen bisher über unser Sonnensystem zu wissen glaubten.

Der Allende-Meteorit war 1969 über Mexiko in einer gewaltigen Feuerkugel in der Atmosphäre explodiert und in zahllosen Bruchstücke zur Erde gestürzt. Er enthält mit die älteste bekannte Materie unseres Sonnensystems. Weiss und ich trafen uns 2009. Im Herbst jenes Jahres hatten er und sein Team gezeigt, dass der Meteorit Spuren eines früheren Magnetfelds enthält. Das war überraschend, denn solche Felder konnte nach damaliger Ansicht nur ein magnetischer Dynamo aus heißem, flüssigem Metall im Inneren eines Planeten hervorbringen. So entsteht auch das irdische Magnetfeld. Doch vom Allende-Meteoriten nahmen die Forscher an, dass es sich um das Fragment eines nur leicht warmen so genannten Planetesimals handelte: eines Planetenbausteins in einer viel früheren Phase des Sonnensystems. Dieses Planetesimal, dachten die Wissenschaftler, hätte niemals heiß genug sein können, um das in ihm enthaltene Metall zu schmelzen. Weiss fragte sich: Wie konnte es dann bloß von magnetischen Feldern durchzogen worden sein?

Meine Studenten hatten mich gerade mit Fragen zur Planetenentstehung überschüttet, und so auch herausgefordert, einen Teil der Lehrbuchweisheiten zu überdenken. Daher hatte ich bereits das Grundgerüst einer neuen Idee im Kopf, die vielleicht dabei helfen konnte, die Frage von Weiss zu beantworten. Ich ging hinüber an seine Tafel und begann, meine Gedanken zu skizzieren.

Seit Langem wissen wir, dass Planetesimale kurzlebige, instabile Aluminiumatome enthalten haben, die bei ihrem Zerfall Energie abgeben. Somit hätte das Isotop Aluminium-26, kurz 26Al, die Planetesimale aufwärmen können. Ich stellte mir vor, im Ursprungskörper des Allende-Meteoriten wäre die von 26Al erzeugte Hitze groß genug geworden, um das Objekt tatsächlich von innen nach außen zu schmelzen. Metalle hätten sich dabei von Silikatmineralien getrennt und im flüssigen Kern angereichert. Dieser hätte rotieren und so einen magnetischen Dynamo erzeugen können. Die Außenseite des Planetesimals wäre unterdessen vom eisigen Weltraum gekühlt und weiterhin von Gestein und Staub aus der ursprünglichen Scheibe des Sonnensystems beregnet worden.

Planetenpogo statt Bröckchenmenuett

Die Idee, dass die frühen Bausteine des Sonnensystems so viel Energie in sich trugen, entsprach nicht dem, was mir im Studium beigebracht worden war. In vielen Lehrbüchern steht immer noch, das Sonnensystem hätte sich langsam und gleichmäßig gebildet. Die Geschichte liest sich dort etwa so: Vor 4,567 Milliarden Jahren umkreisten Gas und Staub aus einer Molekülwolke in einer scheibenförmigen Ebene einen wachsenden jungen Stern. Geordnet und zivilisiert verband sich diese Materie zu vielen kleinen Steinchen, die langsam zu großen Brocken mit mehreren zehn oder gar hundert Kilometern Größe anwuchsen. Diese Planetesimale stießen zusammen und formten umfangreichere Körper – Protoplaneten, etwa so groß wie der Mars. Erst an dieser Stelle begann die Temperatur der Objekte anzusteigen. Die Protoplaneten waren nun massereich genug, um mit ihrer Anziehungskraft die unmittelbare Umgebung von umherschwirrenden Trümmern zu säubern. Einige von ihnen stießen auch zusammen. So wuchsen sie zu Planeten, in denen sich schließlich die verschiedenen Komponenten trennten und die heute vertrauten Metallkerne und Mantel aus Silikaten bildeten.

So weit die alte Vorstellung. Als Weiss und ich uns den Kopf über den Allende-Meteoriten zerbrachen, hatten bereits eine Reihe anderer Beobachtungen Hinweise auf rasante und heftige Veränderungen im frühen Sonnensystem geliefert. Inzwischen ist es an der Zeit, die zahme Entwicklung von Staub über Gesteinsbrocken, Planetesimale und Protoplaneten zu Planeten durch ein anderes Szenario zu ersetzen. So hat die Entstehung der Planetesimale nicht, wie bislang angenommen, mehrere hundert Millionen Jahre gedauert, sondern gerade einmal drei Millionen Jahre. Wenn wir die gesamte Geschichte unseres Sonnensystems auf einen Tag abbilden, dann beanspruchte die Bildung der Planetesimale nur die allererste Minute. Den kleinen Bausteinen stand mehr Energie zur Verfügung – durch den radioaktiven Zerfall von Aluminium und durch Kollisionen – und deshalb mussten sie nicht erst wachsen, bevor sie eine differenzierte innere Struktur hervorbringen konnten. Relativ kleine Planetesimale beherbergten daher bereits Prozesse, die wir erst bei Planeten erwartet hatten. Ihr Inneres konnte schmelzen, sie zeigten Vulkanismus und wegen ihrer flüssigen Kerne entstanden sogar magnetische Dynamos.

Zudem verlief die Entwicklung nicht geradlinig von kleinen zu immer größeren Körpern. Häufig zerfielen Objekte nach Kollisionen wieder in viele Bruchstücke. Wenn in dieser frühen Phase bereits erste planetengroße Körper auftauchten, wurden sie durch Zusammenstöße oft ihrer äußeren Hüllen beraubt oder ganz zerstört. Die Fragmente trafen auf andere Körper und ließen diese anwachsen. Planeten konnten in lediglich zehn Millionen Jahren auftauchen, auseinandergerissen werden und aus den Trümmern erneut hervorgehen.

Neue Werkzeuge zur Bestimmung haben Planetenforschern dabei geholfen, dieses Bild eines umtriebigen jungen Sonnensystems zu entwerfen. Wissenschaftler haben Instrumente entwickelt, mit denen sich die Häufigkeit von Elementen in Meteoriten auf weniger als ein Millionstel genau bestimmen lässt. Da wir wissen, mit welcher Halbwertszeit radioaktive Elemente zerfallen, können wir auch datieren, wann die Himmelskörper, von denen die Bruchstücke stammen, entstanden sind und sich verändert haben. Überall auf der Welt begannen Forscherteams damit, Meteoritensammlungen zu vermessen – darunter Alex Halliday, der jetzt an der University of Oxford tätig ist, Thorsten Kleine von der Universität Münster, Stein Jacobsen von der Harvard University, Mary Horan und Rick Carlson von der Carnegie Institution of Science und Richard Walker von der University of Maryland.

Den Arbeiten dieser Wissenschaftler zufolge gab es die Planetesimale bereits in den ersten Millionen Jahren nach Beginn der Abkühlung der Staubscheibe. Viele der terrestrischen Planeten könnten sich innerhalb der ersten zehn Millionen Jahre gebildet haben, und vielleicht war sogar ein großer Teil der Erde schon nach einigen zehn Millionen Jahren in Kern und Mantel differenziert.

Untersuchungen ganz anderer Art führten zu ähnlichen Ergebnissen. Mit immer besseren Teleskopen beobachten Astronomen die Entwicklung junger Sterne in anderen Regionen der Milchstraße. Einige davon sind von Scheiben aus Gas und Staub umgeben, ähnlich dem jungen Sonnensystem, in denen Himmelskörper wachsen. Durch einen Vergleich des Alters von Sternen, die bereits von Planeten umkreist werden, und solchen, die sich noch inmitten einer Staubscheibe befinden, gelangten Forscher zu der Erkenntnis, dass derartige Scheiben im Mittel nur drei Millionen Jahre überdauern.

Den Planetesimalen bleibt also im Durchschnitt nur diese Zeitspanne für ihr Wachstum, danach steht kein Rohmaterial mehr zur Verfügung. Materie, die sich bis dahin nicht an die Gesteinsbrocken angelagert hat, ist zwischenzeitlich entweder in den Stern gefallen oder ins umgebende Weltall entwichen. Im Vergleich zur zuvor gängigen Auffassung der Theoretiker, diese Phase der Akkretion dauere mehrere hundert Millionen Jahre, ist das eine ganz erhebliche Beschleunigung des Vorgangs.

Ein starker Hinweis auf die veränderte Zeitrechnung ist der radioaktive Zerfall, der gleichmäßig wie ein Uhrwerk ein Element in ein anderes verwandelt. Neue Instrumente boten Teams in Europa und den USA ausreichende Genauigkeit, um die Mengen dieser Stoffe in zur Erde gefallenen Meteoriten zu bestimmen und so zu ermitteln, wie lange ihre radioaktive Uhr schon tickt. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um Bruchstücke von Asteroiden, die wiederum von Planetesimalen herrühren. Einige stammen allerdings auch vom Mond, vom Mars und von weiteren, bislang nicht identifizierten Himmelskörpern.

Ein radioaktives Isotop des Elements Hafnium bindet sich bevorzugt an Silikate, wie sie im Mantel der Erde vorhanden sind. Es zerfällt in ein Isotop des Wolframs, das sich wiederum stark an Metalle anlagert. In neun Millionen Jahren wandelt sich die Hälfte des Hafniums in Wolfram um. Dieses System liefert uns daher eine geeignete Zeitskala für die Differenzierung von Metallen und Silikaten und damit für das Hervorgehen einer Kern-Mantel-Struktur. Ein junger und heißer Metallkern löst Wolfram aus dem Mantel. Das Hafnium verbleibt in Letzterem und zerfällt weiter in Wolfram, das sich nun dort ansammelt, solange kein weiterer Kernbildungsprozess beginnt. Wissenschaftler können also anhand der Anteile von Hafnium und Wolfram in einem Meteoriten schließen, wann sein Ursprungskörper einen Kern erhielt.

Solche Isotopenmessungen an Eisenmeteoriten – von denen viele vermutlich Bruchstücke metallischer Kerne sind – zeigen, dass sich ihre zugehörigen Planetesimale innerhalb von gerade einmal 500 000 Jahren bildeten, nachdem die ersten festen Staubpartikel in der protoplanetaren Scheibe kondensiert waren. Das entspricht weniger als zehn Sekunden im Maßstab, der die Geschichte des Sonnensystems in einem Tag zusammendrängt. Wenn Eisenmeteoriten von Planetesimalkernen stammen, dann müssen die Objekte innerhalb dieser kurzen Zeitspanne nicht nur entstanden, sondern auch geschmolzen sein, damit es zu derartigen Metallkörpern kommen konnten.

Rätselhaft rasches Wachstum vom Staubkorn zum Planetenvorläufer

Das Sonnensystem formte sich somit erheblich schneller als im Lehrbuchszenario. Nun waren die Theoretiker am Ball: Wie können wenige Mikrometer große Staubteilchen oder selbst zentimetergroße Steinchen in Umlaufbahnen um die Sonne innerhalb von 500 000 Jahren zu Körpern zusammenklumpen, die zehn Millionen Mal größer sind?

Die Antwort darauf ist alles andere als einfach. Zunächst einmal sagt uns die Physik, dass kleine Körnchen durch elektromagnetische Kräfte verkleben können, ähnlich wie der Staub im Haushalt elektrostatisch Flocken bildet. Bei Kollisionen fließt zudem ein Teil der Bewegungsenergie ins Zusammendrücken des porösen Materials. Auch darum haften Brocken bei Stößen eher aneinander statt voneinander abzuprallen oder zu zersplittern. Doch bei ihrem weiteren Wachstum kommt es zur »Meterbarriere«: Bevor sie eine Größe von etwa einem Meter erreichen, sind sie zu umfangreich, um durch elektrostatische Kräfte zusammenzuhalten, und andererseits noch viel zu klein, um mit Hilfe der Schwerkraft aneinanderzuhaften. Selbst Einschläge mit geringer Geschwindigkeit zerstören solche Ansammlungen eher, statt sie weiter zu vergrößern. Und doch wissen wir, dass die Objekte über die Meterbarriere bis zur Größe von Planetesimalen anwachsen – unsere Erde ist ein Beweis dafür. Es müssen also noch andere Prozesse ins Spiel kommen.

Mit vielen Ideen versuchten die Forscher, das Wachstum jenseits der Meterbarriere zu erklären. Bei den meisten Hypothesen drücken verschiedene Arten von Turbulenzen die Körper zusammen. Ein Beispiel für solche Phänomene sind so genannte Kelvin-Helmholtz-Wirbel, die sich zwischen den Schichten der Scheibe entwickeln und sehr ausgedehnte Regionen voller Materie zusammenbacken können. Ein Pionier auf dem Gebiet solcher Szenarien ist Anders Johansen, der jetzt an der Universität Lund in Schweden tätig ist. Hal Levison vom Southwest Research Institute und Johansen haben unabhängig voneinander ein neues, Geröllakkretion genanntes Modell entwickelt. Die Gravitation kann den Berechnungen zufolge selbst kleinste Staubteilchen und Steinchen über viele Umläufe hinweg ausreichend ablenken, damit diese zum Wachstum eines Planetesimals beitragen – und zwar schnell genug, um solche Objekte in der frühen Phase des Sonnensystems hervorzubringen.

Doch solche Prozesse des Zusammenklebens können nicht erklären, wie Planetesimale in Mantel und Kern ausdifferenzieren. Wenn sie sich aus dem Material der Scheibe bilden, in dem Metall und Gestein gut durchmischt sind, dann können nur hohe Temperaturen und ein zumindest teilweises Schmelzen dazu führen, dass das Metall ins Zentrum absinkt. Doch die Energie aus den Zusammenstößen zwischen den relativ kleinen Körpern reicht rechnerisch nicht aus, um sie zu verflüssigen. Die Forscher standen also vor der Frage, woher in der Gefriertruhe des kalten Weltalls die nötige Energie gekommen sein kann.

Hier kommt das radioaktive Aluminium ins Spiel. Vermutlich entstand das Isotop ursprünglich in den äußeren Schichten massereicher Sterne. Deren Sternwinde könnten es in das Ausgangsmaterial des Sonnensystems geblasen und dieses kurz vor dessen Entstehung mit 26Al angereichert haben. Jedes Mal, wenn eines der Atome zerfällt, wird eine kleine Menge Wärme frei. Und diese Beträge könnten sich im jungen Sonnensystem zu einer bedeutenden Energiequelle aufsummiert haben. Aluminium ist unter den sechs häufigsten Elementen in Gesteinen. 26Al mit einer Halbwertszeit von 700 000 Jahren hätte leicht zumindest einige Planetesimale auf ausreichende Temperaturen erhitzt.

Was hat dann aber verhindert, dass die Planetesimale vollständig schmelzen? Denn einige von ihnen besaßen, wie die neuen Untersuchungen zeigen, eine von diesen Prozessen nicht betroffene äußere Schale. Der Durchmesser spielt hier eine wichtige Rolle. Ein großer Körper kann in seinem Inneren heißer werden als ein kleiner, weil das Verhältnis seines Volumens zur Oberfläche dafür günstiger ist. Nehmen wir den Ursprungskörper des Allende-Meteoriten: Er muss groß genug gewesen sein, damit sich sein Zentrum schneller aufheizen konnte, als er die Wärme wieder nach außen abgestrahlt hat. Doch wegen der kurzen Halbwertszeit von 26Al musste er außerdem rasch wachsen. Für den aus dem Allende-Meteoriten berechneten Schmelzverlauf sollte das zugehörige Planetesimal innerhalb von zwei Millionen Jahren mindestens 20 Kilometer Durchmesser erreicht haben. Das entspricht 40 Sekunden in unserem 24-Stunden-Maßstab. Möglicherweise wuchs es in dieser Zeit sogar auf bis zu 400 Kilometer.

Zunächst dachten Astronomen, Planetesimale wären entweder vollständig geschmolzen oder ganz im durchmischten Urzustand verblieben. Doch Weiss und ich schlugen ein Hybridmodell vor, in dem ursprüngliches Material aus der Frühzeit des Sonnensystems die äußere Schale eines im Inneren differenzierten Planetesimals bildet. Nur so ließ sich der Befund im Allende-Meteorit deuten: Dessen magnetisierbaren Teilchen hat sich zwar eine einheitliche Feldrichtung aufgeprägt, was auf einen heißen, geschmolzenen Kern mit einem magnetischen Dynamo deutet; der Brocken selbst besteht aber aus nicht erhitztem, unverändertem Material. Es kann also nur aus der kühlen äußeren Schale eines Planetesimals stammen. Der Ursprungskörper des Allende-Meteoriten behielt diese, weil er vom Weltraum gekühlt wurde und sich zudem weiter ursprünglicher Staub aus der kalten protoplanetaren Scheibe auf ihm ablagerte.

Wir waren keineswegs die Ersten, die über eine solche partielle Differenzierung von Planetesimalen nachdachten. Der Geologe John Wood hatte bereits 1958 für seine Doktorarbeit eine solche Struktur gezeichnet. Doch niemand hatte jemals den geradezu ketzerischen Gedanken ausgesprochen, das Musterexemplar für ursprüngliche, nicht geschmolzene Meteoriten – Allende – wäre auf diesem Weg entstanden. Oder dass dieser Prozess sogar häufig und prägend für den Beginn unseres Sonnensystems gewesen war.

Doch genau das scheint der Fall zu sein. Untersuchungen anderer Forscher zeigen, dass vier weitere Meteoriten von Körpern mit einem magnetischen Dynamo stammen. Und alternative Ursachen für die Magnetisierung konnten inzwischen ausgeschlossen werden. Es waren weder von der Sonne erzeugte Felder noch die Staubscheibe selbst und auch nicht kurzzeitige Phänomene während eines Einschlags. Wenn das frühe Sonnen system tatsächlich von Hunderten oder gar Tausenden differenzierter Planetesimale bevölkert war, die herumschwirrten, sich aufheizten und magnetische Dynamos produzierten wie Miniaturausgaben der Erde, dann enthielt es in dieser Phase ungeheuer viel Wärmeenergie.

Die traditionelle Annahme eines linearen Wachstums der Planeten von klein zu groß geriet auch durch weitere Überlegungen in Bedrängnis. Um numerische Simulationen zu vereinfachen, hatte man hierbei jahrelang vorausgesetzt, bei jeder Kollision von Planetesimalen würde sich die gesamte Materie zu einem neuen Objekt vereinen. Doch neue Modellierungsansätze und Einsichten von Erik Asphaug von der Arizona State University zeichnen ein anderes Bild. Manche Kollisionen sind in der Tat konstruktiv und erzeugen größere Körper. Doch viele Geschosse schlagen kleinere Brocken heraus, fliegen weiter und setzen ihr Zerstörungswerk an anderer Stelle fort.

Erst nach etwa zehn Millionen Jahren bildeten sich wirklich stattliche Objekte – und sie blieben groß. Denn als zusammenstoßende Planetesimale schließlich Protoplaneten formten, nahm mit deren Masse auch ihre Schwerkraft zu. Die Gravitation war nun stark genug, um jedes Objekt, das sich einem Protoplaneten zu sehr näherte, entweder anzuziehen oder weit aus seiner bisherigen Bahn herauszuschleudern. Die wachsenden Planeten reinigten so die Umgebung ihrer Umlaufbahnen – was übrigens eines ihrer charakteristischen Kriterien ist. Für kleinere Körper gab es immer weniger Bereiche mit stabilen, von den wachsenden Planeten nicht gestörten Bahnen. Der Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter ist heute eine der letzten sicheren Zonen für solche Objekte.

Aufbruch zu Asteroid Psyche, einer Welt aus Metall

Weiss, Asphaug und ich würden gern herausfinden, wie sich die Zusammensetzung und der Aufbau unseres eigenen Planeten aus dieser energiereichen, häufig chaotischen Umgebung entwickelt haben. Leider ist es anders als im bekannten Roman von Jules Verne unmöglich, zum Kern der Erde zu reisen und ihn direkt zu untersuchen.

Doch vielleicht kann ein bestimmter Asteroid, ein Überbleibsel eines ausdifferenzierten Planetenvorläufers, als Ersatz dafür dienen. 2012 begann ich gemeinsam mit Kollegen eine Raumfahrtmission zu entwerfen, um das möglich zu machen. Wir versammelten uns am Jet Propulsion Laboratory der US-Raumfahrtbehörde NASA in einem Zimmer, das Kreativität geradezu herausfordert. Es ist mit Regalen voller Materialien zum Basteln ausgestattet, von Pappe, Rädern und Draht über Papier und Stifte bis zu Legosteinen und Schaumstoff. Ein guter Raum also, um über etwas völlig Neues nachzudenken. Wir planten einen Ort anzufliegen, mit dessen Untersuchung wir unsere Hypothesen bestätigen oder verwerfen könnten. Das beste Ziel dafür war, so entschieden wir, eine vollständig aus Metall bestehende Welt: der Asteroid Psyche.