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IN DIESER AUSGABE

Editorial

Geistesblitze

Stressmanagement für Schüler / Babys auf Probe / Hirnentwicklung im Jugendalter

Schule und Studium

Zu früh zum Lernen

In der Pubertät geht die »innere Uhr« deutlich nach. Der Unterricht sollte daher später beginnen!

Von Stefanie Reinberger

Standpunkt

»Produzieren wir ›kluge Dummköpfe‹?«

Der renommierte Intelligenzforscher Robert Sternberg fordert, Schulen und Unis müssten auf Kreativität und ethisches Denken genauso viel Wert legen wie auf analytische Begabung.

Ratgeber

Gelassen durch die Prüfung

Wenn Jugendliche vor Klassenarbeiten Panik bekommen, sollten sie ihre bisherigen Lernstrategien überdenken. Zwei Psychologinnen erklären, wie man sich richtig vorbereitet.

Von Lydia Fehm und Jennifer Priewe

Gute Frage

Sind Schüler mit ADHS kreativer?

Den möglichen Zusammenhang von Hyperaktivität und Schaffenskraft untersucht Caterina Gawrilow, Professorin für Schulpsychologie an der Universität Tübingen.

Digitale Medien

Smartphone mit Anleitung

Handys haben nicht nur ein großes Ablenkungspotenzial. Sie bringen Teenager auch mit problematischen Inhalten in Kontakt. Wie können Eltern dem vorbeugen?

Von Joachim Retzbach

Bloß nichts verpassen!

Jugendliche denken häufig, alle ihre Freunde führten ein spannenderes Leben als sie. Die sozialen Medien verstärken diese Angst sogar noch.

Von Theodor Schaarschmidt

Interview

»Eine imaginäre Verbindung«

Viele Mädchen und Jungen vergöttern ihre Stars geradezu. Welche Funktion die Idole für die jugendliche Entwicklung erfüllen, erforschte die Erziehungswissenschaftlerin Claudia Wegener von der Filmuniversität Babelsberg im Rahmen einer großen Umfrage in Deutschland.

Familie

Eltern am Ende ihrer Kräfte

Nicht nur Stress am Arbeitsplatz macht krank: Auch Eltern können ein Burnout-Syndrom entwickeln. Wie Sie erste Warnzeichen erkennen und rechtzeitig gegensteuern.

Von Moïra Mikolajczak und Isabelle Roskam

Ach, wie schön wär’s jetzt daheim

Ob Ferienlager, Schüleraustausch oder Umzug in den Studienort: Oft überkommt den Nachwuchs die Sehnsucht nach Zuhause. Woher rührt dieses bittersüße Gefühl – und wie kann man es lindern?

Von Jana Hauschild

Wenn die Kleinen groß werden

Das Wohlergehen vieler Eltern steht und fällt mit dem ihrer Kinder – auch wenn diese längst erwachsen sind. Alleinstehende Mütter und Väter fühlen dabei in Krisenzeiten ihrer Sprösslinge besonders stark mit.

Von Gabriele Paschek

Sexualität

Ich bin kein Mädchen!

Heranwachsende mit einer Geschlechtsdysphorie empfinden ihr angeborenes Geschlecht als falsch. Doch dieses Gefühl kann auch wieder verschwinden. Das stellt Ärzte vor ein moralisches Dilemma: Wie früh dürfen sie das Geschlecht eines Menschen ändern?

Von Francine Russo

Gute Frage

Warum beginnt die Pubertät immer früher?

Der Neuroendrokrinologe Günter Stalla vom MPI in München diskutiert verschiedene Erklärungen.

Tatort Schule

Teenager erleben sexuelle Übergriffe am häufigsten durch Gleichaltrige! Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Umfrage unter Schülern, die sowohl die Erfahrungen der Opfer als auch die der Täter beleuchtet.

Von Jana Hauschild

Medizin

Das Island-Experiment

Wie man Jugendliche vor Drogen bewahrt, ist eine heikle Frage. Island geht einen ungewöhnlichen Weg.

Von Emma Young

Jung, verletzt – und lebensmüde?

Etwa einer von 25 Schülern fügt sich regelmäßig absichtlich Wunden zu. Wie sollten Lehrer darauf reagieren?

Von Joana Straub

Die Nagelprobe

Laut Psychologen könnte hinter exzessivem Nägelkauen auch ein Hang zu Perfektionismus stecken.

Von Anna Eichbichler

Das Hungern besiegen

Eine Magersucht entsteht häufig bereits in der Pubertät. Das Fatale daran: Sie verändert das Gehirn und sogar das Erbgut.

Von Anneke Meyer

Tyrann im Kopf

Schon Kinder können zwanghaftes Verhalten zeigen. Eine geeignete Therapie schafft Abhilfe.

Von Christoph und Gunilla Wewetzer

Bücher und mehr

Roger Ross Williams: Life, animated (Kinofilm) / Diana Marossek: Kommst du Bahnhof oder hast du Auto? / Rudolf Taschner: Vom 1x1 zum Glück

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EDITORIAL

»Eltern sind keine Monster«

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Katja Gaschler
Redakteurin
gaschler@spektrum.de

Kommt auf einem Ü40-dominierten Treffen das Gespräch auf den Nachwuchs, landet man früher oder später beim Thema Pubertät. Jene mit jüngeren Sprösslingen lauschen dann mit schreckgeweiteten Augen den Klagen der »Kinder-in-der-Pubertät«-Fraktion: Kiffen, Komasaufen, Killerspiele und Handysucht, außerdem »kein Bock« auf Schule, geschweige denn auf die Eltern – der Horror!

Fragt man primär Betroffene wie etwa unsere diesjährigen Bogy-Praktikanten Christian und Lucia (9. Klasse), die für eine Woche bei uns in der Redaktion waren, hört sich das anders an. Sie finden, die Pubertät sei doch »eigentlich eine schöne Zeit«. Durchaus ernst zu nehmend wirken die beiden, von Leistungsverweigerung keine Spur. Smartphones und soziale Netzwerke spielen in ihrem Umfeld zwar eine große, manchmal zu große Rolle, geben sie zu (siehe auch Artikel ab S. 24). Und klar würde sie manche Dinge nur mit ihrer Freundin besprechen, meint Lucia. Es nervt, wenn Eltern in den unpassendsten Momenten fragen: »Mit wem bist du eigentlich gerade befreundet?« Bei ernsten Schwierigkeiten aber – da sind sie sich einig – bleiben Mama oder Papa wichtige Ansprechpartner: »Eltern sind keine Monster, auch mit ihnen kann man gut reden.«

M it diesem grundlegenden Vertrauen ist viel gewonnen, wenn die Welt eines Teenagers aus den Fugen gerät. Sexuelle Belästigung durch Gleichaltrige etwa kennen erschreckend viele, wie eine aktuelle Studie belegt (S. 64). Auch Probleme wie Magersucht (S. 86), Zwänge (S. 92), Selbstverletzung und Suizidgefahr (S. 76) treten in dieser Lebensphase häufiger auf. Der Konsum von Alkohol und Zigaretten ist unter Jugendlichen in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren zwar zurückgegangen, dafür steigt der von Cannabis.

Das geht besser, wie Islands Statistiken beweisen. Der Inselstaat bekämpft die Alkohol- und Drogensucht äußerst erfolgreich, indem er die Nachmittage der Teenager mit Sinn stiftenden Aktivitäten füllt. Zugleich werden die isländischen Eltern eindringlich angehalten, mit dem pubertären Nachwuchs möglichst viel Zeit zu verbringen (S. 68).

Aber wollen sich die Jugendlichen überhaupt mit ihren »Alten« abgeben? Lucia und Christian kamen in der Diskussion zu dem Schluss, Eltern müssten das richtige Maß zwischen Interesse und Einmischen finden. Ihre Idee: »Wie wäre es, wenn die Familie einmal pro Woche zusammen Eis essen geht, ganz ungezwungen? Und jeder darf erzählen, wie es ihm gerade geht.« Könnte klappen.

Eine ganz ungezwungene Lektüre wünscht Ihnen

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GEISTESBLITZE

Stressmanagement

Zuversicht tut gut

Zu keiner anderen Zeit im Leben sind wir so sehr auf Popularität und Freundschaften fixiert wie in unserer Jugend. Im Zusammenspiel mit verschiedenen anderen Faktoren macht das Teenager aber auch besonders anfällig für Stress und psychische Erkrankungen. Helfen kann es, wenn sie sich bewusst klarmachen, dass ihr Charakter noch formbar ist, wie Forscher um David Yeager von der University of Texas in Austin berichten: Dann sind Jugendliche belastenden Situationen besser gewachsen.

Yeager und sein Team baten 60 Teenager zwischen 14 und 17 Jahren, eine kurze Rede darüber zu halten, was jemanden beliebt macht, und ein paar Kopfrechenaufgaben zu lösen. Einem Teil der Probanden erklärten sie zuvor: Eure Persönlichkeit – vor allem jene Merkmale, die für das soziale Miteinander wichtig sind – kann sich im Lauf des Lebens noch verändern. Jugendliche, die diese Lektion verinnerlicht hatten, gingen anschließend nicht nur gelassener an den Kurzvortrag und die Matheaufgaben heran, sie produzierten auch geringere Mengen des Stresshormons Cortisol, wie Untersuchungen von Speichelproben ergaben.

Anschließend ließen die Forscher 205 Neuntklässler ein Schuljahr lang Tagebuch über Stresssituationen führen. Einen Teil der Teilnehmer klärten sie ebenfalls über die Wandelbarkeit des menschlichen Charakters auf und baten sie regelmäßig um Speichelproben. Auch hier zeigte sich: Die zuvor gebrieften Teenager kamen besser mit sozialer Belastung zurecht und erzielten am Ende des Jahres sogar einen besseren Notendurchschnitt.

Auf diese Weise könnte man künftig vielleicht Stress und depressiven Verstimmungen von Schülern vorbeugen, hofft Yeager. Als Nächstes wollen die Forscher testen, ob solche psychologischen Interventionen auch als fester Bestandteil von Einführungstagen oder -wochen in weiterführenden Schulen taugen.

Psychol. Sci. 127, S. 1078–1091, 2016

Teenagerschwangerschaften

Babypuppe macht Lust aufs Kinderkriegen

Sie weinen, fordern das Fläschchen und wollen gewickelt werden: Babysimulatoren sollen Mädchen eigentlich davon abhalten, bereits in jungen Jahren leichtfertig schwanger zu werden. Doch die Abschreckungsmaßnahme kann nach hinten losgehen, berichtet ein Team um Sally Brinkman von der University of Western Australia und der University of Adelaide.

Die Wissenschaftler testeten die Wirkung der Babypuppen an insgesamt 57 australischen Schulen. Dazu teilten sie knapp 3000 Schülerinnen zwei Gruppen zu: Die einen besuchten lediglich den üblichen Sexualkundeunterricht, die anderen sollten sich zusätzlich zu den Aufklärungsstunden ein Wochenende lang um eine Babypuppe kümmern. Zu diesem Zeitpunkt waren die Schülerinnen zwischen 13 und 15 Jahre alt; anschließend verfolgten die Forscher die familiäre Situation der Mädchen bis zu deren 20. Lebensjahr.

Das unerwartete Ergebnis: Acht Prozent der Probemamas bekamen noch vor ihrem 20. Geburtstag Nachwuchs – doppelt so viele wie in der Gruppe ohne Babypuppe. Weitere neun Prozent wurden ungewollt schwanger und trieben das ungeborene Kind ab, in der Kontrollgruppe dagegen nur sechs Prozent. Der Effekt trat unabhängig von ihrem Bildungsniveau oder dem finanziellen Status der Eltern auf.

Brinkman und ihre Kollegen schließen daraus, dass Babysimulatoren nicht zur Vorbeugung von ungewollten Teenagerschwangerschaften taugen. Das »Baby auf Probe« könne sogar – womöglich auf Grund von positivem Feedback der Familie und Freunde – dazu beitragen, dass die Mädchen das Elternsein idealisieren. Die Autoren empfehlen außerdem, auch die potenziellen Väter einzubeziehen und mit der Aufklärung bereits in der Kindheit zu starten.

Lancet 388, S. 2264–2271, 2016

Hirnentwicklung

In der Jugend verdichtet sich der Kortex

Im Lauf der Jugend wird die Hirnrinde dünner, und das Volumen des Nervengewebes nimmt ab. Gleichzeitig verbessern sich allerdings die kognitiven Fähigkeiten der jungen Leute dramatisch. Wie diese beiden Beobachtungen zusammenpassen, gab Forschern lange Rätsel auf. Nun hat ein Team von der University of Pennsylvania in Philadelphia eine mögliche Erklärung gefunden. Der Neurowissenschaftler Efstathios Gennatas und seine Kollegen konnten mit Hilfe von Hirnscans bei mehr als 1000 Teilnehmern im Alter zwischen 8 und 23 Jahren belegen, dass das Hirnvolumen zwar tatsächlich abnimmt. Die graue Substanz der Großhirnrinde wird dafür jedoch dichter – ihre äußeren Schichten enthalten neuronale Netzwerke, die unter anderem für höhere geistige Funktionen verantwortlich sind.

J. Neurosci. 37, S. 5065–5073, 2017

SCHULE UND STUDIUM

Zu früh zum Lernen

BIORHYTHMUS In Deutschland beginnt die Schule traditionell um 8 Uhr, was für viele Jugendliche problematisch ist: Ihre innere Uhr ist noch auf Schlafen eingestellt, sagen Chronobiologen.

VON STEFANIE REINBERGER

Auf einen Blick: Von Eulen und Lerchen

1 Jeder Mensch verfügt über einen individuellen Schlaf-wach-Rhythmus. So genannte Eulen gehen tendenziell spät ins Bett und werden morgens spät wach, Lerchen hingegen schlafen früher ein und stehen morgens zeitig auf.

2 Laut Forschern verschiebt sich der Chronotyp in der Pubertät nach hinten – und zwar sowohl bei Eulen als auch bei Lerchen.

3 Ein früher Schulbeginn ist daher gerade für Jugendliche schädlich: Er sorgt für schlechtere Noten und könnte auch zu gesundheitlichen Problemen beitragen, insbesondere bei jenen Schülern, die ohnehin zu den Spätaufstehern gehören.

Erinnern Sie sich noch an Ihre Schulzeit? Genau: Das war die Phase Ihres Lebens, in der der Wecker grundsätzlich mitten in der Nacht klingelte. Beim Frühstück bekamen Sie vor Müdigkeit keinen Bissen herunter. Anschließend dämmerten Sie im Schulbus dem Unterrichtsbeginn entgegen. Die ersten Stunden waren eine Qual, und an das korrekte Lösen von quadratischen Gleichungen war vor der großen Pause nicht zu denken.

Wenn es Ihnen damals so ging, befinden Sie sich in bester Gesellschaft. Laut einer Studie aus dem Jahr 2012 schlafen zwei von drei Jugendlichen zu wenig. Wissenschaftler der Universität Marburg und des Dillenburger Instituts für Gesundheitsförderung & -forschung hatten 8800 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 16 und 25 Jahren zu ihren Schlafgewohnheiten befragt. Das Ergebnis: Im Durchschnitt schliefen die Studienteilnehmer während der Woche nur etwas mehr als sechseinhalb Stunden pro Nacht, jeder fünfte sogar weniger als sechs Stunden. Zum Vergleich: Laut Expertenempfehlung sollten sich Teenager zwischen 14 und 17 Jahren mindestens acht bis zehn Stunden Nachtruhe gönnen, junge Erwachsene immerhin noch sieben bis neun Stunden. Kein Wunder also, dass zwei Drittel der Befragten angaben, sich tagsüber weder fit noch leistungsfähig zu fühlen.

Sollen sie doch früher ins Bett gehen, sagen viele Erwachsene. Dann können sie morgens auch frisch und munter zur Schule kommen. »Disko-Hypothese« nennt Till Roenneberg von der Ludwig-Maximilians-Universität in München diese Argumentation – denn dahinter stehe die Annahme, dass Jugendliche absichtlich die Nacht zum Tag machen. Als Chronobiologe beschäftigt sich Roenneberg mit biologischen Rhythmen wie dem Schlaf-wach-Zyklus. Für ihn ist die Forderung, Schüler müssten ihr Schlafverhalten ändern, nicht haltbar. Denn die Forschung zeigt: Teenager können gar nicht eher schlafen, sie sind dann einfach noch nicht müde. Vielmehr beginne der Unterricht viel zu früh. »Für Schüler, die um acht oder früher in der Schule sein müssen, startet der Unterricht biologisch gesehen mitten in der Nacht«, sagt der Münchner Wissenschaftler. Und das hat gravierende Folgen für Lernerfolg und Gesundheit.

Menschen ticken nicht alle gleich. Es gibt ausgeprägte Frühaufsteher, so genannte Lerchen, die abends entsprechend zeitig ins Bett gehen. »Eulen« dagegen sind spät in der Nacht noch leistungsfähig, müssen aber dafür morgens länger schlafen. Zwischen diesen beiden Extremen existieren alle möglichen Chronotypen. Zu welcher Sorte man gehört, bestimmen unter anderem die Gene: Mittlerweile sind mehr als 20 Erbgutfaktoren bekannt, die auf die innere Uhr einwirken. Und wahrscheinlich sind das noch längst nicht alle.

Ein weltweites Phänomen

Doch auch das Alter hat einen Einfluss auf unseren inneren Rhythmus. Kleine Kinder werden in der Regel früh wach, ebenso wie ältere Menschen. In der Pubertät allerdings, das haben Chronobiologen längst herausgefunden, verschiebt sich der Schlaf-wach-Rhythmus deutlich nach hinten (siehe »Schlafphasen im Lebensverlauf«). Das gilt völlig unabhängig davon, ob der betreffende Teenager grundsätzlich eher zu den Eulen oder zu den Lerchen zählt. Warum das so ist, kann niemand mit Sicherheit sagen. »Evolutionär gesehen wird es einen Grund haben, dass sich in diesem Alter die Hauptaktivität auf eine spätere Tageszeit verschiebt«, sagt Thomas Kantermann, Chronobiologe an der Universität Groningen in den Niederlanden. »Welchen, darüber können wir nur spekulieren.« Klar ist: Dass Jugendliche abends nicht müde werden und morgens nicht aus den Federn kommen, ist keine Modeerscheinung moderner Großstädter. »Wir beobachten dieses Phänomen auf der ganzen Welt und in allen Kulturen«, so Kantermann. Selbst von pubertierenden Rhesusaffen weiß man, dass sich der innere Rhythmus in diese Richtung verschiebt.

Mittlerweile belegt eine ganze Reihe von Studien, dass der natürliche Schlaf-wach-Rhythmus von Jugendlichen mit dem traditionell frühen Schulbeginn in Deutschland kollidiert – und dass dies unweigerlich zu schlechteren Leistungen führt. Besonders betroffen sind Teenager, die ohnehin eher zur Gruppe der Eulen gehören. »Im Extremfall müssen diese Schüler aufstehen, wenn sie biologisch gesehen gerade ihren Schlafmittelpunkt erreicht haben«, sagt Kantermann. Wenn die innere Uhr Schlafenszeiten zwischen 2 und 10 Uhr vorgibt, liegt der Schulbeginn noch in der chronobiologischen Nacht. Das beeinträchtigt nicht nur die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit während des Unterrichts, das tagsüber Gelernte wird auch schlechter im Gedächtnis abgespeichert. Denn diese Arbeit erledigt das Gehirn vor allem im Schlaf.

Und was ist mit den Lerchen unter den Teenagern? Würden sie nicht darunter leiden, wenn die Schule später beginnen würde, weil ihre Konzentration nachmittags vielleicht schwindet? Kantermann und seine Kollegen wollten das genauer wissen. Sie untersuchten, wie sich unterschiedliche Prüfungszeiten auf die Leistungen von Jugendlichen auswirken. Dazu ließen sie 741 niederländische Schülerinnen und Schüler zunächst den Münchner Chronotyp-Fragebogen ausfüllen, den Roenneberg mit seinem Team entwickelt hat. So erfuhren die Wissenschaftler, welche Probanden eher zu den Eulen und welche zu den Lerchen gehörten. Gleichzeitig sammelten sie Informationen über das Schlafbedürfnis der Schüler und darüber, wie viel Schlaf diese tatsächlich bekamen.

Dann analysierten die Forscher eine Datenbank mit insgesamt 4734 Zensuren, die ihre Probanden zu unterschiedlichen Tageszeiten erzielt hatten. Das Ergebnis war eindeutig: Ausgeprägte Eulen und Schüler, die weniger als sieben Stunden pro Nacht schliefen, hatten im Durchschnitt schlechtere Noten. Das lag insbesondere an Klausuren, die in den frühen Morgenstunden geschrieben wurden. Schüler mit frühen Chronotypen dagegen hatten einen klaren Vorteil gegenüber ihren unausgeschlafenen Mitschülern: Bei Prüfungen, die zwischen 8.15 und 9.45 Uhr stattfanden, aber auch noch in der Zeit von 10 bis 12.15 Uhr schnitten die Lerchen besser ab als die Eulen. Erst am frühen Nachmittag, bei Prüfungszeiten zwischen 12.45 und 15 Uhr, glichen sich die Leistungen der beiden Chronotypen an. »Für gerechte Ausgangsbedingungen müsste man Klausuren also grundsätzlich auf den frühen Nachmittag verlegen«, fordert Kantermann.

Die Problematik geht jedoch weit über Lernerfolge und gute Noten hinaus. Wer jahrelang entgegen seinem natürlichen Schlaf-wach-Rhythmus leben muss, leidet zwangsläufig unter chronischem Schlafmangel. Roenneberg prägte in diesem Zusammenhang den Begriff »sozialer Jetlag«: Zwischen dem gesellschaftlich vorgegebenen Rhythmus und dem, was die innere Uhr vorgibt, klafft eine Lücke. Das ist vergleichbar mit dem Effekt, den Flüge über Zeitzonen hinweg verursachen. Allerdings begleitet der soziale Jetlag die Betroffenen über Jahre hinweg – oft sogar das ganze Leben lang. Und das ist höchst ungesund: Neben der schulischen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt Schlafentzug auch das Immunsystem, er trägt zu Übergewicht und Depressionen bei. Außerdem erhöht das Leben gegen die innere Uhr das Risiko für Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch aus gesundheitlichen Gründen fordern deshalb Chronobiologen und Schlafforscher, dass die Schule später beginnen soll.

Während bisherige Erkenntnisse vorwiegend aus dem Labor oder aus Feldstudien stammten, wagen erste Pilotschulen bereits einen Schritt nach vorn. So beginnt der Schultag im Hamburger Gymnasium Marienthal seit dem Schuljahr 2014 /2015 statt um 8 Uhr erst um 8.30 Uhr. Es sei in erste Linie darum gegangen, etwas Stress aus dem Unterrichtsalltag rauszunehmen, so die damalige Schulleiterin Christiane von Schachtmeyer. Wie gut der spätere Termin zum biologischen Rhythmus passe, sehe man sofort, sagte sie gegenüber »Zeit online«. Dafür reiche ein kurzer Blick in die Gesichter am Morgen.

8.30 Uhr ist ein Anfang

»Alles ist besser als 8 Uhr. 8.30 Uhr ist ein Anfang, 10 Uhr wäre noch viel besser«, sagt der Chronobiologe und Schlafforscher Russell Foster von der University of Oxford. 100 Schulen in Großbritannien nehmen an einer großen Studie der Universität teil und haben 2014 den Schulbeginn auf 10 Uhr verlegt. Das Experiment ist auf einen Zeitraum von vier Jahren angesetzt. Dann erhoffen sich die Wissenschaftler neue Erkenntnisse darüber, ob und welche Verbesserungen ein späterer Schulbeginn mit sich bringt.

Schulzeiten zu ändern, ist in unserer straff durchgeplanten Gesellschaft aber nicht leicht. Was mitten in Hamburg noch funktioniert, mag in kleineren Städten bereits scheitern – aus logistischen Gründen. Diese Erfahrung macht Thomas Kantermann seit 2012 in Bad Kissingen. Gemeinsam mit Projekt-Initiator Michael

Wieden strebt Kantermann im bayerischen Kurort Veränderungen an, um den Alltag besser mit der inneren Uhr der Bevölkerung in Einklang zu bringen. »Chronocity« nennt sich dieses ehrgeizige Vorhaben. Der Unterrichtsbeginn gehört dabei zu den zentralen Themen.

»Wir haben schnell festgestellt, dass es gar nicht so einfach ist, die Schulzeiten zu ändern«, sagt Kantermann. So muss man zum Beispiel den Busfahrplan anpassen, was allerdings den öffentlichen Nahverkehr in einem weiten Umkreis beeinflusst. »Das bedeutet im Klartext, dass wir neue Buslinien brauchen«, so Kantermann. »Andererseits: Was sind 100 000 Euro an jährlichen Zusatzkosten gegen bessere Gesundheit und Bildungschancen für unsere Schüler?«

Und was, wenn die Schulzeiten angepasst werden, die jungen Menschen dann aber später in der Ausbildung oder an der Universität plötzlich wieder früher aus den Federn müssen? »Die gesellschaftlichen Veränderungen dürfen bei der Schule nicht aufhören«, sagt der Groninger Chronobiologe. »Doch die Pubertät ist eine besonders kritische Phase.« Ab dem 20. Lebensjahr verschiebt sich bei Frauen der Rhythmus langsam wieder nach vorne, ab dem 21. auch bei Männern – ein Trend, der sich über das weitere Leben fortsetzt.

Außerdem gebe es nach der Schulzeit mehr Wahlfreiheit, so Kantermann. Wer in der Jugend ein extremer Nachtmensch ist, wird kaum von sich aus Bäcker werden und deshalb zeitlebens mit dem frühen Arbeitsbeginn zu kämpfen haben. »Unter den Lehrern ist übrigens der Lerchentyp besonders stark vertreten«, sagt der Forscher. Kein Wunder also, dass im Schulbetrieb oft wenig Verständnis für Schüler herrscht, die morgens müde in ihren Bänken hängen. ★

Schlafphasen im Lebensverlauf

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Der Chronotyp lässt sich definieren durch die Uhrzeit, zu der man den Mittelpunkt seines Schlafs erreicht. Da Schule oder Arbeit den Menschen oft einen anderen Rhythmus aufzwingen, als die innere Uhr vorgibt, werden dafür nur die Schlafzeiten an freien Tagen herangezogen. Umfangreiche Studien zeigen, dass Jugendliche eher später in der Nacht schlafen; mit zunehmendem Alter verschiebt sich die Schlafmitte dann wieder nach vorne. Bei Männern liegt sie im Durchschnitt etwas später als bei Frauen.

Roenneberg, T. et al.: Epidemiology of the Human Circadian Clock. In: Sleep Med. Rev. 11, S. 429–438, 2007

UNSERE AUTORIN

Stefanie Reinberger ist promovierte Biologin und arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Köln. Als Schülerin bekam sie vor der ersten Pause keinen Bissen herunter. Heute kann sie den Tag dank ihrer Berufswahl meist etwas ruhiger angehen lassen.

QUELLEN

Betz, M. et al.: Schlafgewohnheiten und Gesundheit bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen – Auswirkungen von Schlafdefizit auf Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 137, A 28, 2012

Hirshkowitz, M. et al.: National Sleep Foundation’s Sleep Time Duration Recommendations: Methodology and Results Summary. In: Sleep Health 1, S. 40–43, 2015

Van der Vinne, V. et al.: Timing of Examinations Affects School Performance Differently in Early and Late Chronotypes. In: Journal of Biological Rhythms 30, S. 53–60, 2015

Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1357728

SCHULE UND STUDIUM

Produzieren wir »kluge Dummköpfe«?

STANDPUNKT Der Intelligenzforscher Robert Sternberg kritisiert, an Schulen würde man bisher vor allem analytische Begabungen unterstützen. Zum Wohl der Gesellschaft gelte es aber, die Kreativität und die ethische Urteilsfähigkeit der Schüler besser auszubilden.

Seit Jahrzehnten forscht der renommierte US-amerikanische Psychologe Robert Sternberg über intellektuelle Begabung. Wie kann man sie unterstützen und wie messen? In seinem »triarchischen Modell der Intelligenz« rückte er bereits in den 1980er Jahren Kreativität sowie praktische Klugheit an die Seite der analytisch-logischen Fähigkeiten. Seit rund zehn Jahren forscht Sternberg an der Cornell University in Ithaca zudem über ethisches Handeln sowie »Weisheit« – und wie man beides in den Schulen und Universitäten vermitteln und bewerten könnte. Denn ein nur auf analytische Intelligenz fokussiertes Bildungssystem würde der Gesellschaft schaden, erklärte Sternberg anlässlich seiner Auszeichnung mit dem William James Fellow Award durch die amerikanische Psychologenorganisation APS (Association for Psychological Science, Jahrestreffen 2017).

Herr Professor Sternberg, kürzlich sagten Sie, IQ-oder Studierfähigkeitstests wie der SAT und der ACT würden im Wesentlichen »kluge Dummköpfe« selektieren – gemeint sind Menschen, die zwar intelligent sind, jedoch nicht zur Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme beitragen. Wie kommen Sie darauf?

Tests wie der SAT, der ACT, der GRE (siehe »Kurz erklärt«) eignen sich gut, um theoretisches Wissen sowie die allgemeine Intelligenz und verwandte Fähigkeiten zu messen. Ihre Ergebnisse korrelieren stark mit jenen von IQ-Tests und können etliches im Leben recht gut vorhersagen: die akademische Leistung bis zu einem gewissen Grad, das Gehalt, in geringerem Ausmaß auch die berufliche Stellung, die man einmal erreichen wird. Aber die Tests sind sehr begrenzt, und ich behaupte, dass sie uns eventuell sogar schaden. Die Überbetonung rein akademischer Fähigkeiten, solche, mit denen man gute Noten in der Schule bekommt, kann sich aus vielerlei Gründen nachteilig auswirken. Am Ende hat man Menschen, die zwar gut mit Prüfungen und Computern zurechtkommen – sicherlich wichtige Eigenschaften. Das genügt jedoch nicht, um unsere Welt zu einer besseren zu machen.

Warum reicht ein hoher IQ nicht aus?